Das ist zu schön, um wahr zu sein

Robert Schwentkes „Der Hauptmann“ als intensive NS-Täteranalyse

Von Andreas P SchmidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas P Schmid

„Ick hab mir de Uniform angezogen – und denn hab ick mir’n Befehl jegeben – und denn bin ick losjezogen und hab’n ausjeführt.“ Friedrich Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick, folgte in seiner Köpenickiade einem klug durchdachten Plan. Sie begann und endete als geschlossene Aktion und wurde schon von Zeitgenossen, nicht zuletzt von Kaiser Wilhelm II., als genialer Coup und bühnentauglicher Spaß gepriesen. Nicht verwundern musste daher die rasche Begnadigung des Hochstaplers. Von Zeitgenossen und in dramatischen Bearbeitungen wurde die Episode zur Realsatire auf den Militarismus und die Uniformhörigkeit im deutschen Kaiserreich aufgewertet, bis heute wird Carl Zuckmayers oben zitiertes Theaterstück mit gutem Grund in deutschen Schulen gelesen. Bis auf die Uniform und die Amtsanmaßung hat der Hauptmann von Köpenick mit dem Hauptmann Willi Herold wenig gemein. Als Gefreiter wird der 19-jährige Herold 1945 von seiner Einheit im Nordwesten des Deutschen Reichs versprengt. Zufällig entdeckt er eine herrenlose Hauptmannsuniform, die ihm von da an Autorität verleiht. Bekannt wird Herold als ‚Henker von Emsland‘ – nach der von ihm angeordneten Hinrichtung von über einhundert Gefangenen im Strafgefangenenlager Aschendorfermoor. Die Verfilmung des Stoffs von Robert Schwentke verfolgt diese biographische Episode im kurzen Leben Willi Herolds vom Auffinden der Uniform bis zu seinem Freispruch durch ein deutsches Kriegsgericht. Dass die historisch verbürgte Figur von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet wird, erwähnt der Film am Ende nur per Zwischentitel. Statt unter der Guillotine endet Herold in einem mit Skeletten gepflasterten Wald, in dem er dann verschwindet. Seine Fahrt mit der ‚Leibgarde Herold‘ geht dann im Abspann weiter – mitten in eine deutsche Innenstadt der Gegenwart. Diese Köpenickiade hat – ganz anders als diejenige Wilhelm Voigts – kein im Voraus bestimmtes Ende, keinen klaren Plan, keine Mission. Ihrem zerstörerischen Potential muss der Zuschauer ein Ende setzen, sonst walzt sie immer weiter.

Brutal bricht der Film mit den Konventionen des Historiengenres und erst recht mit denen der Blockbuster-Historienfilme jüngeren Datums – und das nicht nur im Anachronismus des Abspanns. Dieser bestätigt lediglich noch einmal abschließend die Aktualität der Geschichte. Doch schon vorher wird auf Abstraktion wertgelegt. So verzichtet man weitgehend auf eine Psychologisierung der Figuren und portraitiert nur Oberflächen, was die Erzählung wesentlich weniger konkret erscheinen lässt, als die Wahl eines historisch verbürgten Ereignisses eigentlich nahelegt. Lediglich mit dem stummen Schrei Willi Herolds bei den Erschießungen nimmt der Film (leider) ein Element des Zweifels als innere Bewegung auf, die der sonst konsequent durchgehaltenen Oberflächenfixierung entgegenläuft. Auch ästhetisch orientiert sich Der Hauptmann nicht so sehr an möglichen Genrevorbildern wie Schindlers Liste, mit dem er allein den weitgehenden Verzicht auf das Farbbild teilt. Die extreme Gewalt und das Gefangenenlager-Setting erinnern vielmehr an die Naziploitation-Filme der 1970er Jahre. Die orgiastischen, bis zum Gewaltausbruch rauschenden Feste rufen Szenen aus Viscontis La caduta degli die (Die Verdammten) auf.

