Nebel im Traumlabyrinth

Eine neue Übersetzung macht Gérard de Nervals phantastischen Klassiker „Aurélia“ wieder greifbar

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 3. Januar 1830 äußerte sich Johann Wolfgang Goethe gegenüber seinem treuen Adlatus Johann Peter Eckermann über den ersten Teil seiner Faust-Tragödie, den er in deutscher Sprache nicht mehr lesen mochte, der ihm auf Französisch aber „wieder durchaus frisch, neu und geistreich“ erschien. Ein junger Franzose namens Gérard Labrunie (1808–1855), der als Gérard de Nerval in die Literaturgeschichte einging, hatte 1827 die Übersetzung besorgt, die Goethe zu einer der berühmtesten Äußerungen über sein poetisches Hauptwerk animierte. Faust sei „doch ganz etwas Inkommensurables, und alle Versuche, ihn dem Verstand näher zu bringen, sind vergeblich“. Zu bedenken sei zudem, dass der erste, nun von Labrunie/Nerval übersetzte Teil, „aus einem etwas dunkelen Zustand des Individuums hervorgegangen“ sei: „Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen“.

Ohne es zu ahnen, hat der betagte Dichterfürst damit auch die dichterische Produktion seines jugendlichen Übersetzers charakterisiert. Insbesondere Nervals letzter, posthum veröffentlichter Erzähltext Aurélia (1855) ist aus einem solchen „dunkelen Zustand“ hervorgegangen – und das ist fast schon ein Euphemismus. Der Text ist eine eindrückliche Auseinandersetzung mit Nervals psychischer Krankheit, die schließlich, kurz vor der Publikation, zu seinem Selbstmord geführt haben dürfte. Dass aber „dieses Dunkel“ zu einer unaufhörlichen Bemühung reizt, lässt sich an Nervals Dichtungen mustergültig beobachten. Doch so angetan Goethe von den Übersetzungskünsten Nervals war: Es ist zu vermuten, dass er dessen Poetik weniger geschätzt hätte.

Zumindest im deutschen Sprachraum ist Gérard de Nerval, wie sich Labrunie ab 1831 nennen sollte, mittlerweile einer der unbekannteren Klassiker der französischen Literatur. Dabei ist sein Œuvre eines der schillerndsten und wirkmächtigsten des 19. Jahrhunderts, nimmt es doch Schreibweisen vorweg, die erst deutlich später, namentlich im Surrealismus, reüssierten. Wie kaum ein anderer Autor steht Nerval mithin für die Verbindung von Romantik und literarischer Moderne. Seine Erzählungen avancierten nachgerade zu Kulttexten der Literaturtheorie – Umberto Eco beispielsweise wurde nicht müde, die Novelle Sylvie. Souvenirs du Valois (1853) zu preisen und wieder und wieder zu analysieren (Niederschlag fand diese Obsession in seinem Buch Im Wald der Fiktionen oder dem Aufsatz Die Nebel des Valois). Wie an kaum einem zweiten Text der Weltliteratur lassen sich hier die – von Eco so bezeichneten – „Nebel-Effekte“ studieren. Ein beständiger Wechsel von Vor- und Rückblendungen oder gar ineinander geschachtelte Rückblenden (die zwar deutlich markiert sind, deren Status aber programmatisch unsicher bleibt) lassen den Leser daran zweifeln, auf welcher Zeitebene er sich gerade befindet. So entstehe laut Eco im Leser der Eindruck, er betrachte „eine Landschaft mit halb geschlossenen Augen, so daß die Konturen ein bißchen verschwimmen“. Eco war auch nach einer nahezu lebenslangen intensiven Beschäftigung mit diesem kurzen Erzähltext noch fasziniert von der raffinierten narrativen Strategie, die zu „einer scheinbaren Ungewißheit über Zeiten und Orte [führt], die den Zauber dieser Erzählung ausmacht“. Nicht umsonst muss Nerval seinen Erzähler darüber nachdenken lassen, „den Fuß wieder auf festes Land“ zu setzen und „aus der Welt der Träume“ zu flüchten.

Gänzlich unmöglich geworden ist eine solche Flucht in Nervals letzter Erzählung, die ebenfalls von einem allumfassenden „Nebel“ gekennzeichnet ist. Aurélia ou le rêve de la vie liegt nun, von Ernst W. Junker im Rahmen der von Thomas Ballhausen herausgegebenen Reihe „Bibliothek der Nacht“ neu übersetzt, unter dem etwas abweichenden Titel Aurelia oder Der Traum und das Leben (wieso eigentlich ohne Accent?) wieder in deutscher Sprache vor. Galt Marcel Proust bereits Sylvie als „Traum eines Traums“, muss diese Beobachtung für Aurélia noch einmal potenziert oder doch zumindest modifiziert werden: Dieser Text ist gleichsam der Traum eines Lebens als Traum, ein Traum freilich, in dem zahlreiche Nachtmahre heimisch sind.

