„Das isolierte Ich im Angstsingular ist ein effizientes Messer“

Marica Bodrožić, Tanja Raich, Monique Schwitter, Clemens J. Setz und Daniel Wisser zeichnen in „Gleichgültigkeit“ ein Bild der Angst, Selbstisolation und Einsamkeit unserer Zeit

Von Janina HellenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Janina Hellen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann, welcher tot im Vorraum einer Bank liegt und von keinem der vorübergehenden Menschen beachtet wird, zeigt beispielhaft die alltägliche Problematik der Gleichgültigkeit innerhalb unserer Gesellschaft auf. In Das befristete Dasein der Gleichgültigen übt Marica Bodrožić’ Protagonistin Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft. Auch der vorherrschende Materialismus, die Massentierhaltung und das überhebliche Denken, „dass uns alles gehört, wir alles kaufen, haben, archivieren können“, werden thematisiert. Bodrožić legt die Gedanken ihrer Protagonistin stark kontrastierend an: Sie ist gefangen zwischen den bildhaften Beschreibungen einer Utopie, in welcher die Menschheit eingezäunt ist und die Tiere in Freiheit leben; und der Gleichgültigkeit in Zeiten der SARS-CoV-2-Pandemie, in der „selbst die Toten in Europas Süden“ niemanden aufhorchen lassen. Die kühle Distanz der Menschen trotz körperlicher Nähe wird für die Leser*innen spürbar, da immer wieder Raum, Zeit und Natur in den Gedanken der Protagonistin zum Leben erwachen und menschlicher handeln als die Menschen selbst. Letztendlich wird der klagende Appell an die „Singularreisenden“ durch die Worte Rainer Maria Rilkes ausgedrückt: „Du musst dein Leben ändern“. Es wird Zeit für die Menschen, „bewusst ausgelassene Verbindungen“ zu anderen Menschen zu überdenken und die „Fähigkeit zur Nähe“ zurückzugewinnen.

Dieser am 25. November 2020 erschienene Erzählband ist die zweite Veröffentlichung in der Verlagsreihe Zeitworte. In der Zeit des Lockdowns haben sich fünf deutschsprachige Autor*innen mit dem Thema der Gleichgültigkeit beschäftigt und ihre Gedanken erzählerisch ausgestaltet. Mit der ersten Veröffentlichung RisentimentoRessentiment wurde ein innereuropäischer Dialog angeregt, in dem fünf namhafte deutschsprachige und italienischsprachige Autor*innen ihre Gedanken austauschen und in Erzählungen festhalten. In Kooperation mit dem Limbus Verlag entstanden jeweils zwei Bücher auf Italienisch und Deutsch, denn neben der Veröffentlichung in der jeweiligen Originalsprache erschienen die Erzählbände im Frühjahr 2020 jeweils in Übersetzung.

Feindseligkeit und Angst gegenüber Eindringlingen sowie Selbstschutz und Isolation durch hochgezogene Mauern bestimmen den Alltag der Protagonistin in Variationen des Lichts von Tanja Raich. Sie beschreibt das Leben innerhalb eines fiktiven Dorfes „unter der Glasglocke“. Durch die fortschreitende Digitalisierung und die Abwehr unerwünschter Feinde macht sich eine schmerzhafte Stille innerhalb der Dorfmauern bemerkbar und „jeder sitzt in seinen eigenen vier Wänden und wartet, dass der Traum vorbeigeht und ein anderer Morgen beginnt“. Die Hoffnung, zurück zur Realität zu finden, bleibt – doch Mut zur Veränderung zeigt keiner und jeder fügt sich dem „Ablauf“ des Dorfes und den Vorgaben der Ältesten.  Durch die stark überzeichnete Erzählweise zeigt Raich deutlich, dass es letztendlich an jedem Einzelnen liegt, etwas zu verändern, und eine passive Haltung des gleichgültigen Vergessens in schweren Zeiten keineswegs hilft.

Auch Daniel Wissers Protagonistin Andrea möchte „nur immer auf Distanz bleiben“ und bewundert werden. Sie lebt und liebt in Lisa 7 die gleichbleibende Oberflächlichkeit ihres Alltags – mit mindestens einer Flasche Prosecco am Tag. Auch im Beruf wahrt sie eine gesunde Distanz zu ihren Vorgesetzten und ihrem Team, welches überwiegend aus Frauen besteht. Diese sind ihr lästig und wichtig zugleich. Aufgrund ihrer distanzierten, gleichgültigen Haltung gegenüber ihren Mitmenschen weiß sie, trotz einer Affäre mit ihrem Vorgesetzten, nichts über dessen lebensbedrohliche Krankheit. Unangenehmen Situationen, egal ob beruflicher oder privater Natur, geht sie bewusst aus dem Weg, doch an manchen Tagen läuft auch bei ihr alles schief. Eine unerwartete Veränderung beruflicher Natur, bedingt durch das Ableben ihrer Affäre, sowie eine überraschende Schwangerschaft bringen den gewohnten Alltag und ihr bisheriges Leben durcheinander.

Die Autor*innen lassen die Leser*innen in diesem Erzählband durch sehr lebhafte Beschreibungen sowie ausführliche Monologe und Gedankenspiele immer wieder Momente der Angst und der Konfrontation mit der oft gewollten Einsamkeit durch die Augen der Protagonist*innen erleben. Im starken Kontrast zu Realitätsvermeidung und Selbstisolation stehen hier der Wille zur Veränderung und die Hilflosigkeit der Protagonist*innen. Nahezu alle Erzählungen stimmen die Leser*innen in Zeiten von SARS-CoV-2 und der Flüchtlingskrise nachdenklich und erfordern daher auch über den ersten Leseeindruck hinaus eine Auseinandersetzung mit den Texten. Wer ein nachhaltiges und tiefgründiges Leseerlebnis bevorzugt und sich mit alltäglichen, aber oft unbequemen Momenten der Gleichgültigkeit auseinandersetzen möchte, der wird diesen Erzählband lieben und den am 26. Mai 2021 erscheinenden Folgeband Gleichgültigkeit (II) kaum erwarten können. Dieser wird die Beiträge italienischsprachiger Autor*innen enthalten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anna Rottensteiner / Giovanni Accardo (Hg.): Gleichgültigkeit. Erzählungen.
Limbus Verlag, Innsbruck 2020.
176 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783990391921

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