Es flechten Perückenmacherin, Norne und Autorin

„Der Zopf“ von Laetitia Colombani

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Debütroman, der kurz nach seinem Erscheinen in 28 Sprachen übersetzt wurde, dessen Filmrechte bereits vergeben sind und den die meisten KritikerInnen hymnisch feiern – all das macht neugierig. 2017 erschien Der Zopf in der französischen Originalausgabe, seine Autorin, die 42-jährige Laetitia Colombani, eigentlich Schauspielerin und Regisseurin, ist inzwischen mehrfach preisgekrönt. Der Roman sei – so der Figaro Littéraire – der Beweis dafür, dass es „in der Welt der Bücher“ noch „Wunder“ gebe.

Colombani erzählt die Geschichte von drei Frauen, die auf unterschiedlichen Kontinenten leben und sich nicht kennen: Smita ist als Dalit eine Unberührbare und damit keiner Kaste zugehörig. Jeden Tag muss sie in den Häusern der Reichen die Latrinen leeren. Lediglich der Gedanke an ihre kleine Tochter Lalita erfüllt sie mit Freude, hat diese doch die Chance erhalten, eine Schule zu besuchen. Nach dem ersten Tag dort kehrt Lalita mit zerrissenem Sari nach Hause zurück: Sie wurde geschlagen, weil sie sich dem demütigenden Befehl, während des Unterrichts als Einzige den Klassenraum zu fegen, widersetzt hat. Als Smita erkennt, dass das Stigma des Unberührbaren in ihrem Mesosystem generationsübergreifenden Bestand hat, entschließt sie sich, aus ihrem Dasein zu fliehen und mit ihrer Tochter in der „Sleeper class“ quer durch Indien zu Verwandten nach Chennai zu fahren. Fernab von ihrem Karma möchte sie dort ein neues Leben beginnen. Unterwegs ändert sie jedoch ihre Pläne und opfert ihre und Lalitas Haare im Tempel von Tirupati.

Giulia, eine junge Sizilianerin, arbeitet in dem traditionsreichen Familienunternehmen ihrer Eltern. Perücken werden dort noch in Handarbeit hergestellt. Völlig unvermittelt sieht sich Giulia gemeinsam mit Mutter und Schwester in einer Leitungsposition, denn ihr Vater verunglückt schwer auf seiner täglichen Runde zu Lieferanten. Als sie entdeckt, dass die Perückenfabrik kurz vor dem finanziellen Ruin steht, ist sie gerade frisch verliebt. Der junge Mann, ein Student aus Indien, hat die zündende Idee für den Fortbestand des Unternehmens. Er kennt Geschäftsleute in Indien, die mit den Haaren aus dem Tempel von Tirupati handeln.

Sarah, als erfolgreiche Juristin Teilhaberin einer Anwaltskanzlei in Montreal, führt jeden Tag einen erbarmungslosen Kampf gegen die Zeit, um sowohl den hohen beruflichen Anforderungen als auch ihren drei Kindern gerecht zu werden. Während einer Gerichtsverhandlung wird sie völlig unvermittelt ohnmächtig, wenig später erhält sie ihre Krebs-Diagnose. Für die Operation nimmt sie sich zwei Wochen Urlaub. Danach funktioniert sie weiter und verbirgt ihr Leiden so lange vor ihren KollegInnen, bis sie eine von ihnen im Wartezimmer der onkologischen Station trifft. Sarah hofft, in Inès, die ihre Mutter zum Arzt begleitet hat, eine Komplizin gefunden zu haben. Weit gefehlt, denn am nächsten Tag sind alle MitarbeiterInnen der Kanzlei informiert. Immer mehr Aufgaben werden Sarah entzogen. Sie wird depressiv, möchte ihr Bett am liebsten nicht mehr verlassen, bis sie den Entschluss fasst, zu kündigen und sich vorerst gänzlich Genesung und Kindern zu widmen.

Zufall und Notwendigkeit – in alter realistischer Manier fügen sich die Fakten der Fiktion zu einer gut lesbaren und spannenden, sehr publikumswirksamen Einheit. In der vertikalen Darstellung dreier gleichberechtigter Frauenschicksale hält Colombani die Sequenz „Smita – Giulia – Sarah“ konsequent ein, lässt die einzelnen Episoden mal mit mehr, mal mit weniger „Cliffhanger“ enden. Formal wählt sie dafür eine heterodiegetische Erzählinstanz, die immer eine der Frauen fokussiert. Trotz der Separation greifen die einzelnen Teile wie Zahnräder ineinander und erwecken sehr schnell den Anschein einer geheimnisvollen Verbindung.

An signifikanten Punkten, als Prolog und als Epilog sowie zweimal im Verlauf des Romans, fügt Colombani Prosagedichte in ihren Roman ein, verzögert also den Beginn des Erzählens, unterbricht später seinen Fluss und setzt einen deutlichen Finalakkord mit einem dreidimensionalen lyrischen Innehalten: In erster Linie beobachtet die Perückenmacherin das „Ballett“ ihrer Hände. Sie packt die Haarsträhnen, um nicht nur sie, sondern ebenso die Geschicke dreier Frauen zu verknüpfen. Sie sitzt an ihrem Webstuhl wie eine Norne, die gleichzeitig auf die Kreativität der Schriftstellerin hinweist. Das allmähliche Verquicken der Strähnen/Stränge erfolgt in einem dramagleichen Crescendo, bis alle Beteiligten in einen offenen Schluss entlassen werden. Aus dem quasi gattungsübergreifenden Verflechten resultiert die Metapher des Zopfes, Bild für das Zusammenfließen der Frauenschicksale. Löst man den Begriff aus seiner metaphorischen Erdung und weitet seine Eigenschaften aus, dann avanciert er, zwar verhalten nur, mit seiner Trägerin Lalita zum Symbol der Hoffnung.

