Dada und kein Ende

Publikationen im 100. Jubiläumsjahr 2016

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zürich zog im Ersten Weltkrieg alle Arten von Emigranten, Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler an: Hugo Ball mit seiner Freundin Emmy Hennings, der Kabarettistin, zwei Rumänen, den Maler Marcel Janco und den Dichter Tristan Tzara, den Schriftsteller Richard Huelsenbeck, einen Künstler aus dem Elsass, Hans Arp und viele andere mehr. Niemand weiß, wer den prägnantesten Namen – Dada – erfand, der je für eine Kunstbewegung erdacht wurde. Ein anderes Mitglied der Züricher Gruppe, Hans Richter, war immer der Meinung, dass „er irgendwie mit der freudigen slawischen Bejahung Da da…ja, ja zum Leben zu tun hatte“.

Waren die Happenings, die Klanggedichte und die Spottrituale, die auf der Bühne des Cabaret Voltaire aufgeführt wurden, Ableger des Futurismus, Abfälle von Marinettis Traum eines futuristischen Varieté-Theaters? Dazu kam ein Interesse an archaischen Ritualen, das Hugo Ball dazu veranlasste, sich als kubistischen Bischof in „Roben“ aus Packpapier zu kleiden und lange, spöttische Priestergesänge – scheinbar – voller Unsinn zu psalmodieren. Am 5. Februar 1916 war in der Züricher Spiegelgasse das Cabaret Voltaire eröffnet worden. Dada war geboren, und Ball kreierte mit „Karawane“ das Lautgedicht, die Vorform visueller Poesie. Als ein gegen den „Todestaumel der Zeit“ gerichtetes „Narrenspiel aus dem Nichts“ (Hugo Ball) empfand sich die Bewegung. Nach der Auflösung des Cabaret Voltaire fand der Züricher Dada in der März 1917 gegründeten Galerie Dada ein neues Domizil und gewann hier eine verhaltenere, intime Gestik.

Huelsenbeck ging noch 1917 nach Berlin und wirkte seit 1918 mit George Grosz, den Brüdern Herzfelde, Raoul Hausmann, Hannah Hoech, Walter Mehring und anderen weiter im dortigen „Club Dada“. Der Nonkonformismus politisierte sich zum Kampf gegen den „Geist von Weimar“, womit gleichzeitig das Festhalten an der klassisch-idealistischen Tradition und die Republik gemeint war – eine folgenschwere Doppeldeutigkeit. Provokationen des Parlaments und der Reichswehr führten 1920 zu einem Prozess, in dessen Verlauf die Gruppe zu zerfallen begann. Kurt Schwitters, der sich ihr vergeblich anzuschließen versucht hatte, kritisierte die Politisierung und schuf in Hannover seinen eigenen Dadaismus, den er MERZ nannte. Auch in Köln entstand, vermittelt durch Hans Arp, eine Gruppe, der der Maler Max Ernst angehörte.

In Paris gründete Tristan Tzara 1919 eine neue Dada-Gruppe, u.a. mit Louis Aragon, André Breton und Francis Picabia, aus deren innerem Zerfall 1923/24 der Surrealismus unter Führung Bretons hervorging. Kontakte amerikanischer Avantgardisten mit den Parisern ließen seit 1920 sogar einen Dada New York entstehen, mit Man Ray, Marcel Duchamp und Francis Picabia.

Die Kunst-Guerilla schlug mal hier, mal da zu – bis zum sorgsam inszenierten Ableben 1925. So schnell die Gruppen entstanden und zerfielen, ihre Ausstrahlung wirkte noch über den Zweiten Weltkrieg hinweg, in den USA etwa auf die Pop Art, im deutschen Sprachraum auf die konkrete Poesie, die „Wiener Gruppe“ (Hans Carl Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer) oder Ernst Jandl.

Von Zürich aus revolutionierten die Dadaisten die internationale Kunstwelt

Das Arp Museum Bahnhof Rolandseck hat das 100. Geburtsjahr von Dada mit vielen Aktivitäten begangen, darunter auch mit der Geburtstagsschau „Genese Dada“, zu der ein umfangreicher Katalog erschienen ist. In den beiden zentralen Züricher Dada-Orten, dem Cabaret Voltaire und der Galerie Dada, sprengten die „Dadaisten“ im freien Experiment mit Lautgedichten, Tanz, Theater, Malerei, Grafik oder Bildhauerei die Grenzen der etablierten Künste. Rund um diese beiden Epizentren wird so die Genese Dada im Spannungsfeld von 12 verschiedenen Themen sowie zahlreicher Kunstwerke und Zeitdokumente veranschaulicht. Die Abfolge von Verweigerungen erschöpfte sich nicht in einer rein zerstörerischen Anti-Bewegung, sondern – so vermag der Band „Genese Dada“ deutlich zu machen – eine Dialektik von Destruktion und Konstruktion stand vielfach im Mittelpunkt der Überlegungen und Schöpfungen der Züricher Künstler. Von Zürich aus revolutionierten die Dadaisten die internationale Kunstwelt: in Berlin, Hannover, Köln, New York und Paris. Der Dadaismus war Wegbereiter für Surrealismus, Fluxus, Pop Art, Performance- oder Konzeptkunst.

Nur durch die beiden Komponenten Cabaret Voltaire und Galerie Dada konnte die Unruhe von Dada in „Schwingung gebracht werden“, bestätigt Adrian Notz. Aus ihr resultieren die 12 Begriffe Mystik, Psyche, Philosophie, Literatur, Sprache, Soirée, Kunst, Afrika, Maske, Tanz, Revolte und Marke – Begriffe, die ein Ringen mit den Themen darstellten, die manchmal abstrakt im Raum standen und dann wieder konkret und praktisch eingesetzt wurden. Die Abende im Cabaret Voltaire waren für Raimund Meyer mehr als „ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“. Das Nichts hatte durchaus seine Referenzpunkte. Das galt für die simultanen und bruitistischen Gedichte ebenso wie für die von Tristan Tzara übersetzten „Negergedichte“. Nach viermonatigem Cabaret-Betrieb war dann Schluss. Aber erst in der Galerie Dada, so führt Tanja Buchholz aus, entwickelten sich die Ideen der prä-dadaistischen Phase, die zuvor im Cabaret Voltaire geboren wurden, zur vollen Blüte. Ein Aufsatz von Friedrich Kurt Benndorf zum Thema Mystik aus der Zeitschrift „Der Sturm“ im Jahr 1911 belegt Tendenzen, wie sie bei Mombert und Hugo Ball zum Ausdruck kommen.

