Auf dem Weg zum unerreichbaren Berg

Endlich erscheint eine neue Ausgabe von René Daumals „Le Mont Analogue“

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert, wenn alle Berge bestiegen und beschrieben wurden? Wenn der Sinai, der Nebo, der Olymp und sogar der Everest zu „Kuhweiden“ geworden sind? Wenn die Berge, ursprünglich Bindeglied zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Menschen und dem Göttlichen, ihre „Analogiekraft“ verloren haben?

Dann bleibt nur die Gewissheit, dass es irgendwo einen Berg geben muss, dessen Gipfel zwar unerreichbar, dessen Fuß aber zugänglich ist. Das ist der Mont Analogue, der Berg Analog, der in Daumals „nicht-euklidischem, im symbolischen Verstand authentischem alpinistischem Abenteuerroman“ – wie es im Untertitel heißt – zum Ziel einer kleinen Gruppe von Alpinisten wird. Sie richten sich nach einer langen Schiffsreise am Fuß des Analog, in dem Ort Port-des-Singes, was so viel wie „Hafen der Affen“ bedeutet, ein. In dieser Kolonie, in der sich viele am Berg Analog gescheiterte Alpinisten niedergelassen haben, regieren die Bergführer und die Bergregion wird zu einer Art „heiligem“ Territorium, wo das Töten von Tieren mit einer Strafe, nämlich einem Zutrittsverbot der höheren Ebenen, verbunden ist.

Ob dieser Berg tatsächlich unerreichbar ist, erfährt man allerdings nicht, denn René Daumal, Alpinist, Gründer der Literaturzeitschrift Le Grand Jeu, Anhänger des Esoterikers Georges I. Gurdjieff und Sympathisant der von Alfred Jarry etablierten Pataphysik, hat seinen Roman nie beendet. Daumal, der bereits als Schüler mit Drogen experimentierte und Grenzerfahrung durch Selbstvergiftung mittels Tetrachlormethan suchte, starb 1944 mit nur 36 Jahren nach einer langjährigen Tuberkuloseerkrankung und hinterließ ein Manuskript, das im fünften Kapitel abbricht. Le Mont Analogue erschien 1952 posthum und wurde 1964 von Albrecht Fabri ins Deutsche übersetzt. Diese Ausgabe war allerdings lange Zeit vergriffen. Nun hat der Berliner Verlag zero sharp eine neue Übersetzung herausgegeben. Neben Daumals Skizzen zu den unvollendeten Kapiteln versammelt der Band auch weitere kurze Texte, die im Zusammenhang mit dem Berg Analog stehen. 

„Je ruheloser, ungewisser, gegensatzreicher das moderne Dasein wird, desto leidenschaftlicher verlangt uns nach Höhen, die jenseits unseres Guten und Bösen stehen, zu denen wir aufsehen, die wir sonst das Emporblicken verlernt haben.“ Georg Simmels Beobachtung nimmt einen zentralen Gedanken von Daumals symbolischem Projekt vorweg, denn in seinem Roman-Fragment schwingt unüberhörbar eine Kritik an der Moderne, ihrer Lebensmittelindustrie und Technisierung mit. Den Alpinisten scheint vor allem der Wunsch, sich (wieder) zu finden auf den Berg zu ziehen: „Wenn ich, nach zehn oder elf, mit der Verbesserung von Staubsaugern und synthetischen Parfums zugebrachten Monaten, nach einer nächtlichen Zugfahrt und einem Tag im Bus mit noch von der Stadt vergifteten Muskeln die ersten Schneefelder erreichte, passierte es mir manchmal, dass ich wie ein Idiot weinte: der Kopf war leer, die Glieder trunken, das Herz weitete sich.“ erklärt Pierre Sogol, der zum Leiter der Expedition zum Berg Analog wird. Die Kolonie um den Analog herum schützt ihre Bewohner vor den „verderblichen Einflüssen der entarteten Kulturen, die alle Erdteile bedecken“. Bestätigt sich hier also die bereits von Albrecht von Haller etablierte Funktion des Gebirges als Ort der Kompensation, so trotzt der unerreichbare Berg Analog Technisierung und Modernisierung: Er wird zum Garant eines archaischen Zustands und bestätigt sich als ewiges einzigartiges Bindeglied zwischen Himmel und Erde. 

Der Mont Analogue ist ein Fragment und trotzdem zählt er zu den Schlüsseltexten des literarischen Alpinismus. Nicht nur Alejandro Jodorowsky hat er zu seinem Kultfilm The Holy Mountain inspiriert, sondern zuletzt auch die belgische Künstlerin Virginie Bailly oder die englische Künstlerin Tacita Dean. Daumals Remythisierung des archaischen Alpinen erinnert an Charles-Ferdinand Ramuz’ Bergapokalypsen, seine Abhandlungen zum Alpinismus und die Versuche, diesen zu definieren, an Ludwig Hohls Notizen. Und wie Hohl verbildlicht Daumal die Probleme des Schreibens in Form eines Wegs durch das Gebirge. So schreibt er kurz vor seinem Tod: „Le Mont-Analogue n’est pas fini, mais en bonne voie; le plus dur est fait – car il y a eu un passage très difficile, avec rimaie intérieure à sauter, verglas et gendarmes. Mais enfin, c’était assez avancé pour qu’aujourd’hui j’aie déjà dépensé une partie appréciable de mes droits d’auteur; j’espère le publier vers le printemps.“ Die Mühen des Schriftstellers entsprechen also denen des Bergsteigers. Damit spiegelt der unabgeschlossene Roman eigentlich das Prinzip des Berg Analog wider: Eine Beendigung – ob Bergbesteigung oder Roman– bleibt schlicht unmöglich.

Le Mont Analogue ist ein Klassiker und für die neue Ausgabe wurde es höchste Zeit. Nun ist ein spezielles Buch daraus geworden, das Daumals Kunstwerk mit künstlerischen Beiträgen der Herausgeber verbindet: Zeichnungen von Anton Stuckardt und Andrea di Serego Alighieri wurden dem Text, der übrigens auch aus dem Originaltext übernommene Zeichnungen von Daumal enthält, zugefügt, hinzu kommt eine Typographie, der – so heißt es in einer „Notiz zur Typographie“ am Ende – „eine modifizierte Form von Meta-Font [einer von Donald E. Knuth entwickelten Programmiersprache, die Buchstaben als geometrische Berechnungen zwischen Punkten generiert, anstatt sie als Kurven, Konturen zu zeichnen] zugrunde“ liegt. Als unwissender Leser mag man den Eindruck haben, da sei etwas beim Drucken missglückt, doch vielleicht sollte man das als Aufforderung verstehen, erst einen Blick auf das „Gesamtkunstwerk“ (Daumal + Herausgeber) zu werfen, bevor man mit der eigentlichen Lektüre des Mont Analogue beginnt. 

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

René Daumal: Der Berg Analog. Ein nicht-euklidischer, im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteurroman.
zero sharp, Berlin 2017.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783945421055

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