Ist Sylvie von einem „Labyrinth der Zeiten“ (Eco) geprägt, so Aurélia von einem Labyrinth der Träume. „Der Traum ist ein zweites Leben. Jene Pforten aus Elfenbein oder Horn, die uns von der unsichtbaren Welt trennen, habe ich nicht ohne Schaudern durchqueren können“ – so beginnt der Erzähler seinen Bericht, der uns auf eine unsichere Reise durch Grenzregionen führt. Der überall den Blick verschleiernde „Nebel“ scheint hier einer Opiumpfeife zu entspringen. Der Text oszilliert zwischen Traumvision und Wirklichkeit, Leben und Tod, Vernunft und Wahnsinn, greifbarer und unsichtbarer Welt. Raum und Zeit werden zwischenzeitlich ebenso aufgelöst wie Individualität und Handlungsstrukturen. Die pulsierende, nonlineare Folge von Visionen, Erinnerungsbildern und Seelenzergliederungen, weit mehr Psychogramm als Narration, liest sich wie das ästhetisch überformte Protokoll eines aus den Fugen geratenen Drogenrauschs. Welchen ontologischen Status das Erzählte jeweils hat – Traum, von psychischer Krankheit hervorgerufene Halluzination, Erinnerung, innerhalb der Diegese tatsächlich stattfindende Begebenheit – ist kaum zu bestimmen.

In eine Schauspielerin namens Aurélie ist der – hier wie dort immer wieder autobiografisch verstandene – Erzähler schon in Sylvie verliebt. Ob diese Schauspielerin mit der Titelfigur von Aurélia (die nur als Erinnerung in Erscheinung tritt) als identisch zu sehen ist, ob sie an sie erinnern soll oder ob es sich um ein Täuschungsspiel mit Signifikanten handelt, kann bereits als erster Nebeleffekt des Textes verstanden werden. Sicher ist, dass es der Verlust einer Geliebten dieses Namens ist, der den Schreibakt veranlasst. Doch nicht um eine chronologisch nachvollziehbare Aufarbeitung dieser Liebesbeziehung bis hin zum Tod der Geliebten ist es dem Erzähler zu tun, sondern um eine – die surrealistische Technik der écriture automatique präfigurierende – freie Assoziationskette (die freilich narrativ konstruiert ist und einer poetischen Strategie folgt). Der Erzähler ist gleichsam beständig auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit Aurelia, erkundet dabei die Abgründe seines eigenen Ichs und vollzieht eine invertierte Unterwelts- und Höllenfahrt in die eigene Seele. Die dabei erlangten Einsichten, die dem rein verstandesgeleiteten Menschen nicht zugänglich sind, kennzeichnen den Erzähler als Romantiker, der allerdings die poetologischen Prinzipien dieser Epoche so radikal wie kaum ein anderer ausreizt und in die Moderne führt. Charles Baudelaire, Marcel Proust oder André Breton sollten seinem Beispiel auf unterschiedlichen Wegen folgen.

Zugegeben: Die Radikalität und Innovationskraft des Textes haben sich nach mehr als eineinhalb Jahrhunderten etwas abgenutzt. Zudem ist es eine Frage des Geschmacks, ob das stetige Wandeln in Traumlabyrinthen und mystischen Visionen über die volle Distanz zu fesseln vermag. Es finden sich im überbordenden Wust von Bildern aber immer wieder brillante Reflexionen, die nachgerade Musterbeispiele für eine phantastische, alles im Ungewissen belassende Schreibweise sind: „Allerdings hing mein anscheinend sinnloses Verhalten von dem ab, was man nach menschlicher Vernunft Illusion nennt…“. Der strukturalistische Literaturtheoretiker Tzvetan Todorov rühmte diese Passage in seinem Standardwerk Einführung in die fantastische Literatur (1970) als einen „bewundernswürdigen Satz“, da sich Hinweise auf das Natürliche und auf das Übernatürliche überlagern; ebenso bleibt unklar, ob noch die erzählende Figur so denkt oder nur das Ich von einst. Es ist bedauerlich, dass die der vorliegenden Edition beigegebenen Anmerkungen die Subtilität des Textcharakters verkennen und zuweilen dort autobiografische Eindeutigkeit herzustellen suchen, wo programmaische Unklarheit angelegt ist. Die (im Original, nebenbei bemerkt, nicht vorhandene) Gattungsbezeichnung „Roman“ wird geradezu konterkariert, da der Text in den Anmerkungen nicht als Produkt der Fiktionalität, sondern faktual gelesen wird.

Aurélia, so charakterisierte Théophile Gautier diese ungreifbare, stets entgleitende Erzählung, „zeigt den Geist kalt am Kopfkissen des heißen Fiebers sitzen; die Halluzination analysiert sich selbst in höchstem philosophischem Aufschwung“. Es ist sehr zu begrüßen, dass das hypnotisch-analytische Vermächtnis dieses vielleicht unglückseligsten Klassikers des 19. Jahrhunderts nun wieder in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde und von all denen studiert werden kann, die sich für literarische Phantastik, für den Zusammenhang von Literatur und Wahnsinn oder für die Entstehung narrativen Nebels interessieren. Über ein sehr geschätztes Drama des von ihm bewunderten Lord Byron schrieb Goethe, „daß uns die düstere Gluth einer gränzenlosen reichen Verzweiflung am Ende lästig wird“. Nicht auszudenken, was er über Nervals Aurélia geäußert hätte.

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Gérard de Nerval: Aurelia oder Der Traum und das Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Ernst W. Junker.
Edition Atelier, Wien 2016.
125 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783903005228

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