Die kostbare Anstrengung des Denkens
Dietmar Daths „Hegel. 100 Seiten“ lädt zum Philosophieren ein
Von Thorsten Paprotny
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchriften aus der Zeit des Deutschen Idealismus bilden auf gewisse Weise das geistige Hochgebirge der Philosophie. Von intellektuellen Erschöpfungszuständen geplagt, weichen zuweilen eine durchaus philosophisch aufgeschlossene Leserschaft in die Sphären von scharfzüngigen französischen Aphoristikern aus oder in den bunt illuminierten Kosmos der Betrachtungen von Arthur Schopenhauer. Die Werke von Georg Wilhelm Friedrich Hegel nötigen Respekt ab und verlangen eine sorgsame Lektüre, mit Ausdauer, Geduld und Beharrlichkeit.
Der Publizist Dietmar Dath geht ein besonderes Wagnis sehr eigener Art ein, wenn er mit einer knappen, essayistisch orientierten Studie eine sehr, sehr kurze Einführung über Hegel vorlegt. Gleich zu Beginn erläutert sein Vorhaben, das offensichtlich schon vor der Publikation für Wirbel unter Hegelianern sorgte: Hegel auf 100 Seiten? Unmöglich – oder vielleicht doch nicht? Dath schreibt zu Beginn launig und frech, dass er auf philologische Strenge verzichte, ebenso auf „sterile Pedanterie“. Auch beabsichtigt er nicht, „akademische Spickzettel“ für Prüfungen zu liefern. Das Buch soll eine „Anregung zum Blick durch Hegels Begriffsapparat“ sein – das stimmt. Aber zugleich ist es, ganz klassisch, ein philosophischer Bericht über den Mann, seine Zeit und seine Werke, über Aspekte der Rezeption, immer wieder versehen mit spielerisch eingefügten Betrachtungsweisen aus dem Repertoire der feuilletonistischen Unterhaltungskunst. Darf gewitzt über einen Philosophen wie Hegel geschrieben werden? „Wenn eine Deuterin oder ein Deuter Hegel klarer macht, muss diese Klarheit nicht zwingend richtiger sein als die Unklarheit vorher war. Die einzige simple Regel für Hegel ist: Es gibt keine simple Regel für Hegel.“ Vielleicht aber fragt sich mancher bei solchen scharfsinnigen Wendungen, ob die Lektüre dieses schmalen Bandes dem Verständnis von Hegel dienlich ist – oder die Konfusion über den Philosophen und die Philosophie überhaupt graduell vermehren könnte.
Dath gibt sodann Einblicke in die eigene Hegel-Lektüre, durchaus hilfreich für jene, die lesend zu stöhnen beginnen und schnell aufhören, diese Wege des Denkens nachzuvollziehen. Mancher Opponent empört sich auch heute noch über die „Schachtelsätze“. Insbesondere jene äußern dies, die selbst sich nicht unbedingt kunstvoll schriftlich mitteilen: „Wer mies schreibt, liest vielleicht auch nicht besonders gut.“ Also lobt Dath Hegel und kritisiert dessen Kritiker, gestern und heute: „Wo die Satzspannung das Energieniveau der Gedankenarbeit hält, statt sie wie bei dumpfen Aufzählungen, Ketten und Reihen erschlaffen und in sich zusammensinken zu lassen, gibt es mehr zu loben und zu lernen als zu bemängeln.“
Hegel zu lesen, erfordert Zeit, Aufwand und Muße, Genauigkeit und Sorgfalt, vielleicht auch Gelassenheit und nicht das – durchaus dem Philosophen nicht unbekannte – unglückliche, gelegentlich wütende Bewusstsein. Also entschließt sich Dath, von persönlichen Leseerlebnissen zu berichten. Er schreibt emphatisch: „Hegel wirkte zwar auch im Hörsaal, aber er schrieb und dachte fürs Universum, nicht für die Zwischenprüfung. […] Vielleicht wird man ihn erst in einer Zeit wahrhaft produktiv machen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können.“ Lässt sich ein Philosoph produktiv machen, tauglich und nützlich? Dass die historisch-kritische Reflexion und Rezeption der Philosophie Hegels noch andauern wird, ist unbestritten. Weithin anerkannt ist sein Rang als Denker. Doch so weitreichend und tiefgründig seine Einsichten sein mögen, so weitet sich das Denken des Absoluten, für das Hegel steht, nicht ins Universum. Auch taugt der preußische Denker nicht als Monument.
