Das Gegengewicht
Zum Tod des Publizisten Hermann L. Gremliza
Von Markus Joch
Wie oft hat man sich über ihn geärgert, und wie viel öfter rettete er einem mit einem Satz den Tag? Wer die Nachricht vom Tod Hermann L. Gremlizas, am 20. Dezember 2019 in Hamburg, so aufgenommen hat, wird unter den vielen respektvollen Nachrufen auf den Konkret-Herausgeber die nuancierenden hervorheben. Gerhard Henschel würdigt Gremlizas „bis ins hohe Alter bewahrte Spottlust, wobei es gar nicht darauf ankommt, ob man ihm in jedem Fall zustimmt.“ Für David Hugendick verband der in Schwaben aufgewachsene und von Hamburg aus wirkende Journalist „Denken und Schreiben auf eine Weise, die selbst von vielen jener geachtet und beneidet wurde, die ihm politisch niemals zugestimmt hätten, die fanden, dass er sich irrte (was er auch bisweilen tat), die ihn für zu radikal hielten oder denen er sonst wie in herzlicher Abneigung verbunden war.“ Das ist zwar leicht übertrieben. Wer mit Gremliza ernstlich auf Kriegsfuß stand, tat sich schwer, den glänzenden Stilisten und gewitzten Polemiker gelten zu lassen. Aber so viel stimmt: Es gab einen Überhang an gesinnungsunabhängigem Respekt, viele Interessenten, die mit der und der Position HLGs nicht einverstanden waren und ihn trotzdem weiterlasen.
Zu dieser Gruppe zählt auch der Verfasser, und er will sich nichts vormachen. Gremliza, neben Wolfgang Pohrt jahrzehntelang der wichtigste linke Publizist in Deutschland, ein Marxist, der noch in einem seiner letzten Interviews betonte, man dürfe politisch „keinen Millimeter“ preisgeben, sonst könne man den Laden gleich dicht machen, hatte für linksliberale Kundschaft wenig übrig. ,Toleranz‘ verbat er sich, den moderateren Teil der Leserschaft hielt er für inkonsequent aus Bequemlichkeit. Sein Hohn von 1984 auf die „Neigung zum sozialen Liberalismus (oder zum liberalen Sozialismus, ihr könnt das haben wie ihr wollt)“, galt bis zum Schluss. Doch auch wenn er keinen Wert auf sie legte, für eine Achtung mit Vorbehalten bzw. dafür, dass jene diese überwog, gab es gute Gründe. Einige seien hier genannt, in der Gewissheit, dass sie der engere Kreis der VerehrerInnen als laues Einerseits-andererseits ablehnen wird.
Unsympathisch war mir Gremlizas Schwäche für den Realsozialismus. Wirklich übel nahm er den DDR-Oberen nur den Versuch, die viel zu vielen Altnazis nach 1945 zu integrieren. Repressionen im Ostblock hingegen lastete er einer „feindlichen, kapitalistischen Umgebung“ an, „aggressiver Belagerung“, ökonomischem, militärischem und politischem Druck von außen. An Lenins autoritärem Parteimodell selbst durfte es nie liegen – eine inakzeptable Denksperre. Recht aber behielt er damit, dass die schiere Existenz des sozialistischen Lagers das kapitalistische zum sozialstaatlichen Auspolstern zwang. Wie sonst wäre zu erklären, dass erst nach dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz die Neoliberalen durchmarschierten? Was heute selbst Spiegel-Redakteure wie Thomas Fricke einsehen, um es als brandneue Erkenntnis zu präsentieren, las man in Gremlizas monatlicher Kolumne schon vor Ewigkeiten.
Im Übrigen formte der vormalige Spiegel-Redakteur und diplomierte Politologe 1974 nicht einfach eine kommunistische Zeitschrift. Er schuf eine, Oliver Tolmein hat es erwähnt, „höchst heterogene“, „in der auf Grundlage eher orthodox kommunistischer Positionen Ansätze der Behindertenbewegung, unterschiedliche feministische Theorien, autonome und anarchistische Konzepte und auch linksökologische Strömungen diskutiert wurden“. Der Spielraum kam nicht von ungefähr. Entgegen anderslautenden, in der Bürgerpresse immer wieder lancierten Gerüchten war Konkret unter Gremlizas Ägide finanziell unabhängig von der DDR. Auftragsgesinnung Fehlanzeige, das verdross seine Gegner vor 1989 vielleicht am meisten.
