Das unergründliche Lächeln der „Neuen Salome“

In seinem 100. Todesjahr wird Max Klinger im europäischen Kontext in einer großen Einzelausstellung mit Begleitkatalog gedacht

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der in Leipzig geborene Bildhauer, Maler und Grafiker Max Klinger gehört zu den wichtigsten Künstlern in Deutschland zwischen Gründerzeit und Erstem Weltkrieg. In seinem 100 Todesjahr zeigen das Museum für Bildende Künste in Leipzig (bis 16. August), das weltweit die größte Klinger-Sammlung besitzt, und die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (16. Oktober 2020 bis 31. Januar 2021) den Künstler in einem europäischen Kontext. Denn dieser ist vor allem durch seine Reisen und mehrjährigen Aufenthalte in Paris, Wien und Rom künstlerisch geprägt worden. In Adolph Menzel sah der junge Klinger sein Vorbild, 1887 lernte er den Schweizer Künstler Arnold Böcklin kennen, in Paris wurde er von dem symbolistischen Maler Pierre Puvis de Chavannes beeinflusst und 1900 traf er mit Auguste Rodin in dessen Pariser Atelier zusammen. So wie Klinger Antike und Christentum einer neuen Bewertung unterzog, hat er auch aus der zeitgenössischen Kunst das aufgenommen, was ihm für seine zentralen Themen Mythos, Träume, Sehnsucht, Leidenschaft, Geschlechterkampf, Liebe, Erotik und Tod, die er nicht selten auch selbstironisch behandelte, „verwertbar“ erschien.

Wenn man den ersten großen Raum – den „Klinger-Saal“ – im Leipziger Museum der Bildenden Künste betritt, ist man sofort in den Bann gezogen: In der Mitte das monumentale Beethoven-Denkmal (1902), in dem Klinger das Experiment einer farbigen Plastik radikal durchgespielt hat. Beethoven, herausgehoben aus der Welt, wie der Gott-Herrscher Jupiter auf einem Felsenthron sitzend, den Adler zu seinen Füßen – oder wäre doch die Anspielung auf die Gestalt Prometheus eher geeignet, der das Moment des Schöpferischen zum Wohle der Menschheit verkörpert? –, allseits geschmückt mit Bildreliefs, in deren erzählendem Programm die Rolle des Künstlers in der Welt aufgezeigt wird. Eine Apotheose des Künstler-Genies, eine Allegorie des einsamen Denkers. Flankiert wird Klingers Interpretation der Beethovenschen Musik von zwei weiteren Hauptwerken der symbolistischen Bildhauerkunst, den Marmorskulpturen Neue Salome (1893) mit deren unergründlichem Lächeln, Klingers bedeutendster Verkörperung der zerstörerischen Frau, und Kassandra (1895), das Idealbild der geistig hochstehenden Frau.

Zu beiden Seiten die Monumentalgemälde Die Kreuzigung Christi (1890) und Christus im Olymp (1898) mit ihren säkularisierten Bildaussagen. Das Nacktsein des Klingerschen Jesus, sein „Freigeist“ hat seinerzeit einen Skandal hervorgerufen. Aber Klinger bricht auch mit der Tradition, indem er Maria Salome und den Jünger Johannes nicht Christi Mutter, sondern die sinkende Magdalena stützen lässt, die vergeblich ihre Arme zum Gekreuzigten ausstreckt, der weniger als Dulder denn als Sieger erscheint. Weist die demonstrative, frieshafte, figurenreihende Kompositionsform der Kreuzigung Christi schon auf den von Staat und Gesellschaft verfemten Außenseiter, den leidenden „Avantgardisten“ Jesus hin, so zeigt Klingers komplexes, großformatiges Hauptwerk Christus im Olymp (1890-97) einen wunschbildhaft verklärten, siegenden neuen Herrscher. Gefolgt von den vier Kardinaltugenden, Frauen in zeitgenössischer Gewandung, betritt Christus den Olymp, das Ende der versammelten alten Götter ankündigend und nur die Zuwendung Psyches duldend, während links Arme und Elende heraufdrängen und unten im Tartaros die von Zeus gefangenen Giganten ihre Revolte beginnen. Allein Psyche, nach Klingers patriarchalischem Frauenbild die Verkörperung der liebenden und leidenden Frau, scheint hier die Symbiose zwischen heidnischer Sinnenfreude und christlicher Moralvorstellung zu gewährleisten. Haben wir es hier nicht mit einem Umbruch der Epochen, einer Unsicherheit der Verhältnisse zu tun? Mit seiner Triptychon- und Altarform und Oben-Unten-Zweiteilung lässt Klinger Christus als den Großen Einzelnen gegen die bürgerliche „Götterdämmerung“ in einer hellmalerisch vergeistigten Landschaft agieren, mythisch den Konflikträumen der modernen Gesellschaft entrückt. Einer demokratischen Gemeinschaftsbindung und -verantwortung spricht er hier allerdings nicht das Wort.