Prägnant zeigt der Autor, dass Hegel oft als Apologet des Bestehenden missverstanden wird. Er verbannt gewissermaßen das Widervernünftige ins Nichts. Die illustrative Bezugnahme auf das US-amerikanische System der Präsidentenwahlen und der Hinweis auf Boris Johnsons Erfolg, der beiläufig dann mit der Wendung „altenglischer Wahlregelquatsch“ bedacht wird, mögen für politisch Interessierte bemerkenswert sein, zur Klärung der Philosophie Hegels dienen diese ambitionierten Exkurse in die Gegenwart aber mitnichten. Auch die Analogsetzung zu anderen Philosophen überzeugt nicht: „Philosophische Weltsysteme hatten in der Antike und im Mittelalter bereits Leute wie Platon, Aristoteles und der Kirchenlehrer Thomas von Aquin errichtet.“ Aristoteles schrieb explizit für die Polis, also für den Stadtstaat Athen. Er dachte nicht so groß, weit- und weltläufig, und er hätte möglicherweise – ebenso wie Platon – seinen Werken keine absolute Gültigkeit zuerkannt. Bemerkenswert indessen erscheinen Daths Gedanken zu Hegels Logik, die er treffend von der mathematischen Logik unterscheidet. Anschaulich wird dies durch ein zusammenfassendes Zitat: „»Manchmal, gerade bei besonders guten Fragen, kommt keine Antwort heraus, wenn man sich die Frage genau anschaut, nur, aber immerhin, eine bessere Frage.«“ Das ist einfach treffend gesagt.
Mitnichten sei zudem Hegel ein „reaktionärer Rechtfertigungsredner der preußischen Macht“ gewesen. Die „autoritäre Form von Hegels politischen Äußerungen“ bestehe zwar, aber der „soziale Inhalt“ dieser Gedanken solle nicht „mutwillig ignoriert“ werden. Dath wagt sodann eine Reihung, die sicherlich ebenso bedenkenswert wie provozierend ist: War Hegel bedeutender als Kant?
So steht seine Philosophie als eine Denkart, die mehr will als das Überkommene zu kritisieren, in genau dem Ausmaß in Kraft und Komplexität höher als diejenige Kants, in dem auch die literarischen Zeugnisse der deutschen Klassik, vor allem Goethes Werk also, nach demselben Maß über dem Schaffen Christoph Martin Wielands oder Gotthold Ephraim Lessings stehen.
Darüber könnte diskutiert werden. Der Autor greift noch einmal auf das „Universum“ zurück, wenn er darlegt, dass ein „erwachtes Universum“ das Ziel von Hegels Philosophie gewesen sei. Solange aber irgendein „vereinzeltes Bewusstsein denkt, dass es nicht alles weiß“ – und das nimmt Dietmar Dath begründet an –, könne dieser Zustand nicht erreicht sein. Über Hegels Bedeutung schreibt er: „Wer ihn nicht weiterdenkt, versteht ihn nicht. Sein historisches Bild vom Geist beruhigt sich bei keinem unangreifbaren Anfang und keinem garantierten Schluss, er ist die Spannung zwischen beiden.“
In diesem schmalen Buch werden Denkbewegungen mit Hegel aufgezeigt, die für Unkundige herausfordernd, für philosophisch Wissende inspirierend, aber auch bisweilen eigensinnig erscheinen, und Neugierige ermutigen, Neuland für sich zu entdecken. Leidenschaft für die Philosophie mag Daths Buch wecken, besonders wahrscheinlich bei denjenigen, die sich das Hochgebirge des Deutschen Idealismus staunend anschauen möchten. Wer philosophische Bergwanderungen nicht scheut, mag sich mit intellektueller Freude selbst mit Hegels Schrifttum vertraut machen. Die Lust am Denken weckt dieser manchmal pointiert, mitunter flott verfasste Band ganz gewiss.
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