Und die antideutsche Linie, die Gremliza im wiedervereinigten Deutschland radikalisierte und die heute sein Image prägt? Sätze wie „Als wäre ,Deutschen-Hasser‘ nicht die einzig moralisch vertretbare Haltung, die ein Beobachter dieser widerwärtigen Nation einnehmen kann“, oder das Wort vom „auch in der Bevölkerung der DDR, denn es sind Deutsche, virulenten Rassismus“ [Hervorh. MJ] waren verständlich als Reaktion auf den Einheitsrausch und seine gewaltsamen Weiterungen. Aber langfristig, als Programm, waren sie mir zu pauschal und affektgeladen. Gewiss, ein Hitler-Gen hat Gremliza den Deutschen nie nachgesagt. Aber er ging eben nicht nur (mit Norbert Elias) davon aus, ihre Sozio- und Psychogenese habe sie „als Feinde der Zivilisation gestählt“. Eine Veränderlichkeit des Kollektivhabitus nach ’45, und sei es nur eine partielle, schloss er aus.
Damit argumentierte er essentialistisch und an Teilen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit vorbei. Die konsumfreudigen Citoyens etwa, die Schwundstufen von 68, erwiesen sich zwar oft genug als so egoistisch bis korrupt wie von HLG gezeichnet. Doch nazistisch oder auch nur anti-westlich tickten sie nicht. Fragwürdig auch die Lehre von den Deutschen als Weltmeistern des Rassismus. In ihrem Rahmen lassen sich die Prozentzahlen des Front National schwerlich erklären. Deutsche Germanophobie neigt zur indirekten Verklärung der Nachbarn.
Dennoch wiegen die Verdienste der antideutschen Ausrichtung schwerer. Seine Zentralthese, das neue Deutschland („Viertes Reich“) strebe innereuropäische Hegemonie nunmehr mit ökonomischen statt militärischen Mitteln an, durfte Gremliza spätestens im Sommer 2015, durch das Griechenland aufgezwungene Austeritätsdiktat, aufs Glänzendste, Traurigste bestätigt sehen. Auch lag seine verächtliche Darstellung der Landsleute näher an der Realität als jenes Märchen, über das er sich am liebsten mokierte, Antje Vollmers Gerede von den durch 68 „gründlich zivilisierten“ Deutschen, vor denen sich die Welt nicht mehr fürchten müsse. Wenn laut einer aktuellen Studie des Jüdischen Weltkongresses jeder vierte Deutsche antisemitisch denkt und 41 Prozent meinen, Juden redeten zu viel über den Holocaust ‒ keine achtzig Jahre nach dem Zivilisationsbruch! ‒, ist „gründlich“ reichlich geschönt.
Gremlizas Misstrauen war notwendig und produktiv, Konkret machte er zur sensibelsten Beobachtungsstation für rassistische und antisemitische Vorfälle, Untertöne, Gewohnheiten, aufmerksamer als der gesamte Hamburger Wochenmarkt zusammen. Rechten Terror nannten er und die Seinen schon beim Namen, wenn sich die auflagenstärkere Konkurrenz noch wand. Den Jargon von Klemmnazis auseinanderzunehmen, gestern CDU/CSU, heute AfD, übernahm der Meister selbst. Klar waren die monatlichen Schmutzwasserstandsmeldungen nicht originell, aber muss Wahres originell sein?
Vor allem haben Gremliza und der vor einem Jahr verstorbene Pohrt der deutschen Linken den Kopf gewaschen. In den Achtzigern sahen sie als Erste, dass die Friedensbewegung Züge einer deutschnationalen Erweckungsbewegung trug, die Rede von „Yankee-Kultur“ und „besetztem Land“ dem kulturkonservativen Ressentiment glich wie ein faules Ei dem anderen. Nach der Wende distanzierten sie sich als Erste von jenen deutschen Protesten gegen den Irak-Krieg, die lieber der Selbstviktimisierung der Großväter folgten („Heute Bagdad, gestern Dresden“) als der Existenz des Staates Israel oberste Priorität beizumessen. Den linken, als Antizionismus kaschierten Antisemitismus zu markieren und zu bekämpfen, eine entschieden proisraelische Haltung zu etablieren, war ihr größtes Verdienst. Sagt einer, der mit 17 nur zufällig nicht mit Palästinenserschal rumlief. Dass der Zeitschriftenmacher Gremliza dafür etliche Abonnementkündigungen sogenannter Antiimperialisten in Kauf nahm, haben einige Nachrufe schon erwähnt. Ich wiederhole es gern, denn teure Positionierungen zeugen von Rückgrat.
