Bodenlose Abgründe

Jean-Baptiste Del Amos Roman „Tierreich" schildert die Agonie der Menschlichkeit

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein autistischer Junge flüchtet sich in seine Tagträume mit toten Kindern, seine Mutter versinkt in tiefen Depressionen, andere ertränken ihren Kummer im Alkohol oder begehen auf offenem Feld Suizid. Auch wenn der Titel dies nicht unmittelbar suggeriert, widmet sich Del Amo in seinem Roman Tierreich – neben der Ausbeutung von sogenannten Nutztieren – den menschlichen Abgründen auf eindringliche Art und Weise.

Das Buch erzählt die Geschichte einer Familie und deren landwirtschaftlichen Betriebs in der südfranzösischen Gemeinde Puy-Larroque über fünf Generationen. Der Zeitraum von 1898 bis 1981 wird durch insgesamt vier Kapitel unterteilt. Während die einst winzige Schweinezucht zu einer alles verschlingenden Massenanlage gedeiht, bleiben Gesundheit, Mitgefühl, Kindererziehung und Selbstverwirklichung der Figuren auf der Strecke.

Die LeserInnen erkennen bereits auf den ersten Seiten, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hart und die sozialen Familienstrukturen fragwürdig sind. Analog dazu ist die Atmosphäre bedrückend und durch Schmerz geprägt. Die Figuren sind in sich gekehrt; ein Austausch von Gefühlen, Ängsten und Träumen findet nicht statt. Die Isolation aller Figuren in jeder Generation ist omnipräsent. Insbesondere zwischen den Figuren Éléonore und ihrem Vater findet keine Kommunikation statt. Direkte oder indirekte Rede sucht man als LeserIn zunächst vergeblich. Durch die wechselnden Innenperspektiven bei stetiger Erzählung in der dritten Person erhält der Leser jedoch tiefere Einblicke in ihre Gedanken – immerzu bestimmt durch die Tragik ihres Schicksals: Demenz, Fehlgeburten, körperliche Gebrechen, Depressionen, rohe Gewalt, Autismus, Liebeskummer, Bigotterie, Alkoholismus, Vergewaltigung und Kriegstraumata steigern ihre Last bis ins Unerträgliche. Trotz engstem Zusammenleben auf dem Bauernhof räumen sich die Familienmitglieder dafür keinerlei Verständnis ein; sie bleiben sich fremd und damit einsam. Die Distanz innerhalb der Verwandtschaft verdeutlicht Del Amo immer wieder durch sprachliche Besonderheiten. Éléonore leidet schon als kleines Mädchen an der lieblosen Beziehung zu ihrer Mutter, die ausschließlich ‚Erzeugerin‘ genannt wird (nach dem Tod des namenlosen Vaters dann ‚Witwe‘). In der Anonymität und Wortkargheit der Figuren spiegelt sich ihre Ohnmacht wider; die Strenge und die Müdigkeit, verursacht durch die schwere körperliche Arbeit der Landwirtschaft, die fortwährend an erster Stelle steht.

Doch regelmäßig verrät die Innensicht der Figuren auch sehr Intimes: Während beispielweise Catherines Depressionen für den Rest ihrer Familie eine undurchschaubare Bürde bleiben, erhalten die LeserInnen einen Einblick in den schleichenden Krankheitsverlauf und in ihre Versuche, gegen die Leiden anzukämpfen. Nach und nach nehmen die LeserInnen Anteil an ihrer Hilflosigkeit.

Das Übel ist da, so lange schon, tief in ihnen verwurzelt wie in der Erde von Puy-Larroque, und Catherine hat sich darin verfangen, in diesen Wurzeln, in diesem Netz, und je mehr sie sich zu befreien suchte, desto tiefer verfing sie sich darin. Oft würde sie es vorziehen, gar nicht mehr zu denken, sich gar nicht mehr zu erinnern: die Fehler, die Träume von früher, die Hoffnungen, die sie ins Leben setzte, all das zusammen in einen Sack packen und ganz tief in der Matsche versenken, die ihr jetzt als Bewusstsein dient.

Sie ist unfähig, das Bett zu verlassen, verachtet die Schweinezucht der Männer und vernachlässigt ihre Kinder. Zeile für Zeile, Wort für Wort schildert Del Amo die Ausweglosigkeit dieser Frau, die kein Entkommen, weder vor sich selbst, noch vor dem männerdominierten Hof findet.

Del Amos sprachliche Genauigkeit ist schonungslos, wenn es um Dreck, Exkremente oder die Verwesung der Toten geht.