Dem Verhältnis von Dada und Psyche widmen sich Tobias Ballweg und Katja Cattapan. Sie verweisen auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts wachsende Tendenz zur Pathologisierung des Künstlers. Die Erfahrung des Unheimlichen ergibt sich aus der psychopathologischen Perspektive, die der Künstler einnimmt. Hans Richter spricht von der „Auch-Besessenheit“. Der Künstler begreift persönliches Leiden nicht als individuelle Problematik, sondern als exemplarisch für das Leiden des Menschen an sich selbst und an seinen gesellschaftlichen Bedingungen. Dabei vermag der Künstler auf viel konkretere Weise „die verdrängten Vorstellungen wachzurufen und in Symbole zu bannen“ (Hugo Ball) als der Arzt.

Robert Pfeller stellt Überlegungen zum Verhältnis von Dadaismus und Philosophie sowie zur Frage der Philosophie von Dada an. Grausamkeit und Amoralität haben bei Dada und den entsprechenden Philosophien – wie der von Ludwig Wittgenstein – einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Die Entdeckung des Sprechens in den Dingen und Handlungen ist einer der Gründe, weshalb in den klassischen Avantgarden die Künstler zur Performance übergehen und weshalb Dada eine Bühne zum Agieren braucht.

Was macht den Geist Dadas, die „Dadasophie“, aus? fragt Hayat Erdogan. Kunst – sie ist Philosophie, Politik und Prophezeiung – wirkt in die Gesellschaft, greift in die politischen Geschehnisse ein, sie ist radikal verändernd. Entgegen Kants Primat der Vernunft hielt Ball mit Rudolf Kassner die Einbildungskraft als lebendige, intuitive Anschauung für wichtiger als die Unterwerfung des Denkens unter Verstandesbegriffe. Denken verstand Ball als Urteilen, und Urteilen verstand er als Auflösen in die Ur-Teile, in die Ur-Sprünge.

Stefan Zweifel verweist auf die alte und neue Avantgarde – „Dada war da, bevor Dada da war“ (Hans Arp) –, er greift zurück auf Echnatons Sonnengesang, sinniert über die Dialektik der Negation im Zürcher Cabaret Voltaire. Fremde Laute erklingen hier ohne verständlichen Sinn. Ball wurde bei seinem Auftritt als Lautdichter unwillkürlich vom Fremdesten und Fernsten erfasst.

Astrid von Asten würdigt Hans Arp als wichtigen Vermittler der Avantgarde, als Dadaisten avant la lettre, und spürt nach, welchen Einfluss wiederum Dada auf Arp nimmt und welche entscheidenden Impulse von der Zürcher Künstlergruppe ausgehen. Arp verbindet mit Dada eine enge wechselseitige Beziehung, die man als eine Win-win-Situation bezeichnen könnte. Seine Papierarbeiten, Reliefs und Textcollagen zwischen 1916 und 1918 spiegeln den radikalen Umbruch seiner eigenen Kunst auf dem Weg in die organische Abstraktion wider.

Tobia Bezzola zeigt die vielen Paradoxa auf, die sich ergeben, wenn der Dadaismus in die Präsentation der Entwicklung modernistischer Bewegungen integriert werden soll und in die kanonische Genealogie der Sammlungen von Museen moderner Kunst. Dadas Negieren des Stils war ein Negieren der gesamten Vorstellung von Stilbegriffen, des historischen Konzepts von Stil, auf dem der Grundgedanke des Museums beruht. Damit ist Dada die Verneinung der Grundlagen dieses Prinzips, der Idee des Museums an sich.

Eric Robertson untersucht die spezielle Natur von realen und erfundenen Dada-Sprachen. In welchem Maße kann man ihnen einen Sinn zuschreiben? Die Sprache, die Dada sprach, war zwangsläufig pluralistisch, hybride und geprägt von tief sitzendem Misstrauen gegenüber dem Missbrauch des Rationalismus, der – so der Autor – Europas Nationen in den Krieg geführt hatte. Die Sprachvarianten des Dada stehen der Sprache als Vehikel von Autorität, Verstand und Logik kritisch gegenüber, aber sie nutzen und schätzen die emotionale Macht der Stimme und ihre Fähigkeit, die Essenz der Bedeutung des In-der-Welt-Seins zu erschließen. Die Glossolalie (das in unterschiedlichen Zungen Reden) im Dada verweist nicht auf ein Utopia, sondern auf eine „Atopie“, eine Gesellschaft ohne territoriale Grenzen, aus der allerdings eines Tages eine Utopie entstehen könnte.

Über das Cabaret Voltaire und die Folgen äußert sich Dieter Mersch. Zweifellos geht die Idee des Cabarets als Kunstform auf den Futurismus Marinettis zurück. Aber im Unterschied zu den Futuristen, die Technik und Fortschritt, die ununterbrochene Dynamisierung der Zeit feierten, setzten die Dadaisten von Anfang an auf die Kritik an der Technik und den Idealen des Fortschritts, weil diese den verheerenden Krieg erst ermöglicht hatten. Die geschlossenen Soireen als die eigentlichen dadaistischen Veranstaltungen müssen vom offenen Programm des Cabarets unterschieden werden. Denn als das Cabaret Voltaire wegen anhaltender Beschwerden wieder schließen musste, sollte nun die Galerie Dada den Künsten und besonders der bildenden Kunst einen Standort geben. Jetzt bildeten die Soireen den ästhetischen Kristallisationspunkt sämtlicher Aktivitäten. Der Virus Dada verbreitete sich nun auch in anderen Städten Europas und in Übersee. Der Berliner Dada war dann noch einmal ein Höhepunkt, Johannes Baaders spektakuläre Aktionen machten deutschlandweit von sich reden. Was wirkte nicht alles von Dada nach?

„Einfach werden“ ist das Leitwort von Johannes Böhringer in seinem thesenartig formulierten Beitrag über die „Negerplastik“, jene Chiffre für primitive, d.h. afrikanische, ozeanische und indianische Kunst. Primitivismus ist die Kunst der Einfachheit, die Konstruktion der Wirklichkeit aus einfachen Elementen, die formelhafte Verkürzung und Verdichtung der Aussage. Der Raum der Negerplastik, der kubische Raum, ist die Gegenwart Gottes. Der expressive Schrei und die infantilisierte Dada-Sprache – beide waren Artikulationen der Menschwerdung.

