Meistergesänge

Uta Dehnert über Freiheit, Ordnung und Gemeinwohl im Meisterlied von Hans Sachs

Von Laura SchönwiesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Schönwies

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Meistergesang des Hans Sachs ist eine historische Größe, die kulturelle und religiöse Transformationsprozesse rezipiert und verarbeitet. Er ist eine literarisch durchdachte Komposition, die auf religiösem Wissen basiert. So definiert Uta Dehnert die populäre Gattung der Frühen Neuzeit in ihrer Tübinger Dissertation Freiheit, Ordnung und Gemeinwohl. Reformatorische Einflüsse im Meisterlied von Hans Sachs, deren Titel die beobachteten Leitideen zusammenfasst.

Dehnert wählt den Meistergesang als Untersuchungsgegenstand ihrer Arbeit aus, um den Transfer und die Transformation religiösen Wissens, im speziellen reformatorischer Leitgedanken Martin Luthers, unter Laien nachzuvollziehen. Ganz im Zeichen des lutherischen Paradigmas vom „Priestertum aller Gläubigen“ betrachtet Dehnert die Nürnberger Handwerker, ihren Zusammenschluss in Singschulen, ihre Anschlusskommunikation an theologische Diskurse durch Meisterlieder sowie ihre Kommunikation untereinander. Sachs steht als Fallbeispiel im Fokus der Arbeit. Die Meisterlieder sind also nicht selbstständig von Interesse, sondern sie dienen als Untersuchungsinstrument: „Meisterlieder sind mithin das ideale Medium für die Auswertung der Frage, wie Laien als Zeitgenossen der Reformation sich mit deren theologischen Kerninhalten auseinandergesetzt und inwieweit sie diese tatsächlich verstanden haben“, schreibt Dehnert zum Abschluss ihrer Einleitung und legt damit einen thematischen Schwerpunkt auf den Prozess des Verstehens religiösen Wissens durch Laien. Dieser lasse sich anhand der dichterischen Verarbeitung festmachen.

Um ihr ausgewähltes Medium gänzlich zu erfassen, wählt Dehnert einen interdisziplinären Ansatz, der in der Forschung bislang nicht beachtet wurde. Sie hält fest, dass diejenigen Disziplinen, die sich mit den Meisterliedern beschäftigen, ihnen nicht gerecht würden. Die Germanistik fokussiert im Umgang mit ihnen lediglich die Literatur- und Gattungsgeschichte sowie die Erschließung von Autorenkorpora. Die Geschichtswissenschaft verknüpft sie nur oberflächlich mit historischen Ereignissen und die Theologie müsste sich mehr mit dem religiösen Wissen innerhalb des Liedkorpus beschäftigen. Man solle vielmehr interdisziplinär denken, um den Gegenstand und speziell ihre gewählte Thematik gänzlich zu erfassen. Folglich lässt die vorgelegte Arbeit ein „Netzwerk entstehen, das sich durch Interdisziplinarität auszeichnet und ebendort ansetzt, wo Vorgängeruntersuchungen enden“. Denn: „Literatur kann nicht ohne Berücksichtigung ihres Kontextes analysiert werden“. Daher siedelt die Verfasserin diese Arbeit im Schnittpunkt von Theologie, Germanistik und Geschichte an.

Wenn nun die schillernde Gattung des Meistergesangs Gegenstand einer Arbeit ist, so eignet sich Dehnert zufolge niemand besser als der Schuster Hans Sachs zur interdisziplinären Analyse. Nicht nur weil Sachs selbst über 4000 Meisterlieder verfasste, sondern weil er die verschiedenen Disziplinen, die Dehnert zum Erfassen des gewählten Textkorpus heranzieht, in seiner Person und in seinem Werk vereinige. Sachs könne demnach als eine Exempel-Figur verstanden werden, um die Verbindung von Laientum und Geistlichkeit, von Bürgertum und Reformation, darzustellen. „In seiner Person kulminieren verschiedene Aspekte“, konstatiert Dehnert. „Er ist Handwerker, damit Laie und Dichter. Als Laie nimmt er reformatorische Leitgedanken in sich auf und gibt sie weiter. Damit nimmt er Teil an der reformatorischen Kommunikation. Er gestaltet den Prozess der Popularisierung aktiv mit, er kleidet reformatorische Ideen in Dichtung und trägt sie so weiter, macht sie anschaulich und verbindet mit ihnen praktische Lehren für den Alltag“.

Die Fokussierung auf Hans Sachs wird des Weiteren dadurch begründet, dass sein Leben und Wirken in Nürnberg stattfand – einer Stadt, die zu seiner Zeit bereits den reformatorischen und humanistischen Geist atmete und die als „Außenstelle Luthers und Wittenbergs“ bezeichnet wurde.