Im Fäkalmagma des Bauches macht sich eine stille Armee ans Werk, die Kommensalflora wirkt, wütet und verwandelt das Gedärm zu einem einzigen Schlamm. Schamhaft entleert sich der Leichnam in die Windeln, mit denen man vorhersehend seine Unterhosen ausgepolstert hat. Ein großer grünlicher Fleck ist auf der Epidermis, auf Höhe der Darmbeingrube zutage getreten, wo sich der schon verdorbene Wurm des Blinddarms verkriecht. Die Bauchspeicheldrüse ist nur noch eine unförmige Lache, die sich in andere Eingeweide ergießt. Die Zellen zerfallen und verzehren sich. Die Zellwände werden durchlässig und heben die Grenzen auf. Der Leichnam ist nur noch ein großes Ganzes, in dem die Keime gedeihen und das gesamte erschlaffte Labyrinth der Gefäße erobern. Der Vater fängt an zu riechen.

Derart explizite Formulierungen widern mitunter an, führen den LeserInnen jedoch die Vergänglichkeit des Menschseins sowie das Elend der Bauernfamilie lebhaft vor Augen. Das reiche Vokabular mit zahlreichen Fachbegriffen aus der Landwirtschaft, der Botanik, der Physik und der Medizin beeindruckt; umso mehr enttäuscht es, dass das Glossar am Ende des Buches völlig unzureichend ist.

Die Übersetzung aus dem Französischen von Karin Uttendörfer bewahrt Del Amos ausdrucksstarke Sprache – einerseits mit all ihrer derben Drastik und andererseits mit ihrer literarischen Eleganz. Malerische Metaphern, imposante Vergleiche und Personifizierungen der Natur sowie die langen, verschachtelten Satzkonstruktionen hat Uttendörfer ins Deutsche übertragen. Zu Recht wurde sie 2019 für den Leipziger Buchpreis in der Kategorie Übersetzung nominiert.

Del Amo entwirft ein Panorama über 100 Jahre hinweg, das ebenso fasziniert, deprimiert wie schockiert. Die Parallelen zwischen Mensch und Tier macht er darin sichtbar: Im Todeskampf gleicht der Vater einem in die Falle gegangenen Tier, die Dorfbewohner bilden eine feindselige Hühnerglucke und die Witwe überwacht den Hof und ihre Tochter „schwarz und streng wie ein Raubvogel, ein Bussard kurz vor dem Sturzflug“. Doch das Verhältnis von Mensch zu Tier sowie von den Menschen untereinander verhandelt Del Amo nicht nur in der Sprache mittels animalischer Vergleiche. Wenn nicht Tiere, sondern schließlich auch die Menschen während des ersten Weltkrieges als bloße Ware gehandelt werden, weicht der Roman sämtliche Grenzen auf; Tier und Mensch sind gleichermaßen hoffnungslos dem Schicksal unterworfen.

Del Amo malt zermürbende Bilder von alljährlichen Gemeinschaftsschlachtungen im Dorf bis hin zur industrialisierten Massenschlachtung. Seitenlang beschreibt der Roman durch die Sicht des Viehs minutiös die Fahrt zu einem Schlachthaus und die folgende Tötung tausender Tiere. Die extreme Gewalt der Menschen dabei rührt zu Tränen und Fassungslosigkeit.

Die Lämmer schreien Tag und Nacht, während ihre Mütter an den Pfoten festgebunden, aufgehängt und bei lebendigem Leib aufgeschlitzt werden. Der Eingeweidesack zittert in der Wunde, sinkt dann ein und fällt schwer auf ihre Brust, während sie noch blöken.

Diese Szenen spielen sich zwar während des ersten Weltkrieges ab. Tatsächlich kann man sich als LeserIn allerdings nie gänzlich dem Hintergedanken entziehen, dass solche Grausamkeiten auch in unserer Gegenwart zum Alltag gehören. Scheußliche, nicht leicht zu lesende Realitäten offenbart Del Amo in all ihrer Härte, aber mit hochliterarischer Genialität.

Tierreich dürfte einer der facettenreichsten Romane der letzten Zeit sein. Vor nichts macht er Halt in seiner Beschreibung des bürgerlichen Lebens im 20. Jahrhundert. Wie ein Virus schleichen sich Strukturen des Kapitalismus in das Leben einer anscheinend verfluchten Bauernfamilie. Das Buch schildert die daraus resultierende Einsamkeit der Menschen, die Ausbeutung der Tiere und unserer gesamten Umwelt. Del Amo kreiert mit seinem vierten Roman ein literarisches Meisterwerk, das sich als ein verzweifelter Schrei nach mehr Miteinander, mehr Mitgefühl und vor allem nach mehr Mut, gegen den Strom anzuschwimmen, liest – ohne dies jemals explizit auszusprechen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jean-Baptiste Del Amo: Tierreich.
Aus dem Französischen übersetzt von Karin Uttendörfer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
440 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576866

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