Warum sind Masken bei Dada Zürich zum zentralen Element der Bühnenauftritte geworden? fragt Sylvie Kyeck. Maskentänze wurden zum elementaren Bestandteil der dadaistischen Performances. Der Maskierte nimmt eine zweite Identität an, schafft sich ein Alter Ego und spielt mit zwei Identitäten. Die Maske, die 1916 zu einem bedeutenden Objekt der dadaistischen Bühnengestaltung wurde, gibt Impulse, die den Darsteller zu Handlungen bewegen, erfüllt ihren Zweck des Versteckspiels.

Mona De Weerdt beschäftigt sich mit den „abstrakten“ und „kubistischen“ (Masken-)Tänzen auf den Dada-Bühnen. Ab 1917 fanden vermehrt geprobte und eingeübte Tanzaufführungen statt, die wohl einer reproduzierbaren Choreografie folgten. Das geschah in Kooperation mit der Laban-Schule (Laban als Pionier des Ausdruckstanzes). Afrikanische Artefakte wie Masken, Lieder, Erzählungen und Bilder dienten als künstlerisches Material beim Entwerfen ihrer Aktionen und einer neuer Aufführungsästhetik. In diesem Interesse am kulturell Fremden findet sich eine zentrale künstlerische Schnittstelle zwischen den Dadaisten und den Tanzreformern, denn auch Labans frühe choreographische Arbeiten waren von außereuropäischen Riten und Rhythmen beeinflusst und rituelle und kultische Elemente wie Kreisformationen und der Einsatz von Trommeln fanden Eingang in seine Tanzdramen. Kennzeichnend für Dada-Tänze war die starke Rhythmisierung. Sophie Täuber entwickelte einen eigenen polyrhythmischen und polyzentrischen Bewegungsstil. Bei ihr zeigte sich keine inhaltlich-narrative Darstellung oder Figuren-Repräsentation, sondern eine Fokussierung auf die Form sowie deren Zertrümmerung.

Was haben nun die Züricher Linkssozialisten mit den Dadaisten zu tun? Doch sehr wenig, weiß Nicola Behrens zu berichten, außer dass Hugo Ball und Emmy Hennings an dem Blättchen „Der Revoluzzer“ mitgearbeitet haben. Beiträge über den Monte Verità und die Lebensreform (Jutta Mattern), über die Marke Dada, die sich die Züricher Dadaisten wohl aus der Drogerienwelt „ausgeliehen“ haben („Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt“), „zweckentfremdet und zum internationalen Codewort ihrer eigenen ‚private guerilla negation’ gemacht“ (Juri Steiner) – oder war Dada doch eher keine Marke? (Jürgen Häuser) –, und über die Zürcher Dada-Zeitschriften als Sprachrohr der Bewegung (Maike Steinkamp) schließen diesen so materialreichen Band ab, der dem Leser auch ermöglicht, im Vergleich von Text und Bild seine eigenen Entdeckungen zu machen.

Eine wunderbare Ergänzung zum Katalog des Arp Museums Bahnhof Rolandseck stellt die Neue Folge 7 des „Hugo-Ball-Almanachs“ mit aufschlußreichen Beiträgen zu Hugo Ball, dem eigentlichen „Gründervater Dadas“, zu Dada Zürich und zur Dada-Bewegung überhaupt dar. Sie soll hier wenigstens angezeigt werden.

Was hat denn München mit Dada zu tun?

In der Tat, München ist der Sitz der Neuen Künstlervereinigung und der Redaktion des Blauen Reiters, aber was hat München mit Dada zu schaffen? In einer Veranstaltungsreihe der Münchner Stadtbibliothek und der Stiftung Lyrik Kabinett München wollte man 2016 zeigen, „dass in der Kunstmetropole München mit der Schwabinger Bohème eine sehr lebendige Kunst- und Literaturszene gerade in der performativen Wortkunst existierte“. Hier in München sei doch einiges auf den Weg gebracht worden, was dann von Dada Zürich umgesetzt wurde. Ein schmales Bändchen „Gä weida Dada. 100 Jahre Dada und München“ fasst die Texte, Gedanken und Untersuchungen zu Dada in München zusammen und lässt auch heutige Münchner Dichter zu Wort kommen, die sich auf eindrucksvolle Weise des Ideen- und Formenreservoirs von Dada bedienen – teils innovativ-spielerisch, teils sprach- und lyriktheoretisch.

Über die Bedeutung Münchens als dadaistischer Ideengeber lässt sich Andreas Trojan in einem inspirierenden Essay aus. Der Glaube an einen dadaistischen „Urknall“, also dass Dada aus dem Nichts entstanden sei, bezeichnet er als Unsinn und beruft sich dabei auf das bekannte Wort Hans Arps: „Bevor Dada da war, war Dada da“. Viele der späteren deutschen Dadaisten hatten schon im Vorkriegs-Berlin Erfahrungen mit dem Expressionismus gemacht, beteiligten sich an Franz Pfemferts „Die Aktion“ oder  waren im Umkreis von Herwarth Waldens Galerie und Zeitschrift „Der Sturm“ tätig gewesen. Die verschiedenen Ausgaben des „Blauen-Reiter“-Almanachs haben Janco und Arp bei den Dada-Zeitschriften in Zürich wohl ebenso vor Augen gestanden wie die Münchner Wort-Künstler Karl Valentin und Liesl Karlstadt (Valentins „Futuristisches Couplet“ und „Expressionistischer Gesang“ kann man als poetische Unsinns-Attacken auf die futuristische wie expressionistische Kunstrichtung ansehen). Ob Hugo Ball, der Verfasser des Lautgedichtes „Karawane“, Valentins „Chinesisches Couplet“ gekannt hat, in dem schon das Lautgedichthafte spürbar wurde? fragt Trojan. Denn der 1886 in Pirmasens geborene Hugo Ball, der in Dada Zürich dann zum „magischen Bischof“ avancierte, kam ja 1912 nach München, lernte in der Schwabinger Boheme den jungen Dichter Klabund kennen, verfasste mit Hans Leybold, einem wichtigen Mitarbeiter an Pfemferts „Die Aktion“, dadaistische Gemeinschaftsgedichte. Das Gedicht „Der Rasta-Querkopf“ sollten dann in Zürich und Paris zwei Dada-Protagonisten, Walter Serner und Francis Picabia, in ihrem Kampf, den Kopf statt den Verstand zu gebrauchen, aufgreifen.