Die Jahre in Rom (1888-93) stehen dann ganz im Zeichen der Malerei und Bildhauerkunst. Die nackte menschliche Figur steht jetzt im Mittelpunkt seiner Kunst. Im Tanzreigen (1893-98, Bronze auf Onychit-Sockel) inszeniert Klinger ein „Spielwerk“ auf kostbarem Sockel: Drei Figurinen tanzen weniger als bewegen sich geschmeidig oder unsicher um den Liebesgott Amor, der – seiner Funktion überdrüssig – dissonante Töne in sein Horn bläst. 

Klingers Lebens- und Schaffensstationen werden mit Werken derjenigen Künstler verbunden, die ihn fasziniert haben. Das ist für Paris – neben der Auseinandersetzung mit der impressionistischen Malerei – natürlich Auguste Rodin. Klingers Musiker-Denkmäler (Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Johannes Brahms) sind ohne Rodins Schriftsteller-Denkmäler (Victor Hugo, Honoré de Balzac) nicht denkbar. Das Motiv der Inspiration als flüchtiger Moment wird in Rodins Skulptur Der Mensch und sein Genius (1896) durch eine fragmentarische Frauengestalt ausgedrückt. Rodin führte das Fragment als deutungsoffene Form in die Skulptur ein und machte gerade dadurch den Werkprozess sichtbar, der sich zwischen dem noch Unsichtbaren und dem allmählichen Entstehen der Form erstreckt. Mit seinen Darstellungen des menschlichen Körpers erreichte er eine Intensität des Ausdrucks, die schon Entwicklungen der Plastik im 20. Jahrhundert vorwegnimmt.

Die Marmorbüste Elsa Assenijeff – die Schriftstellerin war von 1898 bis etwa 1912 seine Lebensgefährtin –, ergänzt die Halbfiguren der Salome und Kassandra um die Darstellung einer zeitgenössischen Femme fatale. Die Gestalt der Frau tritt dann in Klingers Alterswerk vorwiegend als harmonisierende allegorische Gestalt auf. Die junge Gertrud Bock, die Klinger 1910 kennen gelernt hatte und die kurz vor seinem Tode seine Frau wurde, malte er als Personifikation des Frühlings und in anderer Gestalt. Auch Klingers letzter Grafikzyklus Zelt (1915/16), in dem sexuelle Obsessionen, Tod und Gewalt nunmehr in ein märchenhaft beunruhigendes Gewand gekleidet sind, liegt ihre Gestalt zugrunde.

In einer großen Zahl von Selbstdarstellungen hat sich Max Klinger als Regisseur und Akteur in einer Person dargestellt. Es sind regelrechte Selbstinszenierungen, wie überhaupt Seelenlandschaften und Gefühlstiefenräume gerade in seinen Figurendarstellungen dazu dienen, die Hintergründe ahnen zu lassen und die Tragweite der dargestellten Schicksale symbolisch zu verallgemeinern.

„Klingers große Geste des ‚Gedankenkünstlers‘ schrumpft in der Druckgrafik, dem eigentlichen Medium seiner Modernität zu einer nahsichtigen, fast intimen Perspektive“, schreibt der Leipziger Kunsthistoriker Frank Zöllner. Und in der Tat gelten heute seine Grafikfolgen als seine bedeutendste künstlerische Leistung. Die zyklische Erzählstruktur und ihre drucktechnische Realisierung können in Klingers grafischen Künsten, die er „Griffelkunst“ nannte, studiert werden. Seine grafischen Arbeiten sind Zeugnisse einer außerordentlichen Fantasie und eröffnen eine bedeutungsvolle, häufig rätselhafte und gleichzeitig packend realistische Bildwelt. Deutlich tritt Klinger als der große Meister der grafischen Künste hervor, der im Schwarz-Weiß-Medium die adäquate Möglichkeit sah, viele Fragen des Lebens zu reflektieren. Auch Käthe Kollwitz, deren grafisches Werk am Ende der Ausstellung mit Klinger verglichen werden kann, bewunderte dessen schonungslose Darstellung der zeitgenössischen Realität, aber auch dessen grafische Umsetzung und zog daraus Konsequenzen für ihre eigene Arbeit.

