Cool, kritisch, desillusioniert
Zum Tod von Joan Didion
Von Martina Kopf
„We tell ourselves stories in order to live.“ Einer der berühmtesten Sätze Joan Didions bringt ihren Stil auf den Punkt – meistens sind ihre Texte thetisch, analytisch-kritisch, konzentriert, poetisch und voller Desillusion. Desillusioniert war sie bereits zu Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere und gewissermaßen wurde die Desillusion, die sie unter anderem vor den gesellschaftlich-politischen Ereignissen und Drogenerfahrungen der 1960er Jahre entwickelte, zu ihrem Markenzeichen. Dies bedeutet allerdings keineswegs ein Abrutschen in Larmoyanz oder Resignation, vielmehr ist es die Voraussetzung für eine scharfsinnige Gesellschaftskritik, die weniger auf Ereignisse fokussiert, sondern auf den Subtext achtet, Atmosphären einfängt und subjektive Wahrnehmungen schildert.
Die 1934 in Sacramento geborene Schriftstellerin, Journalistin, Drehbuchautorin und vor allem Essayistin begann – nachdem sie einen Schreibwettbewerb gewonnen hatte – ihre Karriere in New York. Sie schrieb für das Magazin Mademoiselle, für die Vogue und später unter anderem für The New York Review of Books und The New Yorker. Mit ihrem Mann, dem Schriftsteller John Gregory Dunne, verfasste sie Drehbücher wie The Panic in Needle Park (1971) (dt. Panik im Needle Park), ein Film, der sich mit der Heroinabhängigkeit in New York auseinandersetzte, oder 1976 das Drehbuch zu A Star is Born. Barbra Streisand spielte in der Erstverfilmung eine zunächst erfolglose Sängerin, auf die jedoch eine steile Karriere wartete. 2018 kam es zu einer Neuverfilmung von Bradley Cooper mit Lady Gaga in der Hauptrolle. Ihren ersten Roman Run River (dt. Menschen am Fluss), der eine Ehe in Kalifornien porträtiert, publizierte sie 1963. 1970 folgte Play It As It Lays (dt. Spiel dein Spiel) – ein zunächst multiperspektiv angelegter Roman, dessen Protagonistin von gescheiterten Beziehungen, Schicksalsschlägen, dem kalifornischen Showgeschäft und Drogenkonsum desillusioniert, sich mit endlosen Fahrten auf der Autobahn betäubt.
Zwar schrieb Didion noch drei weitere Romane, doch die Pionierin des New Journalism wurde vor allem durch ihre Pop-Essays berühmt, die sich durch eine dezidiert subjektive Perspektive auszeichnen, ohne allerdings jemals sentimental zu werden. In Why I write betont Didion die Bedeutung des Ichs für ihr Schreiben, auch als eine Form der Selbstfindung: „In many ways writing is the act of saying I, of imposing oneself upon other people, of saying listen to me, see it my way, change your mind. […] I write entirely to find out what I’m thinking, what I’m looking at, what I see and what it means.“ Vielleicht ist es gerade dieser in ihren Essays thematisierte Prozess des Suchens und Findens, der ihren Text eine besondere Anziehungskraft verleiht.
Ihre Essays aus den 1960er und 70er Jahren fangen den US-amerikanischen Alltag im Ausnahmezustand ein, dokumentieren Zeitgeist und Lifestyle und sind dennoch ebenso poetisch zeitlos wie auch die zur Ikone avancierte Didion selbst, die noch mit 80 Jahren für das avantgardistische Modelabel Céline Modell stand. Hinter den zu ihrem Markenzeichen gewordenen schwarzen Gläsern ihrer großen Sonnenbrillen scheint sie in den 1960er und 70er Jahren trotz des gleißenden Lichts der kalifornischen Sonne eine kühle Beobachtungsgabe zu behalten, die ihr scharfsinnige und kritische Gesellschaftsanalysen ermöglicht, wobei sie sich sowohl als beobachtende als auch teilnehmende Protagonistin einbringt. Ralph Graves, der Herausgeber des Magazins Life zur Zeit als Didion ihre Kolumne schrieb, vergleicht sie mit einer der Schlüsselfiguren des New Journalism, Norman Mailer: “’[In person] Joan gives everyone the impression of being very private, […] Then she’ll turn around and write this inside-of-stomach stuff that you’d think you’d need to know her five years to find out. This mousy, thin, quiet woman tells you as much about herself as Mailer.’“
Desillusioniert über die 1968er Bewegung zeigt sich Didion bereits im Frühjahr 1967, also noch vor dem legendären ‚Summer of Love‘. In ihrem Essay Slouching Towards Bethlehem (1967) (dt. Stunde der Bestie) berichtet die Autorin über die Hippie-Szene in San Franciscos Stadtteil Haight-Ashbury, dem globalen Schaufenster der Gegenkultur. Mit einer „blutenden Wunde“, die einen sozialen Ausnahmezustand in den USA zum Ausdruck bringt, vergleicht Didion San Franciscos Stadtteil und bezieht sich dabei immer wieder – wie bereits im Titel – auf William Butler Yeats Gedicht The Second Coming (1919), das ebenso ein auseinanderfallendes Zentrum thematisiert. Didion beschreibt eine Gesellschaft, deren Zusammenhalt auseinandergebrochen ist. Sie dokumentiert vor allem die Drogenerfahrungen der jungen Hippies, von LSD über Peyote zu STP, die Suche nach Spiritualität in diversen religiösen Gruppen oder nach politischen Alternativen und ihre Vorliebe für makrobiotische Ernährung. Als charakteristisch für das Aussteiger-Leben in Haight-Ashbury erweist sich allerdings auch eine soziale Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit und Naivität, die sich zum Beispiel im Konsum von LSD und Peyote durch 5-Jährige äußert.