Im Oktober 1915 hatte der Abdruck von Balls antiklerikalem Gedicht „Der Henker“ die erste Nummer der Münchner „Revolution“ zu Fall gebracht, und Huelsenbeck wie Emmy Hennings, die im Münchner „Simpl“ auftrat und später im Zürcher „Cabaret Voltaire“, publizierten beide auch in der „Revolution“. Ohne Hugo Ball und Emmy Hennings, die sich in München kennen gelernt und hier Theatererfahrungen gesammelt hatten, wäre wohl das „Cabaret Voltaire“ in Zürich nicht gegründet worden. Ball forderte schon in München das Theater als „Abenteuer, als Weltreferat, als hoher Lyrismus“, als „literarische Experimentierbühne“. Realisiert wurde diese „Entladung“, die „Expression des Theatralischen“ in Tanz, Farbe, Mimus, Musik und Wort aber erst im „Cabaret Voltaire“. Die Namen der Künstler, die Ball in München mit dieser neuen Ausdruckskunst verbindet, sind zugleich allerdings identisch mit den wichtigsten Mitarbeitern des Almanachs „Der Blaue Reiter“. Ball wollte nach dem Vorbild des „Blauen Reiter“ einen Theater-Almanach mit Kandinsky, Marc, Klee, Kokoschka herausbringen, für die die Vorbereitungen schon fortgeschritten waren. Dada Zürich konnte deshalb auf die Vielfalt im „Blauen Reiter“-Almanach verweisen. Dass sich zudem der „innere Klang“ eines Wortes aus der „Seelenerschütterung“ bei Kandinsky ergeben soll, der Materialcharakter der (Kunst-)Sprache hervorgehoben wird, sollte dann für die avantgardistische Wortkunst von Dada bis zur Wiener Gruppe und Konkreten Poesie von enormer Bedeutung sein. In seinem Kandinsky-Vortrag 1917 in der „Galerie Dada“ macht Ball Kandinsky nicht nur zum Begründer des (dadaistischen) Lautgedichts, sondern zum Bannerträger der einzufordernden und zu realisierenden Freiheit überhaupt. Das Kunstwerk müsse so offen wie möglich gehalten werden, dass es als work in progress von den Nachkommenden weiter verfolgt werden könne.

„Dada ist also“, wie Michael Braun feststellt, „keineswegs nur ein Metropolen-Phänomen – die Refugien an der Peripherie gehören mit zu seinem Erscheinungsbedingungen“.,Man hat Dada eben nicht nur an den bereits bekannten Zentren aufzuspüren.

Tristan Tzara sprach in vielen Sprachen – aber in jeder sprach er als Poet

Marius Hentea legt mit seinem Band „Tata Dada. Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer des Tristan Tzara“ die erste Biographie dieser Schlüsselfigur der Zürcher Dadaisten vor. Es ist viel zu wenig bekannt, wie Tzara später Organisator nicht nur des Pariser, sondern überhaupt des internationalen Dadaismus wurde, sich bald auch dem Surrealismus zuwandte, an der Résistance teilnahm und sich nach dem Krieg gegenwartsbezogeneren und existenziellen Problemen zuwandte. Der Verfasser zeichnet exakt – unter Auswertung bisher unbekannter Quellen – die Herkunft und Umwelt des 1896 in Moinesti, einem Provinznest am Ostrand der Karpaten, als Samuel Rosenstock geborenen Dichters nach. Die große jüdische Gemeinde machte den Ort zum Schtetl. Die Juden, von denen schon viele seit Generationen in Rumänien lebten, galten als Ausländer. Das erzeugte im jungen Tristan Tzara, der in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs, das Gefühl, nirgends sesshaft zu sein. „Jedes Erzeugnis des Ekels, das Negation der Familie zu werden vermag, ist Dada“, sollte er später sagen. Vorausgesetzt, dass der Zorn, den Tzara der Bourgeoisie entgegenbrachte, nicht nur Posse war, liegen dessen Wurzeln bereits in seiner Kindheit, die er in einer Familie verbrachte, in der bürgerliche Werte als Standespflicht galten. Der Ruf fort von zu Hause erklang dann 1913 in einem rumänisch geschriebenen Gedicht „Kriegslied“ mit bereits hellseherischen Qualitäten. Als Gymnasiast in Bukarest sollte er dann seine dichterische Stimme entdecken, die krassen Widersprüche zwischen Modernität und geradezu mittelalterlichen Zuständen kennen lernen. 1915 verließ er Bukarest und begann sein kosmopolitisches Leben. Zürich Dada ließ den biederen bürgerlichen Internationalismus der Vorkriegszeit hinter sich und entlarvte sowohl die Leere der europäischen Kunstformen als auch die Sinnlosigkeit des dazugehörigen Fortschritts- und Vernunftglaubens. Die Mitglieder präsentierten sich stolz als Staatenlose.

Tzara war gewiss schon vor seiner Ankunft in Zürich ein vielversprechender Lyriker. Aber gehörte er schon zur Avantgarde? fragt Marius Hentea. Als Initiator und Hauptvertreter des Dadaismus intendierte er mit Theaterhappenings („Le coeur à gaz“, 1921; „Mouchoir de nuages“, 1924), Zeitschriften („Cabaret Voltaire“, 1916; „Dada“, 1917/20), Manifesten („La première aventure céleste de Monsieur Antipyrine“, 1916; „Manifeste Dada“, 1918) und Lyrikbänden („Vingt-cinq poèmes“, 1918; „Cinéma calendrier du coeur abstrait“, 1920) die Provokation des Publikums. Seine anarchistische Avantgarde-Ästhetik führte ihn dann 1920 nach Paris. Aus der dort von ihm lancierten Dada-Bewegung ging der Surrealismus hervor, gegen den Tzara sich zum Teil abgrenzte („Sept manifestes Dada“, 1920; „L’Antitete“, 1933; „Grains et issues“, 1935), dessen Zielsetzungen er zum Teil aber auch mitdefinierte („Essais sur la situation de la poésie“; „L’homme approximatif“, beide 1931). 1935 kam es zum Bruch mit Breton und seinem Kreis. Tzara engagierte sich im Spanischen Bürgerkrieg und später in der Résistance. Die Erfahrungen dieser Zeit sowie die existenziellen Hoffnungen und Nöte des modernen Menschen spiegeln sich in seinen Gedichtbänden wider („Midis Gagnés“, 1939; „Terre sur terre“, 1946; „Parler seul“, 1950; „De mémoire d’homme“, 1950; „La face intérieure“, 1953).

