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Der Kölner Sozialpsychologe Musa Deli hat mit „Zusammenwachsen“ ein absolut notwendiges Buch der Verständigung geschrieben

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dies ist ein wichtiges, ja – klingt doof, weiß ich, sage ich aber – wunderbares Buch, das im besten Sinne Verstehen ermöglicht. Geschrieben von Musa Deli, 1982 in Köln als Sohn türkischstämmiger Eltern geboren, die zur ersten Migrantengeneration gehören. Deli selbst hat als Angehöriger der zweiten Generation von Menschen mit türkischen Wurzeln am eigenen Leib erfahren, welche „Belastungen“ Migration mit sich bringt, welche „Auswirkungen“ Einwanderung auf die „eingewanderten Menschen und ihre Nachkommen“ hat(te). Deli kam als Kind, das kein bis wenig Deutsch konnte, in die erste Schulklasse und wurde sofort in die Vorschulklasse zurückgestuft. Am Ende seiner Grundschulzeit erhielt er eine Gymnasialempfehlung, seine Eltern schickten ihn jedoch auf die Realschule, er wurde schnell in die Hauptschule ‚zurücksortiert‘, machte eine Lehre und begann später den mühevollen Weg über das Abendgymnasium zum Abitur, um dann zu studieren. Eine Aufsteigergeschichte also, die aber für türkischstämmige Deutsche alles andere als selbstverständlich ist (und war). Inzwischen ist Deli Leiter des Gesundheitszentrums für Migrantinnen und Migranten in Köln, eine Einrichtung, die „deutschlandweit die einzige ihrer Art“ sei. Das Zentrum bietet „kostenlose Beratungsangebote für Menschen mit Migrationshintergrund mit dem Ziel, die psychosoziale Versorgung […] zu verbessern“ sowie 

den Zugang zur Regelversorgung zu erleichtern. Da insbesondere die psychotherapeutische Versorgung in der Muttersprache lückenhaft ist, gehören kurzfristige Kriseninterventionen und mittel- bis langfristige überbrückende Beratungsangebote sowie therapeutische Interventionen zum Kern des Angebotsspektrums des Gesundheitszentrums.

Während seiner Arbeit in Köln fiel Deli auf, dass die Gespräche „immer wieder um die gleichen Dinge kreisten“, dies die Idee zum Buch, überdies fiel ihm auf, dass jede „Generation“ türkischstämmiger Deutscher „ihre spezifischen Themen hat,“ aber auch und vor allem, dass sich ‚Bio-Deutsche‘ (wie ich) und türkischstämmige Deutsche „fremd“ sind, es gibt wenig Wissen, so gut wie keine Kontakte – meine zum Beispiel und da bin ich womöglich ein relativ typisches Beispiel, beschränken sich auf kurze Kontakte mit den Reinigungskräften in meinem Institut und der Bestellung eines Döners spät abends. Doch, Deli zu Recht, diese Belastungen sind keine private Angelegenheit, sie gehen uns alle an, trivial, aber wahr (hier also nochmal:) Deutschland ist ein Einwanderungsland.

Im Oktober 1961 wurde ein Anwerbeabkommen abgeschlossen, das (junge männliche) Türken zur Maloche (so muss man es sagen) ins Wirtschaftswunderland Deutschland brachte. Jüngere Männer aus ländlichen Regionen, ohne Deutschkenntnisse, für meist körperlich harte und schmutzige Arbeit vorgesehen.