Die in Slouching towards Bethlehem bereits angedeutete Paranoia, gesellschaftliche Ernüchterung und Desillusion erreichen in dem Essay The White Album, an dem sie zehn Jahre, zwischen 1968 und 1978, arbeitete, einen Höhepunkt. Didion berichtet hier von verschiedenen Ereignissen in den USA Ende der 60er Jahre, die sie als Journalistin begleitete: den Mord an Hollywood-Star Ramón Novarro durch die Brüder Ferguson, den Manson-Prozess, die Aufnahme des dritten Albums der Doors, Waiting For The Sun, oder den Prozess um den Gründer der Black Panther Party, Huey Newton. Deutlicher als in Slouching towards Bethlehem deutet Didion eine Zäsur an, nämlich den Zweifel an all jenen Geschichten, an die sie geglaubt hatte.
Dieses Talent, gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen vorauszusehen und sie scharfsinnig zu analysieren, macht sich auch in den Notizen bemerkbar, die sie in den 1970er Jahren während einer Reise durch den US-amerikanischen Süden – namentlich Louisiana, Mississippi und Alabama – machte und die sie 2017 in dem Band South and West: From a Notebook (dt. Süden und Westen, 2018) veröffentlichte. Den von klischeehaften Geschlechterrollen und Rassismus geprägten, von Naturkatastrophen überwältigten, rückständigen Süden beschreibt sie als Zukunft und psychisches Zentrum der USA – eine Beobachtung und Prognose, die an Aktualität nicht eingebüßt hat wie vor allem die Trump-Ära gezeigt hat.
„Style is character“ hat Joan Didion einmal in einem Interview mit Paris Review gesagt und das trifft nicht nur auf ihren literarischen Stil zu, sondern auch auf ihre Selbstinszenierung in Form zahlreicher Fotos, die maßgeblich zum Kultcharakter der Autorin beigetragen, sie sogar zu einer Stilikone gemacht haben. Immer wieder wurde die nur ca. 1,52 große Autorin als klein und zart, zuletzt auch als zerbrechlich, beschrieben, dabei vermittelt sie auf den Fotos einen ganz anderen Eindruck und scheint wieder einmal ihrer Zeit voraus zu sein: Mal zeigt sie sich mit Zigarette und Whiskey-Glas (Didion verreiste nie ohne eine Flasche Bourbon) mit kritisch-besorgtem Blick, mal vor der kalifornischen Küste mit Sonnenbrille, mal vor dem Bücherregal an der Schreibmaschine, mal vor und in ihrem 1969 Corvette Stingray oder mit Ehemann und Tochter. Es gibt kaum ein Foto, auf dem sie lächelt. Meistens ist es ein besorgter, kritischer Blick, den man auch aus ihren Texten kennt. Zusammen genommen zeigen diese Fotos, die vor allem in den 70er Jahren aufgenommen wurden, eine ziemlich moderne Frau, die sich mit männlich konnotierten Attributen bzw. Arbeitsdrogen (Sportwagen, Whiskey, Zigarette) bewusst schmückt, im nächsten Moment aber ebenso ihre Rolle als fürsorgliche Mutter und versierte Köchin unterstreicht ohne jemals auf eine divenhafte Eleganz zu verzichten. Einen persönlichen Stil zu entwickeln ist ihr also gelungen, nicht umsonst wurde ihr eine „reputation for cool“ attestiert, die sie zu einem Magnet der High Society machte. Zu einer ihrer legendären Dinnerpartys eingeladen zu werden, bei denen sich die US-amerikanische Prominenz regelmäßig traf, war der Beweis für Coolness. Didion kochte für bis zu 40 Personen und ging sogar auf spezielle Vorlieben ein. So soll sie für Patti Smith Hühnerragout mit gelber Paprika gekocht haben.