Der mit Holzschnitten von Hans Arp illustrierte Gedichtband „Cinéma calendrier du coeur abstrait / maisons“ („Kino Kalender für das abstrakte Herz / Häuser“) von 1920 zeichnet sich durch die dichte Konzentration von disparaten Bildern und unvorhergesehenen Bewegungen aus. Sein Dreiakter „Le coeur à gaz“ („Das Gasherz“) stellt dagegen tradierte Theater-Konventionen radikal in Frage und nimmt mit seinem absurden Humor Samuel Beckett und Eugène Ionesco vorweg. Bei Tzara gibt es nur noch sinnfreie Dialoge, undifferenzierte Figuren, keinen kausalen Zusammenhang zwischen Rede und „Handlung“ mehr. Die Gedichtsammlung „De nos oiseaux“ („Über unsere Vögel“)  aus dem Jahre 1923 kann als Musterbeispiel für Internationalität verstanden werden. Das Ringen um Souveränität, der Wunsch, in einer Welt, die sich in ständiger Bewegung, im ewigen Wandel befindet, den freien Willen zu behaupten, sieht Hentea als poetisches Prinzip Tzaras an.

Tzaras wichtigster Beitrag zum Surrealismus, „L’Homme approximatif“ („Der approximative Mensch“), erschien 1931 mit Illustrationen von Paul Klee. Die Reise des lyrischen Ich durch eine Welt aus Chaos und Zerstörung ist das zentrale Motiv dieses Langgedichts. Die ironische Dada-Haltung ist hier aufgegeben worden, stattdessen verweist der Dichter auf die komplexe Wechselbeziehung zwischen Mensch, Natur und Gesellschaft. Auch die Verletzlichkeit des Dichters bleibt nun nicht länger verborgen. In dem Versuch, Erinnerungen in eine gewisse Ordnung zu bringen, werden in dem darauffolgenden Lyrikband „Où boivent les loups“ („Wo die Wölfe trinken“, 1932) die freien, unregelmäßigen Verse durch kontrolliertere, wenngleich kaum erbaulichere Emotionen ersetzt. Trotz der Verzweiflung an der Welt klingt immer wieder die Zuversicht an, in der Einsamkeit der Sprache zumindest vorübergehend eine Zuflucht finden zu können. Im Gesang XVIII wird schließlich die Utopie einer Welt jenseits der Einsamkeit entworfen.

Hentea zeichnet die politische Entwicklung Tzaras nach, die diesen vom „Manifest Proletkunst“, das er mit Arp, Schwitters und Van Doesburg 1923 unterzeichnet hatte, zum Beitritt zur Association des Écrivains et Artistes Révolutionnaires 1933 führte (erst 1947 trat Tzara in die Kommunistische Partei ein). Damit die Dichtung als „menschliches Handeln ins tägliche Leben“ eintreten könnte, schrieb Tzara in „Grains et Issues“, müsse eine „radikale Wende“ der Gesellschaft vollzogen werden. Nachdem er 1935 endgültig mit dem Surrealismus gebrochen hatte, richtete er sein Interesse verstärkt auf die Politik. Doch nahm sein politisches Engagement keinen Einfluss auf seine Lyrik, einer „revolutionären Kunst“ hat er nicht das Wort gesprochen. Auch das Gedicht „Sur le chemin des étoiles de mer“ („Auf der Straße der Seesterne“), das er nach der brutalen Ermordung Garcia Lorcas 1936 schrieb, verzichtet auf jedes Lehrstückhafte, auf Anklage und Trauer. Hier drückt sich in der Kraft der unerbittlichen Natur künstlerisch gelungen die Endgültigkeit des Verlustes aus. In dem Band „Midis gagnés“ von 1939 mit Gedichten und experimenteller Prosa beschwört Tzara: Der Mensch muss sich befreien aus der „unbeugsamen Starrheit des Denkens, das unser Leben in eine schematische Ordnung zwängt“. Dem Bewusstsein steht eine gesellschaftliche Realität gegenüber, deren akute Dringlichkeit sich nicht länger ignorieren lässt. In dem dramatischen Gedicht „La Fuite“ („Die Flucht“) verarbeitete er seine Erinnerungen an den Exodus aus Paris und verwies einerseits auf das Elend unter den Flüchtlingen, andererseits auf die Gefahr, die der jüdischen Bevölkerung seitens des NS-Regimes droht. In den Untergrund gezwungen, gab Tzara sein Schweigegelöbnis auf – er hatte das Publizieren als einen Akt der Kollaboration mit der Vichy-Regierung empfunden – und brachte Gedichte wie „Ca va“ („Alles bestens“) heraus, die aufforderten, der Okkupation zu trotzen.

Tzaras späte Gedichtbände zeichnen sich zwar durch eine ungeheure Vielfältigkeit aus, kreisen aber immer wieder um die alten Themen, die Bedeutung der Vergangenheit und der Erinnerung. Er sah sich als Vertreter Frankreichs und seiner großen Schriftstellertradition. Zugleich wachte er sorgfältig darüber, dass seine Rolle innerhalb der Dada-Bewegung angemessen gewürdigt wurde.

1956 begann Tzara eine umfangreiche Abhandlung über Anagramme in der Literatur. In gewisser Weise griff er seine alte These vom Rätselcharakter der Sprache wieder auf. „Der Zerstörer der Sprache war fest entschlossen ihre ‚Geheimnisse zu entschlüsseln’“, schreibt Hentea. Tzara wollte ein Buch über Francois Villon herausbringen, überarbeitete aber seine Erkenntnisse ständig und schob die Manuskriptabgabe immer wieder auf. Er starb 1963 an Lungenkrebs.

Die Monographie Henteas bietet in ihrer polyphonen Konzeption mehrere Ansätze, die verschiedenen Aspekte und Phasen des literarischen und künstlerischen Weges von Tzara beleuchten. Neben Reflexionen und persönlichen Eindrücken von anderen Künstlern kommen die Reaktionen der Medien zur Sprache. Durch diese vielfältigen Zeugnisse kann nicht nur der komplexe Charakter des Künstlers, sondern auch des Menschen Tzara entdeckt werden. Ein Register hätte allerdings den Band noch praktikabler machen können.