Trotz der engen Anbindung Nürnbergs an den altgläubigen Kaiser entstanden die Meisterlieder innerhalb der städtischen Ordnungsstrukturen – den durch Sachs reformatorisch geprägten Singschulen. Hier wurden die Gesänge exklusiv uraufgeführt und diskutiert. Die Singschulen der Meistersingergesellschaften können als eine Art Mikrokosmos verstanden werden, in der neue Texte laborartig getestet und mit ihrer Wirkung experimentiert wurde. Dehnert bezeichnet sie als „Keimzellen“ der Stadt, in denen ein Prozess der Meinungsbildung stattfand, der über die Schulen hinaus auf die Gesellschaft einwirkte. Dadurch unterlag Sachs einige Male der Zensur des Stadtrates und musste sich des Öfteren einer Überprüfung seiner Werke unterziehen, wie Dehnert anhand einiger Vorfälle skizziert. Dehnert untersucht folglich die Ordnungsstrukturen innerhalb von Reichsstadt und Reformation, Individuum und Gesellschaft, Schule und Stadt und problematisiert ihre gegenseitigen Einflüsse. Konsequent möchte sie ihre Analyse anhand struktureller, gesellschaftlicher, ideeller, personaler Teilbereiche durchdeklinieren und ihre Verflechtungen sichtbar machen, wie sie auch in der Person Hans Sachs zum Ausdruck kommen.

Entlang dieser Teilbereiche entwickelt sie das kompositorische Gerüst ihrer Arbeit. Die Reihenfolge ihrer Kapitel lässt eine Richtung erkennen: Dehnert arbeitet sich in den ersten Kapiteln von „außen“, dem Makrokosmos der Reichsstadt und der Reformation nach „innen“, zum Mikrokosmos des Meistergesangs bei Hans Sachs. In Kapitel fünf schiebt sie eine kurze konzeptionelle Überlegung und theoretische Handreichung ein. Hier zieht sie die Poetik des Horaz heran sowie den Modellcharakter von Literatur nach Horaz, um das „Medium der Literatur als Austragungsort“ zu postulieren, um dann im Folgenden auf die Meisterlieder und ihren experimentellen Charakter zu verweisen. Allerdings findet der Rezipient hier eher einen Abriss verschiedener Theorien vor, denen nicht mehr als eine Seite gewidmet wird und die im interdisziplinären Kontext der Arbeit untergehen.

Als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung führt Dehnert in Kapitel sechs das handschriftliche Meistergesangbuch des Barthel Weber von 1549 in ihre Analyse ein, denn fast alle der darin enthaltenen weltlichen und geistlichen Lieder stammen aus der Feder von Hans Sachs.

Kapitel sieben bildet mit seiner hermeneutischen Auseinandersetzung ausgewählter Meisterlieder den Hauptteil der Dissertation. Anhand ausgewählter Gesänge, die biblische Geschichten des Alten und Neuen Testaments versifizieren, überprüft Dehnert die Transformation und den Transfer religiösen Wissens durch den Schuster Hans Sachs, wie es die Ausgangsfrage vorgab. Übersichtlich strukturiert sie das Kapitel in „Meisterlieder mit geistlichen Stoffen“ sowie in „Meisterlieder mit weltlichen Stoffen“. Die Texte, die Bibelversifikationen beinhalten, unterteilt sie jeweils in Stoffe aus dem Alten Testament und dem Neuen Testament – immer den heilsgeschichtlichen Aspekt im Blick und thematisch konsequent Luthers Lehren folgend, die sie hier an den vier „Soli“ festmacht. Ihre Betrachtung der Texte verbindet durchgehend die Eckpunkte des christologischen Bezugs („Solus Christus“) sowie den neutestamentlichen Zusammenhang, wenn sie Stoffe des Alten Testaments behandelt und den Gegenwartsbezug zum Rezipienten. Übersichtliche Schaubilder ergänzen und unterstützen ihre Interpretationen in beiden Teilbereichen, dem geistlichen und den weltlichem. In tabellarischen Gegenüberstellungen verweist sie etwa auf Bezüge zwischen alttestamentlichen Versifikationen und den dazu gehörenden Passagen im Neuen Testament. Besondere Schwerpunkte liegen, entsprechend der Thematisierung durch Sachs, auf den kirchlichen Hochfesten Weihnachten und Ostern.

Die von ihr ausgemachten Leitgedanken der Reformation, die titelgebend für ihre Arbeit waren, greift Dehnert in ihrer Auseinandersetzung mit den Meisterliedern weltliche Stoffe themengetreu auf, etwa in antiken Anekdoten im Kontext von Freiheit und Ordnung. Der gesamten Auseinandersetzung mit dem Meistergesangbuch des Bartel Weber liegt eine stringente Analyse der Meisterlieder im literaturwissenschaftlichen Kontext zugrunde.