Der reich illustrierte Katalog lädt zum Blättern, Betrachten und Studieren ein. Zwischen Édouard Manet und Edgar Degas, Jean-Léon Gérôme und Rodin sieht Jan Nicolaisen Klinger im Spannungsfeld der französischen Gegenwartskunst. Als Klinger 1883 zu seinem mehrjährigen Aufenthalt nach Paris kam, hatte er sich bereits als Grafiker einen Namen gemacht und suchte nun in der Malerei und Skulptur nach Orientierung. Er entdeckte die Aktmalerei, die zum Leitmotiv seiner Gemälde werden sollte. Der Gedanke des Gesamtkunstwerkes, in dem architektonische, ornamentale, plastische und malerische Aspekte kombiniert werden, prägte sich schon im Kontext seiner französischen „Lehrjahre“ aus. Die Unterschiede zwischen Klinger und Rodin werden herausgearbeitet, aber auch ihr gemeinsames Interesse an der Darstellung des schöpferischen Momentes künstlerischer Inspiration.

Klingers Jahre in Rom (1888-1893) wiederum untersucht Conny Dietrich. Im Mittelpunkt dessen malerischen Schaffens stand zunächst sein zweites Monumentalgemälde Die Kreuzigung Christi, er betrieb Modell- und Lichtstudien, schuf (Stadt-)Landschaften, die malerisch am französischen Impressionismus orientiert sind, aber auch Frauenfiguren als Verkörperung seelischer Zustände. Die Marmor-Ausführung der Neuen Salome entstand in Rom und parallel dazu konzipierte er die Halbfigur Kassandra – mit ihnen begründete er seinen Ruf als Bildhauer.

Dass die Wiener Secession für Klinger ein wichtiger Ausstellungsort war, um seine künstlerischen Ideen für eine moderne Monumentalkunst außerhalb Deutschlands bekannt zu machen, schildert Marcus Andreas Hurttig. Zusammen mit Gustav Klimts monumentalem Beethovenfries bildete Klingers Beethoven den Höhepunkt der XIV. Secessions-Ausstellung von 1902. Deutsch-nationale, konservative Widerstände verhinderten den Ankauf durch die Stadt Wien, stattdessen wurde die Beethoven-Skulptur von Leipzig für das Museum der bildenden Künste erworben. 1903 präsentierte Klinger zur Eröffnung der Galerie für moderne Kunst in Wien das Urteil des Paris und Christus im Olymp, während er 1905 die kurz vorher vollendete Skulptur Das Drama vorstellte.

Den Versuch einer Deutung des letzten, 46 Blatt umfassenden Grafikzyklus Zelt unternimmt Jeannette Stoschek. Sexualität, Tod, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Traumhaft-Groteskes sind wie in Klingers vorherigen Zyklen zentrale Themen. Auch seine Beziehungen zu Gertrud Bock und Elsa Asenijeff könnten ihn zu dieser Folge angeregt haben. Die Verfasserin rät: „An der Wand, gleichsam filmisch abzuschreiten, erschließt sich das Werk erst in all seinen Facetten, seinem grafischen Reichtum und seiner neuen Erzählweise.“ Auf kongeniale Künstlerpaare und -netzwerke machen Friederike Berger und Sithara Weeratunga aufmerksam und betten Klinger in sein internationales Bezugsfeld ein, im Austausch mit Rodin, Klimt und Kollwitz.

Mit dem Verhältnis von Bild und Musik in Klingers theoretischem und praktischem Schaffen beschäftigt sich Max Pommer, während Conny Dietrich Klingers Athletenfiguren im Kontext der frühen Bodybuilding-Bewegung nachspürt. Eine dokumentarische Bestandsaufnahme zum Verhältnis Käthe Kollwitz und Max Klinger gibt Susanne Petri. Die technische Perfektion und die „innere Wahrhaftigkeit“ habe die Kollwitz an Klinger geschätzt, doch dann ist die Auseinandersetzung mit dem Werk Ernst Barlachs bestimmend für sie geworden. Klingers geplanter Ausmalung des Treppenhauses im Museum der bildenden Künste in Leipzig widmet sich abschließend Conny Dietrich. Als allegorisches Bildprogramm hatte Klinger vorgegeben: Die Passion des modernen Menschen.

Die Wirkung des Klingerschen Werkes auf die nachfolgenden Jüngeren war eigentlich gering geblieben. Sein Festhalten am Naturvorbild ließ ihn nach seinem Tod bald in Vergessenheit geraten. Wenn in der heutigen Kunst gegenständliche Malerei und figürliche Plastik eine neue Renaissance erleben, so wäre es an der Zeit, zurück auf die Wurzeln zu blicken, die auch Max Klinger wesentlich mitgeprägt hat.

Titelbild

Alfred Weidinger (Hg.): Klinger.
Hirmer Verlag, München 2020.
312 Seiten , 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783777435336

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