Aber dasselbe anderen ständig absprechen? Dazu berechtigt fühlte sich Gremliza wohl auch, weil er 1971 im Streit um die Mitbestimmung beim Spiegel so lange standhielt, bis Augstein ihn feuerte, er sich die Prinzipientreue eine Karriere hatte kosten lassen. Mit den Jahren begann er seine Kolumne am Anfang der Konkret-Hefte wie auch den sprachkritischen „Express“ an deren Ende mit Renegatenvorwürfen nur so zu fluten. Was ihm den Ruf des „Comandante Redundante“ (Wiglaf Droste) einbringen musste, zumal er mit dem Opportunismusverdacht manchmal zu schnell bei der Hand war.
Zumindest im Herbst 2003, als Pohrt auszusprechen wagte, dass Deutschland Jugoslawien nicht im Alleingang, sondern als Teil der westlichen Allianz bombardiert, keine trübere Rolle als die USA, England und Frankreich gespielt hatte, militärisch sogar eine marginale. Typisch, dass Gremliza auf die Abweichung von antideutscher Linie nicht ohne Unterstellung von Eigennutz antworten konnte: „Auch Sie haben einmal gewußt, nein: geschrieben, mehr: uns gelehrt, welche Mördergruben die Herzen unserer Landsleute sind. Nun weiß ich natürlich auch, daß das Beharren auf Erkenntnissen einen freien Autor in Gefahr bringt, als langweilig zu gelten und nicht mehr gefragt zu werden.“ Hier war die Insinuation von Markthörigkeit nicht nur falsch – Pohrt nahm einfach die Fakten zur Kenntnis –, sie war kurios. Der freie Autor hatte soeben seine antideutsche Klientel vergrault, ohne sich eine neue zu erschließen.
Genauso wahr aber ist: Ein Jahrzehnt später lädt Gremliza Pohrt zu einem denkwürdigen Streitgespräch ein, in dem es um nicht weniger als die Konsequenzen kommunistischer Praxis und Marx’scher Geschichtsphilosphie geht (Konkret, 11/2014). Die Antipoden und Freunde führen die Debatte mit einem Scharfsinn und Kenntnisreichtum, die noch 2050 ihresgleichen suchen werden – keine riskante Prognose. Dass Gremliza sich einem gleich Starken stellte, der fürs kommunistische Projekt nurmehr Sarkasmus übrig hatte, beweist, bedürfte es eines Beweises, dass der Konkret-Chef Widerspruch aushielt, Lust am Diskurs hatte (im Sinn von discurrere, auseinanderlaufen), am argumentativen Schlagabtausch.
Sie wiederum zeugt von einem Format, das der Konkurrenz abging. Der angeblich im Zweifel linke Spiegel wich Debatten mit Gremliza geflissentlich aus, hat ihn 45 Jahre lang nahezu totgeschwiegen, aus Angst vor intellektueller Potenz. Die letzte Rache für diese sollte der ununterbietbare „Nachruf“ sein, in seinem lächerlich geringen Umfang – ein Rückenschwimmer und ein Bond-Girl erhielten den doppelten – von vollendeter Widerlichkeit. Verstehbar war die Beklemmung vieler Journalisten allerdings: Gefährlich wurde ihnen Gremliza mit dem „Express“, der unnachsichtigen Stilblütensammlung, weil er beim Sezieren von Schludrigkeiten seltenst ins Paukerhafte abglitt, immer auch danach siebte, ob sich der sprachlichen Fehlleistung eine Pointe abgewinnen ließ. Folge: Viele Betroffene sahen sich der Lächerlichkeit preisgegeben.
Und wer kann schon Texte schreiben wie „Danke, mein Führer!“, die Kolumne vom Mai 2005 über Hitler und seinen Goebbels, die, blickten sie heute auf den Zustand des Vaterlands, sehr zufrieden wären? „Springer, hm, Springer, könnte Hitler sinnieren, hört sich aber nicht jüdisch an. Gehören denn die großen Verlage nicht wieder den Juden? Mosse? Ullstein? Nein, mein Führer, nicht ein einziger, alle rein arisch.“ Angetan wäre das Duo auch vom Preisbewusstsein der Deutschen, die „für die sechs Millionen ermordeten und die ungezählten ausgeraubten und vertriebenen Juden in fünfzig Jahren als ,Wiedergutmachung‘ einen Betrag bezahlten, der – umgerechnet auf jeden Bürger der Bundesrepublik – den Wert einer Schachtel Zigaretten pro Monat ausmachte“.
