Das komplizierte Spiel um die Liebe

Ein vielbeachteter Erstroman der jungen irischen Autorin Sally Rooney sorgt für Gesprächsstoff

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen Frances, Bobbi, Melissa, Nick und Philipp. Frances ist die Ich-Erzählerin des Romans von Sally Rooney. Jung sind sie alle, sehr jung die einen, Bobbi und Frances, 21 Jahre alt; wenig älter die anderen, Anfang und Mitte 30, wie Nick und Melissa, ein Ehepaar, mit dem sich die beiden Jüngeren anfreunden. Sie studieren noch, wie Frances und Bobbi, oder arbeiten als Schauspieler oder Fotografin und Schriftstellerin. Alle außer Frances gehören zu einer betuchten Mittelschicht. Die Erzählerin stammt aus ärmlichen Verhältnissen, hat eigentlich ständig Geldsorgen und muss jobben, um über die Runden zu kommen. Aber auch sie ist in gewisser Weise „privilegiert“, da sie studieren kann und auf gutem Wege ist, eine Schriftstellerin zu werden. Sie veröffentlicht eine Kurzgeschichte und erhält dafür eine Geldsumme, die ihr über eine schwierige finanzielle Situation hinweghilft. Natürlich, so möchte man in der Aufzählung fortfahren, leben die vier Hauptfiguren in der Großstadt, in Dublin – die Etablierten unter ihnen wie Nick und Melissa in einem Ambiente großstädtischen Lebensstils, die beiden jungen Frauen in einem studentischen Umfeld. Und natürlich geht es in dem knapp 400 Seiten langen Buch fast ausschließlich um die Liebe.

Da allerdings gerät man bei der Aufzählung ein wenig ins Stocken. Es ist zunächst hauptsächlich Sex, um den sich die Beziehungen der Personen und ihre Gespräche drehen. Gerade wenn man anfängt zu glauben, man habe einen der herkömmlichen Beziehungsromane vor sich, wird aus den Sexspielen, ohne dass man das sofort bemerkt, etwas anderes, etwas Ernsteres, bei dem es dann wirklich um die Liebe geht und das nach „Auf und Abs“ überraschend endet.

Der Reihe nach. Über viele Seiten wird den Lesern zunächst einmal eine Geschichte mit Liebesaffären der eher üblichen Art präsentiert. Alles dreht sich um heimlichen Sex, Freundschaft, Ehe und Ehebruch, Treue und Treulosigkeit, Liebesfreuden, Frustrationen und Enttäuschungen. Frances und ihre Freundin Bobbi, zwei Studentinnen am Trinity College in Dublin, treffen bei einer Party auf das Ehepaar Melissa und Nick. Sofort entsteht eine unterschwellig angespannte Beziehung zwischen den gerade 20-jährigen jungen Frauen und dem zehn Jahre älteren Mann und seiner noch ein paar Jahre älteren Ehefrau. Frances verliebt sich in den Schauspieler Nick, sie ist von seiner attraktiven männlichen Erscheinung völlig gefangen; Bobbi wiederum fühlt sich zu Melissa hingezogen.

Diese Figurenkonstellation ist in Romanen der letzten Jahrzehnte nicht ungewöhnlich. Was in diesem Fall das Erwartbare von Anfang an mit Fragezeichen versieht, ist die Beziehung zwischen Bobbi und Frances. Die beiden sind enge Freundinnen, die zwar verschiedenen sozialen Schichten angehören, sich aber seit langem gut kennen: Sie sind zusammen zur Schule gegangen und studieren jetzt an derselben Universität. Darüber hinaus verbindet sie in besonderer Weise eine lesbische Beziehung während ihrer Schulzeit, die sie sowohl in der Schule wie außerhalb der Schule offen zeigten, dann aber beendeten. Während des gesamten Romans bleibt es – es ist eine der Stärken des Buches – eine schillernde Beziehung. Immer wieder wird von ihrer Liebe oder ihrer Freundschaft gesprochen, und nicht immer ist klar, was gemeint ist und ob die frühere enge Beziehung von beiden wirklich beendet worden ist. Für das letztere spricht, dass, je länger die Handlung dauert, beide Geheimnisse voreinander haben und Schwierigkeiten, über ihre wirklichen Gefühle zu reden. Das ändert sich erst im letzten Drittel des Buchs.

Interessant ist, wie sich Frances’ Verhältnis zu Nick entwickelt. Sally Rooney hat ein Gespür dafür, wie Handlungslinien zugleich spannungsvoll und überzeugend dargestellt werden können. Aus Bewunderung für Nicks attraktive Erscheinung, als sie sich zum ersten Mal treffen, wird bei Frances eine immer stärkere Faszination. Fast zwangsläufig führt diese dazu, dass sie Nick begehrt und schließlich mit ihm Sex hat. Aber dabei bleibt es nicht: Schritt für Schritt  – der Roman schildert das gekonnt – wird daraus, jedenfalls bei Frances, mehr als Sex.