Didion repräsentiert nicht zuletzt auch etwas US-Amerikanisches: Lange Fahrten im Auto durch Städte oder Landschaften scheinen gleichermaßen in Didions Leben und Werk eine Rolle zu spielen wie gesellschaftspolitische US-amerikanische Ereignisse der 1960er und 70er Jahre. Immer wieder geht es um Kalifornien, sogar ein ganzes Buch hat sie ihrer Heimat gewidmet. Der autobiografische Essay Where I Was From (2003) (dt. Woher ich kam) schildert die Suche nach ihren Vorfahren, den ersten Siedlern in Kalifornien. Anhand eines Tagebuchs rekonstruiert sie kalifornische Geschichte bis zum Jahr 1766. Und dennoch beschränkt sie sich nicht auf kalifornische oder US-amerikanische Angelegenheiten, sondern berichtet als Reporterin auch aus lateinamerikanischen Kriegs- und Krisengebieten wie beispielsweise der Essay Salvador(1983) beweist. Ihr Roman A Book of Common Prayer (1977) (dt. Wie die Vögel unter dem Himmel) ist eine fiktionale Auseinandersetzung mit der Rolle und dem Image der USA in Mittel- und Lateinamerika.
Als ihr Mann 2003 an einer Herzattacke plötzlich stirbt, verarbeitet sie ihren Schmerz in The Year of Magical Thinking 2005 (dt. Das Jahr des magischen Denkens), für das sie den National Book Award verliehen bekommt. Trost bietet Didion seit ihrer Kindheit die Literatur wie sie schreibt: „In time of trouble, I had been trained since childhood, read, learn, work it up, go to the literature. Information was control.“
Nur kurze Zeit darauf stirbt ihre nach dem mexikanischen Staat benannte Adoptivtochter Quintana Roo mit nur 39 Jahren. Ihr Buch Blue Nights 2011 (dt. Blaue Stunde) erzählt die Geschichte von Quintana als typisches High Society-Kind, das nicht nur die Angst vor dem Verlassenwerden plagte, sondern als selbstmordgefährdet und manisch-depressiv eingestuft wurde und schwierige Begegnungen mit ihrer leiblichen Familie hatte. Es ist aber auch ein Buch über die von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geprägte Didion selbst, die Fehler und Versäumnisse als Mutter einräumt und von ihrem Schmerz berichtet, wenn ihre Tochter ihr vorwirft, sie habe sie zu Gunsten ihrer Arbeit vernachlässigt. Im Mittelpunkt stehen auch eine neue Einsamkeit und die Entfernung von Kalifornien – eine Rückkehr nach diesen Schicksalsschlägen ist kaum mehr möglich.
In diesem Jahr ist Didions letzter Band Let Me Tell You What I Mean (2021) erschienen, eine Sammlung von Essays, die sich vor allem aus Texten zusammensetzt, die sie in den späten 1960er Jahren für die Saturday Evening Post schrieb. Der Band enthält aber auch Essays, die sich mit persönlichen Absageschreiben von Stanford oder dem Good Housekeeping Magazine, bei dem die junge Didion eine Kurzgeschichte zur Veröffentlichung eingereicht hatte, beschäftigen. „We are seldom inclined to give our readers this bad a time“ heißt es dort.
Nicht nur Didions Desillusion, ihr kritisch-besorgter Blick und ihre Coolness werden uns fehlen, auch ihre klaren Ansagen, die in turbulenten Zeiten vermutlich genau das sind, was wir brauchen:
I’m not telling you to make the world better, because I don’t think that progress is necessarily part of the package. I’m just telling you to live in it. Not just to endure it, not just to suffer it, not just to pass through it, but to live in it. To look at it. To try to get the picture. To live recklessly. To take chances. To make your own work and take pride in it. To seize the moment. And if you ask me why you should bother to do that, I could tell you that the grave’s a fine and private place, but none I think do there embrace. Nor do they sing there, or write, or argue, or see the tidal bore on the Amazon, or touch their children. And that’s what there is to do and get it while you can and good luck at it.