Dank seines bissigen und faktengesättigten Stils, Muster konziser Präzision, gelang es Gremliza regelmäßig, nachwachsende Topautoren für Konkret zu gewinnen, von Diederichsen über Sokolowsky bis Süselbeck. An der Seite von HLG zu schreiben war gut fürs symbolische Kapital, umgekehrt hielt sich die Zeitschrift nicht zuletzt wegen des attraktiven Line-up über Wasser. Nahm er auch sprachlich an ihm Maß, als Mannschaftsspieler war Gremliza größer als Karl Kraus (da ähnelte er eher dem Aktion-Herausgeber Franz Pfemfert).
Was war mein Hauptgrund, am Bahnhofs-Kiosk immer wieder zu Konkret zu greifen? Gremlizas Attacken erwischten zu 90 Prozent die Richtigen, und sie richtig. Dass die Grünen sich selbst für die Hartz-Reform hergaben, überraschte am wenigsten ihn, der längst erkannt hatte, dass „Fischers Mülltrenner-FDP“ für viele nach einer jugendlichen „Trotz- oder Trotzki-Phase“, auf einem auch für abgebrochene Theologinnen engen Arbeitsmarkt, der kürzeste Weg zu den Fleischtöpfen war. Ebenso treffend eine Bemerkung über Angela Merkel: Wie blöd es sei, ihr „vorzuwerfen, sie habe mal wieder ihre Überzeugung verraten. Das hat sie nicht. Sie kann es nicht. Sie hat keine. Sie will nichts als irgendwie ganz oben sein. Dazu studiert die Kanzlerin jeweils das aktuelle Parallelogramm der Kräfte, um in dessen Mitte Platz zu nehmen.“ Am schönsten aber der Kommentar zu Pfarrer Eppelmann, als der sich 1990 an der freundlichen medizinischen Behandlung für Erich Honecker stieß: „Vom Himmler hoch da komm ich her.“
45 Jahre lang bildete Gremlizas Schreiben das unentbehrliche Gegengewicht zur politisch herrschenden Meinung. Und doch war es immer auch eine Absage an parteiübergreifende Denkfaulheit, woran sein polemisches Meisterwerk erinnert. Wir lesen jetzt ständig, Gremliza habe einmal erzählt, Ghostwriter von Günter Wallraffs Enthüllungsbuch über die Bild-Zeitung“ gewesen zu sein. Nun, erstens hat er es nicht „erzählt“ oder gar „behauptet“. Er hat es offengelegt, festgestellt. Niemand, der den hervorragend geschriebenen „Aufmacher“ mit Wallraffs Elaboraten verglichen hat (ganz furchtbar: die „Predigt von unten“), wird bezweifeln, dass das Bessere tatsächlich an Gremlizas Schreibtisch entstanden ist. Zweitens verhandelte die berühmte Rede zum Karl-Kraus-Preis 1987 weit mehr als eine Urheberfrage.
Es ging darum, den Wallraff und andere beseelenden Glauben an die investigative Höchstleistung, überhaupt die Ideologie des Scoop, in seiner Einfalt vorzuführen – den „Gestus des Enthüllers, der dem kränkelnden Mittelstand immer noch einmal und alle maßlos überraschend beweist – bitte sehr, hier sind erstklassige Unterlagen! –, daß es die da oben besser haben als die dort unten, daß Gerling tatsächlich ein Ausbeuter ist und ausländischen Proleten – man glaubt es kaum – noch übler mitgespielt wird als ihren deutschen Kollegen.“ Es ging um die beim Kölner Schreibenlasser und seinen Lobrednern anzutreffende, leider auch in der Linken verbreitete Geringschätzung von literarischer Formgebung, von Sprachgefühl. Die Folgen hat Gremliza unnachahmlich demonstriert, an „Heinrich Vormweg, Ritter ,Von ihm her‘, über Christian Linder, Edler ,Von hier aus‘, bis eben zu Günter Wallraff, Herzog ,Von daher‘“.
Zuvorderst ging es um den penetranten Kniff, die Schlichtheit des eigenen Duktus als Dienst an den Verdammten dieser Erde zu verkaufen, auf „daß die Sprachlosigkeit, zu der die Herrschaft das Proletariat verurteilt hat, eine allgemeine werde“. Zur entsprechenden Anbiederungsprosa hielt Hermann L. Gremliza zeitlebens den größtmöglichen Abstand und wusste, warum: „Eine Literatur, eine Sprache, die auf den Strich geht, um die Heruntergebrachten anzumachen, bringt sie nicht hinauf und sich herunter.“ Wie jung wirken seine Sätze, und wie alt fühlen wir uns jetzt.