Da es eine Altersgrenze für die Anwerbung gab, machten sich viele jünger (so war wohl Delis Vater tatsächlich älter als administrativ vermerkt), was sich zum Beispiel später bei der „Abnutzung“ durch die Arbeit, aber auch beim Renteneintrittsalter rächte. Die jungen oder nicht mehr so jungen türkischen Männer wurden als ‚Arbeitsbienen‘, ja, muss man beschämt sagen, fast als Arbeitssklaven gehalten: in kostengünstigen Gruppenunterkünften blieb man unter sich, Frauenbesuch war nicht erlaubt, um zehn Uhr abends musste man zu Hause sein. Lebenslügen gab es dabei auf beiden, der ‚deutschen‘ wie der türkisch migrantischen Seite. Ursprünglich sollten die Arbeitskräfte rotieren, sie selbst planten, nicht lange hier zu bleiben – ‚Integration‘ in die Mehrheitsgesellschaft war nicht gewünscht. 1973 gab es einen Anwerbestopp, bis dahin waren 14 Millionen Arbeitskräfte nach Deutschland gekommen, 11 Millionen kehrten in die Türkei zurück. Irgendwann wurde der Familiennachzug erlaubt, der Probleme aber nicht behob, sondern nur neue zeitigte, es blieben getrennte Lebenswirklichkeiten: Das Leben der Deutschen „fand für die Gastarbeiter praktisch hinter einer Milchglasscheibe statt“. Viele türkischstämmige Migranten blieben also hier, sie heirateten, bekamen Kinder – die zweite Generation, zu der auch Musa Deli zählt.

Ein wichtiges Thema war und ist die Heiratsmigration, die die Nicht-Integration verstärkte: türkische Frauen wurden hierher verpflanzt, sprachen kein Deutsch, auch die Kinder der zweiten Generation, die teilweise hier geboren wurden, sprachen bis zur Einschulung kein Deutsch, in den Kindergarten gingen sie selten. Über die Jahrzehnte wurde die türkische Infrastruktur ausgebaut, man konnte sich in der türkischen community bewegen ohne Deutsch sprechen zu müssen.

Die Lebensbedingungen der ersten Generation nach der Familienzusammenführung waren unwürdig. Die Wohnungen klein, in schlechtem Zustand, Duschen im Keller, Kohleofen: Delis Mutter kam 1976 nach Deutschland und war sehr enttäuscht von der Situation, überdies fühlte sie sich fremd, hatte kaum Kontakt zu Deutschen, das wurde vermieden, „weil man sich nicht verständigen konnte. So kam es, dass man unter sich blieb“. Viele der türkischen MigrantInnen der ersten Generation waren funktionelle Analphabeten, die Kinder, die in die Schule gingen, mussten oft, eine belastende Situation, als Dolmetscher bei Behörden fungieren, zugleich fühlten sie sich nicht wie ihre deutschen Altersgenossen, wollten aber „genauso“ wie diese sein. 

Wie war die Situation zum Beispiel für Musa Deli? Er musste seine Hausaufgaben unter Platzmangel machen, er hatte wenig Spielsachen, der ‚normale‘ Reichtum seiner Altersgenossen war unbekannt, was beschämte.

„So gingen die Jahre ins Land, lediglich unterbrochen von der jährlichen Fahrt in die Türkei.“ Bis dann die allzu kleine Rente kam. Alte kamen nicht ins Altenheim, zum einen, weil es keine Angebote gab, zum anderen, weil es selbstverständlich war, dass Alte und Pflegebedürftige in der Familie gepflegt werden müssen, das aber führte zu völliger Überforderung. „Oft“, so Deli, erlebe er „Familien, die aufgrund der Doppelbelastung von Arbeit und Pflege am Ende ihrer Kräfte“ seien.

Die Heiratsmigration sieht Deli an als einen Schritt vor und zwei zurück. Ca. 25% der Migranten mit türkischem Hintergrund suchen ihre/n Partner/in in der Türkei, wobei hier vor allem Elternnetzwerke zuständig sind. Das führt, wie Deli anhand einiger Fallgeschichten beschreibt, zu mitunter völlig trostlosen Ehen, wobei überdies eingeheiratete Töchter unter die Fuchtel der Schwiegermutter geraten. Und wieder wiederholt sich etwas: die Frauen, die aus der Türkei kommen, sprechen wiederum kein Deutsch, sind wieder in der Fremde. Hier ist Delis Urteil, der Schuldzuweisungen vermeidet, unmissverständlich: „Die Verantwortung für die durch die Heiratsmigration verursachten massiven Rückschritte in Bezug auf die Integrationsbemühungen tragen die türkischstämmigen Familien.“