Ihre sexuelle Beziehung können sie während eines mehrwöchigen Aufenthalts in einem Ferienhaus in Frankreich intensivieren. Sie treffen sich in jeder Nacht heimlich in Nicks Zimmer. Die anderen argwöhnen etwas, sind sich aber nicht sicher. Als Melissa einmal Frances fragt, ob sie mit ihrem Mann schlafe, verneint diese das, wie mit Nick vereinbart. Melissa begnügt sich mit der Antwort, ohne nachzufragen.

Frances’ und Nicks Beziehung ist der Drehpunkt der Handlung des Romans. Es ist eine Beziehung, die den sexuellen Wünschen beider entgegenkommt. Beide haben aber, je länger ihr Verhältnis dauert, darüber hinausgehende Erwartungen und Vorstellungen. Sie sind allerdings nicht in der Lage, ehrlich und offen darüber zu sprechen. Das belastet ihre Beziehung stark. Sie gehen durch Höhen und Tiefen, erleben lustvolle und befreiende Momente, müssen aber auch Enttäuschungen und Verletzungen ertragen. Es ist eines der eindrucksvollen Merkmale des Romans, dass den Figuren – allesamt, wie es scheint, erfahrene Menschen in Liebesdingen – im entscheidenden Moment die Worte für ihre wahren Gefühle fehlen und sie deshalb in ihren Beziehungen zu scheitern drohen.

So geht es nicht nur Frances mit Nick, sondern auch mit Bobbi. Als diese durch Zufall von der Beziehung ihrer Freundin zu Nick erfährt, scheint sie überrascht und auch enttäuscht zu sein. Ihre Abreise aus dem gemeinsamen Urlaub gefährdet ihre lange Freundschaft mit Frances. Die Erzählerin schildert das in einfachen, aber wirkungsvollen Sätzen: „Am Flughafen fragte mich Bobbi: Wie lange läuft das schon zwischen euch beiden? Und ich sagte es ihr. Sie hob die Schultern, als würde sie sagen: Okay.“ Über die Ankunft der Freundinnen in Dublin heißt es vielsagend:

Es gießt, sagte sie. Typisch. Ich wollte mit dem Zug nach Ballina fahren, um ein paar Tage bei meiner Mutter zu bleiben, und sagte zu Bobbi, ich würde sie anrufen. Sie winkte sich ein Taxi herbei, und ich ging zur Bushaltestelle, um den 145er zur Heuston Station zu nehmen.

Typisch für diese beredte Kommunikationslosigkeit zwischen den Figuren sind deren ständige Versuche, über Smartphones miteinander Kontakt aufzunehmen und sich dadurch des anderen irgendwie zu versichern. Es scheint, als suchten sie die Nähe der anderen und brauchten gleichzeitig die Distanz zu ihnen, um sich zu schützen, damit sie nicht in ein Frage- und Nachfragespiel verwickelt würden, das ihnen zu viel an Wahrheit abverlangen, Blößen geben oder psychische Blessuren zufügen könnte.

Dafür ist auch Melissas Reaktion auf die Affäre, die Frances und Nick über Wochen hin eingehen, ein Beispiel. Eigentlich bleibt Melissa als Figur, obwohl in den Gesprächen zwischen Frances und Nick oft ein Gesprächsthema, merkwürdig blass. Sie ist Schriftstellerin und Fotografin und ist die Gastgeberin im Urlaubshaus in Frankreich. Dennoch nimmt sie keine scharfen Charakterzüge an. Nur einmal erhebt sie ihre Stimme, im letzten Viertel des Romans, und zwar bezeichnenderweise in einer etwa drei Seiten langen E-Mail, indirekt also. Die Nachricht beginnt mit den Sätzen: „Hi, Frances. Ich bin nicht böse auf dich, ich will, dass du das weißt. Ich schreibe dir nur, weil ich es wichtig finde, dass wir hier auf einer Wellenlänge sind.“ In der Nachricht fallen sowohl eine gewisse Harmoniesüchtigkeit wie unterschwellige Bosheit auf. Offensichtlich möchte sie Frances nicht zu nahe treten. Gleichzeitig enthüllt sie einige unschöne Einzelheiten über Nick, die Frances durchaus beunruhigen könnten.

Alle Figuren sind bereit, immer wieder neue Beziehungen einzugehen und „auszuprobieren“, verhalten sich klischeehaft modern, wie man das aus anderen Büchern, Filmen oder Fernsehsendungen kennt. Dennoch haftet ihnen etwas Konventionelles an: Sie handeln zwar, als gäbe es für sie keine traditionellen Verhaltensregeln, versuchen aber ihr Verhalten vor sich und den anderen zu rechtfertigen, plagen sich mit Gewissensbissen und können sich von Eifersucht nicht freimachen. Das macht sie sympathisch. Die Figuren gewinnen an Charakterschärfe und erwecken im Leser emphatische Gefühle.