„Dada Globe“ – eine Text-Bild-Collage des internationalen Dadaismus

1921 hatte Tzara ein Projekt „Dada Globe“ mit Künstlern aus der ganzen Welt vorbereitet, das zwar schon angekündigt, aber nie veröffentlicht worden war. Literarische Materialien zu diesem Projekt wurden im Pariser Nachlass Tzaras aufgefunden. Michel Sanouillet, 2015 verstorben, plante eine kritische Ausgabe des gesamten „Dadaglobe“, die sich aber, da der größte Teil von Tzaras Sammlung1968 im Rahmen einer Auktion in Bern verkauft wurde, erheblich verzögerte. Nun wurde sie in einer Ausstellung im Kunsthaus Zürich und in der MOMA New York anlässlich der 100. Wiederkehr von Dada Zürich gezeigt und in einer Publikation vorgestellt.

In der vorliegenden Rekonstruktion wird Auskunft gegeben über die radikal neue Auffassung, die die Collage und auch die Photomontage, ganz neue Techniken, die die Kunst der Moderne bereicherten, bei den Dadaisten gespielt haben. Diese radikalen Vorboten des transnationalen, intermedialen und transdisziplinären Weltgefühls erhalten im heutigen Zeitalter der globalen Vernetzung eine besondere Bedeutung.

Als Produkt von Tzaras System des Zufalls sollte „Dadaglobe“ eine Text-Bild-Collage bzw. eine Montage auf über 160 Seiten darstellen. Schon im Wort Dadaglobe sind zwei unterschiedliche Begriffe (Dada und Globus) zu einer neuen Einheit vereinigt. Warum aber hat Tzara „Dadaglobe“ nur in den USA, nicht aber in Europa angekündigt? 1921 hatte Picabia öffentlich seinen Bruch mit Dada vollzogen. Huelsenbeck suchte einen Keil zwischen Tzara und Picabia zu treiben; er war verärgert, dass Tzara den Begriff Dada für sich benutzte. Ohne Picabias finanzielle Unterstützung und ohne die Bereitschaft von La Sirèna, das Buch zu verlegen, hatte „Dadaglobe“ keine Chancen.

Die bei Tzara für „Dadaglobe“ eingegangenen Text- und Bildbeispiele werden alphabetisch nach Künstlern gegliedert. Sie reichen von Louis Aragon und Hans Arp, André Breton und Jean Cocteau, Marcel Duchamp und Paul Éluard über Max Ernst, George Grosz, Raoul Hausmann. John Heartfield, Hannah Höch, Richard Huelsenbeck bis zu Man Ray, Francis Picabia, Kurt Schwitters, Walter Serner, Sophie Taeuber-Arp und Tristan Tzara. Die Rekonstruktion selbst erfolgt auf Grundlage der in den Dokumenten gefundenen Angaben. In den Fällen, in denen Tzaras Angaben widersprüchlich oder unvollständig waren oder ganz fehlten, hatten die Herausgeber die Entscheidungen zu treffen.

Hier wird nun in der Tat eine ganze Anthologie der Dada-Bewegung vorgeführt. Bereits seit 1913 hatte Duchamp sowohl gegen das Kulinarische wie gegen die Sakralisierungstendenzen  bisheriger Kunst rebelliert. Er stellte ihnen im „Ready-made“ den Alltagsgegenstand gegenüber, einen Akt, der sowohl Tiefschlag wie Denkanstoß war. Zugleich unterhöhlte er den Anspruch des Kunstwerks auf Einmaligkeit. Jede Replik eines Ready-made übermittelte die gleiche Botschaft wie das ‚Original’. Darin steckt eine Vorwegnahme der in den 50er Jahren zum Durchbruch gelangenden Gattung des multiplizierten Kunstwerks. Duchamps Überlegungen lösten in seinen New Yorker Jahren zwischen 1915 und 1919 dann bei Man Ray und Francis Picabia analoge Aktivitäten aus.

Das Lautgedicht, das Komplexbild, das Ready-made – so bezeugt „Dadaglobe“ anschaulich –gehören alle zu den Innovationen des Dadaismus. Das eine baut eine verkehrte Welt auf, die zugleich wieder in sich zerstört wird, eine Textwelt, die nichts mit dieser Welt zu tun hat, die nicht abbildet und nicht deutet: eine Welt aus Sprache und Spiel, Einfall und Zufall. Das andere versammelt das Strandgut der Dingwelt in Gebilden, die Bezeichnungen wie Collage, Assemblage und Montage nur unzulänglich umschreiben. Die entzauberten Trümmer des Fetischs Technik werden in einen ihnen gänzlich unangemessenen Zusammenhang gebracht. Und Duchamps Ready-made, der ironische Akt der Auswahl eines alltäglichen Gegenstandes, ist hier gleichbedeutend mit Schöpfung. Der gewählte Gegenstand sei, so Duchamp, „mit einem Auge fast eine Stunde lang aus der Nähe zu betrachten“, bevor sich die Initial-Zündung einstelle.

Tristan Tzara wiederum zerschnitt Zeitungsartikel in kleinste Teilchen, jedes nicht länger als ein Wort, tat sie in eine Tüte, schüttelte sie tüchtig und ließ dann alles auf den Tisch flattern. In der Ordnung und Un-Ordnung, in der die Worte fielen, stellten sie ein „Gedicht“ dar, das etwas von der Persönlichkeit und dem Geist des Autors wiedergeben sollte. Der Zufall hat sich in der Kunst eine wichtige Dimension erobert, in einer Technik von assoziativen Entsprechungen, sprunghaften Gedankenverbindungen, unerwarteten Laut- und Wort-Kombinationen.

Auch Hans Arp durchbrach – geschult am französischen Kubismus, an Picasso und Braque – bildnerische Konventionen, die noch für die Expressionisten sakrosankt waren, experimentierte mit Klebe-, Zerschneide- und Zerreißtechniken und suchte nach einer abstrakten, elementaren, zuweilen geometrischen Bildsprache jenseits traditioneller Öl- und Tafelmalerei.

George Grosz wiederum wurden Pinsel und Feder zum Skalpell. Er hat sich künstlerisch die neuen Strömungen zueigen gemacht: den Gedanken der Simultaneität, der futuristischen Schachtelperspektive mit divergierenden Blickrichtungen, der Verwandlung, der immerwährenden Bewegung,  in der er selbst und der gerade ansetzende Zeichenstift feste Bezugspunkte bleiben.