Wendet man diese sozialstrukturellen Phänomene ins (Sozial-)Psychologische, dann wird verständlicher, mit welchen psychischen und sozialen Belastungen die Angehörigen der ersten Generation kämpften und kämpfen: Entwurzelung, Sehnsucht nach der Heimat. Oft finden sich bei ihnen Angst- und Panikstörungen, isolierte Ängste, überangepasstes Verhalten, doch sind psychische Störungen oft tabuisiert, überdies gibt es kaum adäquate therapeutische Angebote, verdrängt wird das eigene (gescheiterte?) Leben: „Man befindet sich nun also“ im letzten Lebensabschnitt und müsse „feststellen“, dass man „die vielen Jahre in Deutschland mit einer gut verdrängten Lebenslüge gelebt hat. Das großzügige und gute Leben wurde immer weiter aufgeschoben.“

Die Kinder der ersten Generation lernen am Modell, sie sind selbst oft ängstlich, überbehütet, werden bevormundet: Sie sind ständig im familiären Kontext, leben oft gar mit den Eltern/Schwiegereltern zusammen, dauernd mischt sich einer ein. Ihre Entwurzelung ist doppelt. Wenn sie in den Sommerferien in der Türkei sind, werden sie dort als Ausländer angesehen, sie sind nirgends zu Hause, sie sind oft froh, wenn sie wieder nach Deutschland kommen. Hier aber sind sie ausgegrenzt, können kein stabiles Selbstvertrauen entwickeln, sie nähren Ohnmachtsgefühle, fühlen sich (oft zu Recht) als Opfer. Kaum jemand macht Abitur, bei der Berufswahl macht sich die „Ängstlichkeit“ der Eltern bemerkbar, meist, so beobachtete Deli, „führen die als Kind erworbenen inneren Überzeugungen, selbst „nicht gut genug“ zu sein, dazu, dass ein Studium scheitert“.

Womöglich noch entwurzelter, verunsicherter, unbehauster sind die ca. 700.000 ‚Kofferkinder‘, Kinder von „Migranten, die oft mehrfach zwischen der Türkei und Deutschland hin-und hergeschickt wurden, in anderen Fällen blieben sie ohne die Eltern in der Türkei zurück“. Es verwundert kaum, dass Deli vor allem bei ihnen „Beziehungsschwierigkeiten, Eheprobleme, Bindungsstörungen, Suchtproblematiken, aber auch angestaute Wut“ beobachtet: „Alle heute erwachsenen Kofferkinder berichten von der unstillbaren Sehnsucht ihrer Kindheit, mit den Eltern wiedervereint als glückliche Familie in Deutschland zu leben.“

Für die zweite Generation stellen sich also „Fragen ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit“, sind sie deutsch? Sind sie türkisch? Sie wussten zwar, dass sie in Deutschland bleiben würden – aber unter welchen emotionalen und sozialen Bedingungen? Für Deli war es ein dauernder Kampf um Anerkennung, seine Eltern hielten immer die anderen für schlauer. Es ist also verständlich, wenn die zweite Generation für ihre Kinder eine „bessere Kindheit“ wünscht. Müsste dann nicht also die dritte Generation hier angekommen und beheimatet sein?