Sprachlich und inhaltlich sind in der gesamten Arbeit zahlreiche Wiederholungen auszumachen. Bereits aufgeführte Sachverhalte werden mehrfach genannt, ohne dass es von Erkenntnisinteresse wäre. Zudem ist ein stark apologetischer Ton auszumachen. Dehnert wehrt sich auffallend häufig gegen kritische Einwände aus der Sachs-Forschung, beispielsweise gegen den Vorwurf, Sachs sei „eine mangelnde dichterische Kreativität vorzuwerfen, da unzählige Meisterlieder lediglich ihre Vorlage versifizieren und dabei die eigene Idee hinter der vorgegebenen Schrift zurücktritt“. Sie verdeutlicht, dass Meisterlieder im reformatorischen Sinne erst in gesungener Form ihren optimalen Ausdruck verliehen bekommen und die Texte daher nicht alleinstehend zu kritisieren seien. Um ihrer Gegenargumentation mehr Gewicht zu verleihen, versieht Dehnert sie mit einem Ausrufezeichen: „Der Mehrwert von Sachs‘ Bibelversifikation liegt also hauptsächlich in der Nutzbarmachung der Gattung: das Meisterlied vermittelt das Wort durch Klang!“. Diese verteidigende Tonalität, die ihrer Argumentation Nachdruck gegenüber Sachs-Kritikern verleihen soll, zieht sich durch die Arbeit und findet sich auch im Fazit: Hier greift Dehnert den Vorwurf erneut auf, Sachs verkürze die Anliegen der Reformation, da er als Nicht-Theologe nur mit transferiertem Wissen in Berührung komme. Dem widerspricht sie eindrücklich: „Sachs hat das Anliegen der Reformation sehr gut verstanden“.

Mit dieser Bemerkung im Fazit der Dissertation weist Dehnert bereits auf ihre Untersuchungsergebnisse bezüglich ihrer Ausgangsfrage über theologische Anschlusskommunikation durch Laien hin: Ihre Untersuchung der Meisterlieder habe ergeben, wie tiefgreifend das theologische Verständnis der Meistersänger sei und wie sie es literarisch-künstlerisch verstanden haben, komplexe Sachverhalte inhaltlich korrekt zu komprimieren. Dies sei Dehnert zufolge keiner theoriefernen Verkürzung, sondern eine gezielte Verdichtung, die erst aus einem umfassenden Verständnis der biblischen Stoffe und theologischen Lehren hervorgehen kann. „An Sachs kann exemplarisch gezeigt werden, wie der von Luther angesprochene Laie tatsächlich ein aktives Verständnis theologischer Lehren entwickelt und diese transferiert in eine praktische Umsetzung im Alltag“. Anstatt den Laien also mangelndes theologisches Wissen und „stümperhafte Literatur“ vorzuwerfen, erkennt Dehnert bei Sachs deutliche qualitative Merkmale: „[D]ie Wiedergabe der reformatorischen Lehren hat sich innerhalb der analysierten Meisterlieder im Vergleich zur Eloquenz der Reformationstheologen zwar vereinfacht dargestellt, ist aber in Anbetracht der Perspektive von Sachs als einem Handwerker erstaunlich differenziert erfolgt“ und auf sein Publikum  mit einem Gegenwartsbezug angepasst. Daran zeigt sich Sachs hohes Maß an Bildung, wie es gleichzeitig für viele Laien stehe. Das Meisterlied ermöglicht durch seine kurze Form ein hohes Verständnispotential und damit eine Mögliche Identifizierung des Gehörten durch den Rezipienten. Somit seien Inhalt und Form der Meisterlieder ein qualitativer Kunstgriff, um das „Priestertum aller Gläubigen“ zu vermitteln. Die Sachs-Forschung müsse dieser Dissertation folgend dem Nürnberger Schuster einen höheren Stellenwert einräumen.

Schlussendlich gibt Dehnerts Dissertation dem Leser einen reichhaltigen Überblick zu Leben und Wirken des Hans Sachs sowie der Umstände der Reformation. Die disziplinären Teilbereiche aus Theologie, Germanistik und Geschichte erscheinen auch unabhängig voneinander ertragreich und vielversprechend für eine weitergehende, eigenständige Analyse zu sein.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Uta Dehnert: Freiheit, Ordnung und Gemeinwohl. Reformatorische Einflüsse im Meisterlied von Hans Sachs.
Mohr Siebeck, Tübingen 2017.
563 Seiten, 129,00 EUR.
ISBN-13: 9783161556562

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