Der Roman nimmt nach knapp zweihundert Seiten im zweiten Teil eine Wende und scheint mit einem Mal das Etikett „herkömmlicher Liebesroman“ abzustreifen. Einmal ergeben sich für die Protagonistin Frances Möglichkeiten für eine schriftstellerische Karriere, etwas, das sie erträumt hat, aber nicht ohne weiteres erwarten konnte. Ihre erste Kurzgeschichte wird erfolgreich veröffentlicht. Etwas anderes kommt hinzu: Frances muss nach ihrer Rückkehr aus Frankreich in Dublin wegen Schmerzen im Bauchbereich mehrere ärztliche Untersuchungen über sich ergehen lassen. Die Diagnose ist nicht lebensbedrohend, aber doch so folgenreich für die junge Frau, dass ihr Liebesleben und ihr gesellschaftliches Leben davon nicht unberührt bleiben. Es ergeben sich weitere Konflikte, die sie aus der bisherigen Lebensbahn zu werfen drohen: Nicks Eingeständnis, dass er wieder mit seiner Frau schlafe, Probleme mit ihrer Freundin Bobbi. Diese erkennt in dem, was Frances’ Kurzgeschichte erzählt, ihre eigene Beziehung zur Autorin wieder. Sie ist betroffen, fühlt sich „benutzt“ und entfernt sich aus deren Leben. Frances ist von all dem aufgewühlt. Sie ist gezwungen, alte Entscheidungen zu überdenken und neue zu treffen.

Der Schlussteil des Romans, der hier nur angedeutet werden soll, weil er Überraschungen für den Leser bereit hält, führt Bobbi, Nick und Frances noch einmal in einer (melo)dramatischen Handlung zusammen. Nichts ist wirklich gelöst, wenn der Roman endet. Es ist ein eher offener Schluss. Der Leser bleibt – offensichtlich eine erwünschte Wirkung – mit Fragen zurück. Frances scheint für den Moment glücklich zu sein. Ob das Glück von Dauer ist, wird zu Recht in der Schwebe gehalten.

Der Titel Gespräche mit Freunden, wörtlich aus dem Englischen übersetzt, trifft das, wovon der Roman handelt, recht genau. In der Tat entwickelt sich die Handlung an vielen Stellen des Buchs über Gespräche. Rooney zeigt eine Generation von Frauen und Männern, deren Beziehungen von ihren Gesprächen über Liebe und Sex bestimmt und dadurch auch gestützt werden, obwohl es, wie oben angedeutet, oft Gespräche sind, die mehr verschleiern und verbergen als offenlegen und klären. Die Figuren wollen in den Gesprächen ihre Liebe finden und „festhalten“. Sie hoffen, in den „conversations with friends“ Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu spüren, die sie sicherer machen und für einige Zeit wenigstens Zeit „tragen“.

In den Gesprächen „leben“ die Figuren. Sonst bleiben sie in manchem auffällig konturenlos. Politische Haltungen werden benannt, auch beschworen, Studienprojekte beschrieben, Karrieren als Schriftstellerin in Aussicht gestellt, soziale Unterschiede angedeutet, aber wirkliche Einblicke in ihr privates und gesellschaftliches Leben erlangt der Leser nur in Andeutungen. Die Figuren sind – das gilt vor allem für die ersten beiden Drittel des Romans – Suchende nach Liebe und Freundschaft; alles andere scheint für sie von geringerer Bedeutung zu sein.

In manchen Szenen allerdings gelingt Sally Rooney eine sehr lebendige Schilderung ihrer Hauptpersonen. Frances’ Verhältnis zu Bobbi mit all seinen Missverständnissen und seelischen Verletzungen bleibt von Anfang bis zum Ende spannungsgeladen. Und dann gibt es eine Szene mit Frances und ihrem Vater, die die Ernsthaftigkeit und Hilfsbereitschaft der jungen Frau zeigt. Ihr Vater lebt von der Familie getrennt, scheint Alkoholiker zu sein und wohnt alleine in einem unaufgeräumten Apartment. Frances besucht ihn einige Male und will ihn auch immer wieder, meist vergeblich, über E-Mails erreichen. Bei einem ihrer Besuche fängt sie an, die Wohnung aufzuräumen und das schmutzige Geschirr abzuwaschen. Es ist eine fast wortlose Begegnung, gerade das macht sie zu einer besonders eindringlichen Szene. Die Tochter zeigt ihre Zuneigung zu ihrem Vater ganz ohne Worte.

Die irische Autorin Sally Rooney, 1991 geboren, legt mit diesem Roman-Debüt, das im englischsprachigen Raum große Beachtung gefunden hat, ein Buch vor, das die Beziehungen zwischen 20- und 30-Jjährigen recht spannend, obgleich nicht immer klischeefrei, beschreibt und die Handlung in einer Sprache präsentiert, die durchaus fesselt und zum Weiterlesen drängt. Daran hat in der deutschsprachigen Ausgabe auch die Übersetzerin des Romans, Zoë Beck, einen großen Anteil. Sally Rooney wird mit ihrem Roman auch in Deutschland, das darf man prophezeien, viele Leserinnen und Leser gewinnen. Und die Verfilmung des Buchs wird, auch das darf vermutet werden, nicht lange auf sich warten lassen.

Titelbild

Sally Rooney: Gespräche mit Freunden. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Zoë Beck.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
382 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875415

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