Aus der Verflechtung der Geschicke wie auch immer geartete emanzipatorische Impulse ableiten zu wollen – eine solche Idee würde in die Irre führen. Colombani charakterisiert brillant drei Individualistinnen, die in ihrem Mikrokosmos gegen Widerstände kämpfen, die nur bedingt mit ihrem biologischen oder sozialen Geschlecht zu tun haben. Zwar leben Smita und ihre Tochter in einer Gesellschaft, in der Frauen jedwede Würde abhandenkommen kann, doch die existenzielle Bedrohung für Leib und Leben erstreckt sich auch auf die männlichen Dalit. Smitas Ehemann ist professioneller Rattenfänger, tötet diese mit bloßen Fingern und bringt sie der Familie als Grillgut mit. Tragisch ist, dass Lalitas Flucht letztendlich nur in ein fragwürdiges Opferritual mündet, sie an einer „uralten, tausendjährigen Tradition“ teilnimmt, mit der man „jeder Form von Individualität“ entsage und „entblößt und in aller Demut vor Gott“ trete. So steht am Ende die Entindividualisierung der mutigen Individualistin und lediglich der Hoffnungsschimmer, dass sich Gott für „ihre Opfergabe erkenntlich zeigen“ möge.

Transzendental motivierte Gewissheit keimt auch in Giulia, die das Zusammentreffen mit dem Studenten Kamal und den letzten Händedruck ihres Vaters vor seinem Tod als Zeichen dafür deutet, dass sie auf dem richtigen Weg ist. Durch das Leben der Workaholic Sarah wabert hingegen die Sucht nach symbolischem und materiellem Kapital. Nur die Krankheit zwingt sie in die Knie. Bei aller Konjunktion der Schicksale besteht die Hauptleistung des Romans darin, das Leiden der jeweils singulären Frau intensiv zu schildern, ihre jeweilige Situation, aus der – wie der Phönix aus der Asche – Widerstand hervorbricht, plastisch zu verdeutlichen. Colombani verpackt die biografischen Slides in einen Schreibstil, der ohne Schnörkel in kurzen Sätzen daherkommt, der anrührt und punktgenau das, worauf es ankommt, in den Blick nimmt – so etwa Sarah nach dem „Verrat“ durch Inès (die durchaus Jean-Paul Sartres Inès aus Huis clos, der „geschlossenen Gesellschaft“ aufruft): „Inès, an die Sarah immer geglaubt hat, Inès, die sie selbst ausgesucht und eingestellt hat, Inès, die ihr jeden Morgen freundlich zulächelt, Inès, mit der sie beruflich alles teilt […]“. Dieses Höchstmaß an Intensität vermittelt sich auch im deutschen Text, nicht zuletzt deshalb, weil es mit dem sprachübergreifenden Stilmittel der Anapher einhergeht.

Und dennoch: Die Schilderungen der Protagonistinnen und ihres jeweiligen Umfeldes wirken oftmals plakativ. Da ist kein Raum für Zwischentöne, kaum Zeit für reflexives Innehalten, eher laufen die Ereignisse mechanisch ab. Positiv hervorzuheben ist wiederum, dass Colombani nicht für ein monumentales Epos optiert hat, sondern nur einen knappen Einblick, einige wenige Wochen erzählte Zeit, in das Schicksal der Frauen bietet. Die Dauer des Flechtens eines Zopfes ergibt „une tranche de vie“. Man ist darüber hinaus versucht, Colombani mit Marie N’Dyaie zu vergleichen, deren Roman Drei starke Frauen im Jahr 2009 den Prix Goncourt erhielt. Die Komplexität sowie die Satz- und Wortgewalt Marie N’Dyaies indessen bleiben, wenig erstaunlich, für Colombani unerreichbar. Aber die Idee, drei Frauenschicksale zu vergleichen, bei N’Dyaie nicht vertikal, sondern im horizontalen Fortschreiten umgesetzt, lässt sich nicht nicht als Einflussquelle deuten.

Und „zu schlechter Letzt“ siegt der okzidentale Kapitalismus, denn Smitas Opfer und Giulias Anstrengungen konkretisieren sich in der Perücke, die Sarah teuer ersteht. Nur eine wohlhabende Person wie sie ist in der Lage, Kunsthaarperücken abzulehnen und ein Exemplar mit aufwändig präpariertem Echthaar zu kaufen. Wird dies in irgendeiner Form problematisiert? Bleibt Der Zopf affirmativ oder handelt es sich um einen engagierten Roman im Sinne Theodor W. Adornos? Das würde bedeuten, Missstände aufzudecken, diese aber nicht zu kommentieren, sondern sie durch das Zeigen allein umso prägnanter anzuprangern. Leider sind keine Indizien im Text aufzufinden, die diese These untermauern könnten. Und schade, dass Publicity-Paratexte in exakt die entgegengesetzte Richtung weisen, wenn etwa der Fischer Verlag bei Amazon mit dem Slogan „Alles, was das Frauenherz begehrt“ unter anderen für Colombanis Werk wirbt.

Insgesamt ist vor dem Hintergrund einer nicht nur verhaltenen Skepsis „a good read“ zu würdigen, mit anderen Worten: Ein gut lesbares Debüt, das mit einer gewissen Distanz goutiert werden sollte, zumindest ohne unreflektiertes Einstimmen in den hymnischen Chor.

Titelbild

Laetitia Colombani: Der Zopf. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Marquardt.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
285 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973518

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