Schließlich lernen wir in „Dadaglobe“ auch Schwitters’ Gestaltungsprinzip kennen: die Umbildung von Fetzen weggeworfener Wirklichkeit. Aus einer zerfallenen Wirklichkeit setzte er das Bild der Welt wieder neu zusammen. Alle Dinge, die in das Bild eingehen, verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung und werden zu notwendigen Teilen der Komposition „entmaterialisiert“, entfremdet. Der Begriff Merz gilt als Synonym von Schwitters, denn er wurde vom Künstler selbst sowohl für sein Oeuvre als auch für seine Person wie ein Markenzeichen verwendet. Der Durchbruch des Merz-Prinzips in Schwitters Dichtung markiert die Verwendung von sprachlichen „Ready mades“, von „objets trouvés“. Wer sich mit dem Dadaismus beschäftigen will, wird nun an „Dadaglobe“ nicht mehr vorbeigehen können.

Hans Arp – ein Jahrhundertwerk in ständigem Gestaltwandel

Rudolf Suter, schweizerischer Kunstwissenschaftler und -kritiker, hat eine mehr als 300 Seiten umfassende, mit zahlreichen Abbildungen – biografischen und Werkfotos – versehene monografische Darstellung des Jahrhundertkünstlers Hans Arp vorgelegt, die sowohl sein künstlerisches als auch sein literarisches Werk einer ausgewogenen Betrachtung unterzieht. Vor allem dem weithin unbekannten Spätwerk hatte sich der Verfasser in seiner Dissertation von 2007 zugewandt, deren Ergebnisse in die Monografie mit eingeflossen sind.

Die Biografie geht chronologisch vor, setzt in Arps Geburtsstadt Straßburg ein, die damals zum Deutschen Reich gehörte und sich in einer Konfliktsituation mit Frankreich befand. Der junge Arp geriet um die Jahrhundertwende in eine aufmüpfige Literatenszene, die schon den späteren Protest Dadas erahnen lässt. Schon damals nahm er dadaistische und sogar surrealistische Elemente vorweg, wie Suters Analyse der frühen Gedichte belegt. Die Vorgänge der Züricher Dada-Jahre 1916-1919 werden zusammenfassend behandelt. Suter geht dabei stärker auf das bildnerische, weniger auf das dichterische Werk dieser Zeitspanne ein. Arp verwendet die Form des Ovals, doch schon vor Dada hat er gerade Linien und geometrische Formen in sein Werk eingebaut, die er dann gegen Ende der 1930er Jahre wieder aktiviert. Nach dem Ende von Dada Zürich hat er eine neue Form des Reliefs erfunden, die Objekt-Sprache-Reliefs.

Was aber Arp als Dada-Dichter hervorbrachte, muss man sich wohl aus drei verschiedenen Stilebenen zusammen gesetzt denken: den expressionistischen Beschwörungen der Apokalypse, dem Weltenchaos und der zersetzenden Apokalypse in „Der Vogel selbdritt“, den assoziativen dadaistischen Experimentaltexten des ebenfalls 1920 publizierten Bandes „Die Wolkenpumpe“ und den streng strukturierten Nonsensversen, die 1924 in „Der Pyramidenrock“ veröffentlicht wurden, wobei gewisse Gedichte auf 1917 zurückdatiert werden müssen.

Arp war eine der faszinierendsten Erscheinungen der künstlerischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Er war überall dort zu finden, wo sich die Kunst seiner Epoche von idealistischen Modellen und traditionellen Wirklichkeitsbindungen zu befreien suchte: Er stellte mit der Münchener Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ aus, gehörte zum Kreis der Berliner Galerie „Sturm“ Herwarth Waldens, seine Collagen, Reliefs und Dichtungen bestimmten die Zeit des Nonsens-Dadaismus, er war sowohl mit den Konstruktivisten als auch den Surrealisten befreundet, sympathisierte mit den Abstrakten – und alle diese Lager beanspruchten ihn gleichermaßen als einen der ihren für sich. Denken, Dichten, Formen und Schaffen scheinen bei ihm den Gesetzen des „Zufalls“ zu folgen und sie können trotzdem geometrisch-konstruktiv sein, sie fallen „wie Früchte vom Baum“ und sind dennoch fern jeder imitativen Kunst. Der Themenkreis seiner so mühelos wachsenden, blühenden und zugleich doch gebändigten und gebauten Formenwelt ist zwar schon frühzeitig festgelegt, doch die Möglichkeiten an Metamorphosen scheinen unendlich zu sein, und es fehlt auch in der Spätphase nicht an völlig neu anmutenden Figurationen.

In Meudon, heute Clamart, bauten Sophie Täuber-Arp und Arp 1929 ein Haus. Arp geriet in das Spannungsfeld zwischen Surrealismus und abstrakten Tendenzen. 1931 modellierte er aus Gips Rundplastiken und betitelte zum ersten Male seine Werke mit „nach den Gesetzen des Zufalls“. Ende der 1930er Jahre kombinierte er diese Gestaltungsweise mit geraden Linien und ebenen Flächen. Auch die Dichtung wandelte sich in spezifischer Weise. 1930 erschienen Konfigurationen, eine Vorform der konkreten Poesie, die das Erzählerische zugunsten von Wortkombinationen zurückdrängen. Gleichzeitig komponierte er echte Klagelieder, in denen man eine Stimmung erahnen kann.

1943 starb Sophie Täuber-Arp in Zürich, ein Schock, von dem sich Arp nie mehr ganz erholen sollte. Seine Irrfahrt durch verschiedene Gebiete der Schweiz in den anschließenden zwei Jahren konnte Suter fast lückenlos rekonstruieren. Nach Kriegsende kehrte Arp nach Meudon zurück, seine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod Sophies in Form von Gedichten und Aufsätzen begann. Bald wurde die Baslerin Marguerite Hagenbach seine Sekretärin und Lebenspartnerin. In den USA setzte ein lebhaftes Interesse für Arps Kunst ein. 1954 wurde er an der Biennale von Venedig mit dem Großen Preis für Plastik ausgezeichnet. Nach wie vor arbeitete Arp an seinen unregelmäßigen Formen, die einen Gestaltwandel evozieren. Ab 1950 taucht auch die – wie Suter sie nennt – „bilateralsymmetrische“ menschliche Figur auf, die das Beständige und Ewige anstelle des Zeitlichen ins Auge fasst.