Unüblich ist ebenso die Täterperspektive im Sujet des Zweiten Weltkriegs. Mit großer Genauigkeit rekonstruiert Schwentke den Soziolekt und den Habitus der Nazis verschiedener Ränge und bringt so einen bizarren Humor mit einer ungemütlichen, teilweise sogar unheimlichen Anspannung zusammen. Wiederholt wird diese Reibung in der großartigen Musikgestaltung des Films, die zwischen den schneidenden Industrial-Klängen des Soundtracks von Martin Todsharow und den von Figuren gesungenen Schlagern und Soldatenliedern changiert. Wie erschreckend oder grotesk komisch sie auch sein mögen, als Zuschauerin muss man sich zu Tat und Tätern verhalten, wird dabei aber vom Film allein gelassen. Eine moralische Instanz, eine Orientierungs- oder Identifikationsfigur bietet er nicht an. Auch eine Humanisierung der Täter selbst vermeidet der Film – anders als etwa Sam Peckinpahs Cross of Iron, der, ebenfalls aus der Perspektive von Wehrmachtssoldaten erzählt, diese in Cowboys und Gangster aufteilt und so ihre Täterschaft zu einer Frage der Ehre banalisiert. Der Hauptmann hingegen verzichtet auf die Mär vom guten Nazi: Auch wer widerwillig mitmacht, macht sich schuldig. So kann sich das Publikum nicht einfach zu den Guten zählen.

Es geht also vornehmlich um die Täter. Genauer: Die „Schichten der Maschine“ wolle er „analytisch abklopfen“, so Schwentke in einem Interview. Und das gelingt: Zur Hälfte der Spieldauer widmet der Film der Befehlskette und der Legalität des Standgerichts, durch das Willi Herold zum ‚Henker von Emsland‘ wurde, einige Aufmerksamkeit. Der Lagervorsteher Hansen, der auf die Einhaltung der Rechtsordnung pocht, die ein Standgericht nur unter Beisein eines Anwalts der Justizbehörde erlaubt, liefert sich mit Herold und SA-Führer Schütte, die gleich zur Tat schreiten wollen, ein abgründiges bürokratisches Duell. Mit dem Gusto der Überlegenheit belehrt Hansen seine ‚Kontrahenten‘ wie Schulbuben über die formalen Bedingungen und ebenso arrogant verhöhnt Schütte Hansen nach dem Triumph: Über den Gauleiter gelingt es ihm und Herold, sich die Zuständigkeit über den inneren Lagerbereich von der Gestapo-Dienststelle in Emden übertragen zu lassen, um so den Oberstaatsanwalt in Oldenburg zu übergehen, ohne den Rahmen der Legalität zu verlassen. Als persönlichen Wettkampf, als ein Spiel um Gewinnen und Verlieren tragen die Nazi-Offiziere einen Konflikt über bürokratische Korrektheiten aus, der die Opfer völlig ignoriert. Schmerzhaft führt die unmittelbar darauffolgende Exekutionsszene dieses Auseinanderklaffen von Legalität und Legitimität vor Augen. Am Ende steht Herold dann doch vor Gericht und das Verhältnis kehrt sich um: Auch wenn die Illegalität seines Vorgehens einwandfrei erwiesen ist, erscheint es den Ideologen unter den gegebenen Umständen der nahenden Niederlage des Deutschen Reichs als legitim. Herold wird freigesprochen und für den Widerstand gegen die feindliche Besatzung im Untergrund vorgesehen.

Der eingängige Schlager ‚Christels Lied‘, den Lilian Harvey 1931 zum ersten Mal interpretiert und der Willi Herolds Köpenickiade rahmt, bekommt am Ende einen faden Beigeschmack: „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder, das ist zu schön, um wahr zu sein.“ Durch die Ambivalenz zwischen Schrecken und Komik, die wilde Genremischung, die analytische Präzision und Abstraktion, einen überzeugenden Max Hubacher in der Hauptrolle und die abschließende Fahrt in die Gegenwart stellt Der Hauptmann den Refrain bitterböse auf den Kopf: Eine Zeit, die fast zu schrecklich ist, um wahr zu sein, gibt’s nicht nur einmal, sondern kann jederzeit wiederkehren.

Der Hauptmann
Regie: Robert Schwentke
Darsteller: Max Hubacher, Milan Peschel, Frederick Lau, Waldemar Kobus
119 Minuten

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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