Deli beobachtet anderes. Die dritte Generation „kämpft mit Belastungen, die aus der Migrationsgeschichte ihrer Eltern und Großeltern entstanden“. Die dicken Autos, die hier gefahren werden, die Betonung des Äußeren verweisen auf Selbstunsicherheit und Fragen des Status, das aber führt oft dazu, dass Angehörige der dritten Generation oft hoch verschuldet sind. „Dass es mit dem Selbstwert der dritten Generation nicht weit her ist, lässt sich meines Erachtens auch daran festmachen, dass die türkischen Jugendlichen sehr großen Wert auf ihr Äußeres legen.“ Überdies führt der ‚Hunger‘, das Minderwertigkeitsgefühl der zweiten Generation in der Erziehung ihrer Kinder dazu, dass sie ihnen alle Anstrengung aus dem Weg räumen. Das Feiern riesiger Kindergeburtstage, da ginge es nur „vordergründig um den Geburtstag des Kindes. Vielmehr wird dem eigenen Bedürfnis Rechnung  getragen, solche Feiern, die man als Kind selbst nie erlebt hat, nachzuholen“.

Die Kinder der dritten Generation hören selten ein Nein. Oft ist ihren Eltern auch einfach das Erziehen zu anstrengend, überdies haben diese Eltern oft eine „unkritische Haltung dem eigenen Kind gegenüber, unabhängig davon, wie sich dieses verhält“. Das Kind selbst also gehe davon aus, dass es schon alles richtig mache, diese Kinder seien oft nicht besonders frustrationstolerant, sie könnten sich kaum etwas versagen, auf etwas hinarbeiten, das „schulische Scheitern“ der dritten Generation sei „also auch ein Stück weit selbst verursacht“.

Gleichwohl, die dritte Generation, die heute etwa um die 30jährigen, sind und werden diskriminiert, gelten zur Unterschicht gehörig. Diese Erfahrung wird auch ins Selbstbild integriert. Dabei fehle oft das Gefühl für die eigene Selbstwirksamkeit, auch für die eigenen Fähigkeiten oder Möglichkeiten. Die Türkischkenntnisse sind oft eher mäßig, die Deutschkenntnisse aber ebenso – wiederum ist die dritte Generation in der Türkei fremd.

Delis Fazit fällt nüchtern aus: „Das Zusammenspiel aus Erziehung, erfahrenen Benachteiligungen und ein damit verbundener niedriger sozioökonomischer Status“ sei ein „wesentlicher Grund […], wenn es um Jugendliche geht, die als vermeintlich desintegriert eingeschätzt werden und unter Umständen als gewaltbereit in Erscheinung treten“, zugleich aber fühlt sich die dritte Generation, die hier abgelehnt wird, oft sehr „fest mit Deutschland verbunden“.

Deli ärgert sich über die „Integrationsdebatte“, dauernd werde gefordert, die türkischstämmigen Deutschen sollten sich integrieren, doch Integration sei eine „Aufgabe, die von allen Seiten geleistet werden“ müsse, Integration könne nicht „über Assimilation erfolgen. Integration“ bedeute, „sich mit dem kulturellen Hintergrund, den man mitbringt, in die Gesellschaft einzubringen“. Seitens der (vormals) aufnehmenden Gesellschaft sei die „Bereitschaft nötig, mit zugewanderten Menschen zukünftig eine Gesellschaft zu bilden“, das erfordere „Offenheit und Flexibilität“ von beiden Seiten – und, so darf man sagen, das ist auch anstrengend, konfliktreich: anders geht es nicht. Deli jedenfalls wünscht sich für seine Kinder und zukünftige „Generationen ein Leben in Deutschland, das geprägt ist von Chancengleichheit und Teilhabe für alle Gesellschaftsmitglieder“, es solle möglich werden, dass alle „den kulturellen Reichtum, den ihre Wurzeln bieten, leben können und sich damit bereichernd in die Gesellschaft einbringen können“.

Und woher kommt der Titel meiner Besprechung? Eine schöne Anekdote: Musa Deli kam von einer Reise aus den USA zurück. Der die Pässe kontrollierende Schalterbeamte am deutschen Flughafen begrüßte ihn mit den Worten: „Willkommen zu Hause“. Ja, hier sind wir alle zu Hause.

Titelbild

Musa Deli: Zusammenwachsen. Die Herausforderungen der Integration.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
288 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783455014532

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