Das den Werken Arps innewohnenden Gestaltungsgesetze sind überhaupt die des Unvollendeten, Unvollendbaren, der unablässige Prozess des Werdens und Veränderns, die Verwandlungen, Übergänge und Verpuppungen, die nichts Abgeschlossenes, Definitives kennen. Die Formen bleiben im Fluss, sie sind auf dem Wege von einer Bedeutung zur anderen. 1953 schrieb Arp rückblickend: „Ich wanderte durch viele Dinge, Geschöpfe, Welten, und die Welt der Erscheinung begann zu gleiten, zu ziehen und sich zu verwandeln wie in den Märchen. Die Dinge begannen zu mir zu sprechen mit der lautlosen Stimme der Tiefe und Höhe“. In einem Gedicht hat er visionär umschrieben, welche Bedeutungsassoziationen etwa in seiner Skulptur „Spiegelblatt“ (1962, Bronze) möglich sind: „Aus einem wogenden Himmelsvlies steigt ein Blatt empor./ Das Blatt verwandelt sich in einen Torso./ Der Torso verwandelt sich in eine Vase./ Ein gewaltiger Nebel erscheint./ Er wächst./ er wird größer und größer./ Das wogende Himmelsvlies löst sich in ihm auf./ Der Nabel ist zu einer Sonne geworden,/ zu einer maßlosen Quelle, zur Urquelle der Welt. Sie strahlt“. Das Prinzip gestalterischer Metamorphose schließt hier Vegetabiles (Blatt), Figuratives (Torso), Dinghaftes (Vase), Organisches (Nabel) und Kosmisches (Sonne) ein.

Arps Dichtung wurde dagegen nach dem Zweiten Weltkrieg konventioneller. Sie macht im Gegensatz zur dadaistischen Dichtung jetzt klare Aussagen und ist stark religiös gefärbt. Die Gedichte sind nun von Bildern durchdrungen, die zwischen Surrealismus und Religiosität schwanken.

Seit 1938 hatte Arp viele Kommentare zu Dada geliefert. Er verglich seine und Sophies Kunst der Dada-Zeit mit Mandelas und dem Zen. Er brachte Fragmente der Vorsokratiker und religiöse Ausdrücke in seine Texte ein. Auch sämtliche Aussagen über den Zufall, der ja als eines der wichtigsten Prinzipien der Dada-Kunst gilt, wurden aus diesem neuen, späteren Bewusstsein heraus gemacht.

In den Torsi der 1950er Jahre, die Suter als „bilateralsymmetrische“ Figuren bezeichnet, ist aber trotz aller Abstrahierungen der Form der Bezug zur menschlichen Figur immer gegeben („Schattenfigur“ oder „Kauernd“, beide 1960, Bronze). Die Andeutung einzelner plastischer Körpergliederungen genügt, um ein Ganzes vorzustellen. Arp wandte sich vor allem vollen, aufgeblühten Formen zu; er bevorzugte einfache und vollkommene Körper, die einer reifen, geschälten Frucht oder einem glatt und rund geschliffenen Kiesel gleichen. Die Bronzeskulptur „Menschlich mondhaft geisterhaft“ (1950) beschwört die Vorstellung einer aufkeimenden, aufblühenden Pflanze, der Naturphänomene des Wachsens, Werdens, Gebärens und damit der „Schöpfung“ überhaupt. In „Ptolemäus II“ (1958, Bronze) werden im Sinne des ptolemäischen Weltsystems die gleich- und kreisförmigen Bewegungen in einem ineinandergeschachtelten System mit berechenbarer Ausdehnung wiedergegeben. Es kann als eine bildhauerische Umsetzung der Geheimnisse des Universums, der Sprache des Weltalls verstanden werden. Mensch, Pflanze, Knospe, Frucht, Kristall, Gefäß, Zeichen, Idol, Wolke, Stern, Kosmos, Landschaft – all diese Vorstellungen werden auf wunderbare Weise in Arps Skulpturen lebendig. Sie halten ihr Gleichgewicht gegen die Natur, sie verwandeln sich in Kunstformen, die sich nach ihren eigenen Gesetzen entfalten. Die lebensvollen prallen Rundungen, die weichen Übergänge, die gleitenden Konturen, das Wellige, Gebogene, Geschlängelte, Gezackte oder Konzentrische, auch das jähe Unterbrechen des genussvollen Ineinanderfließens durch harte Schnitte und scharfe Grate gehören zum bildhauerischen Formkanon dieses großen Künstlers. „Der Inhalt einer Plastik“, so Arp, „muss auf Zehenspitzen, ohne Anmaßung auftreten, leicht wie die Spur eines Tieres im Schnee“.

Suter zeigt, dass Hans Arp ein Jahrhundertwerk in ständigem Gestaltwandel geschaffen hat. Es ist so vielgestaltig wie dieses Jahrhundert selbst, und doch entzieht es sich jeder kunst- und auch literaturhistorischen Einordnung. Weitere Dada- oder dadanahe Publikationen werden nicht auf sich warten lassen. Man kann also wirklich sagen: Dada und kein Ende.

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Kunsthaus Zürich (Hg.): Dadaglobe Reconstructed. Mit Beiträgen von Adrian Sudhalter, Michel Sanouillet, Cathérine Hug, Samantha Friedman, Lee Ann Daffner und Karl D. Buchberg.
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016.
304 Seiten, 277 farbige und 113 sw Abbildungen, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783858814999

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Andreas Trojan (Hg.): Gä Weida Dada. 100 Jahre Dada und München.
Vogel & Fitzpatrick Verlag, Scheuring 2016.
52 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783930654406

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Arp Museum Bahnhof Rolandseck (Hg.): Genese Dada. 100 Jahre Dada Zürich. Eine Ausstellung des Arp Museums Bahnhof Rolandseck in Zusammenarbeit mit dem Cabaret Voltaire Zürich.
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016.
248 Seiten, 143 farbige und 23 sw Abbildungen, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783858814920

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Rudolf Suter: Hans Arp. Das Lob der Unvernunft. Eine Biografie.
Mit Fotografien von Ernst Scheidegger.
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016.
334 Seiten, 69 farbige und 52 sw Abbildungen, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783858815026

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Eckhard Faul (Hg.): Hugo Ball Almanach. Neue Folge 7: 2016. Studien und Texte zu Dada.
edition text & kritik, München 2016.
230 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783869164618

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Marius Hentea: TATA DADA. Über das wahre Leben und die himmlischen Abenteuer des Tristan Tzara.
Die Übertragung der Gedichte aus dem Französischen von Corinna Popp.
Übersetzt aus dem Englischen von Harriet Fricke und Voker Oldenburg.
Berlin University Press, Wiesbaden 2016.
375 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783737413237

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