Der Autor als Student

Der sechste Band von Andreas Maiers autobiographischem Zyklus, „Die Universität“, erzählt von studentischer Selbst(er)findung

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommer 1988, die ersten Semesterferien brechen an. Man könnte in die Welt hinausfahren, mit Rucksack, Schlafsack und einer Interrail-Karte, den Verheißungen studentischer Freiheit und Ungebundenheit ins Unbestimmte folgend. Doch weit kommt der Protagonist nicht. Er schafft gerade einmal die 30 Kilometer von Friedberg zum Frankfurter Hauptbahnhof, weil sein „innerer Meta-Ebenen-Kuckuck“ ihn von dem eigentlichen Plan, eine Fahrkarte nach Italien zu kaufen, abhält. Stattdessen fährt er wieder zurück nach Butzbach, einem benachbarten Städtchen, in der Hoffnung dort seiner Sehnsuchtsfrau, der Tochter eines lokalen Buchhändlers, zu begegnen. Diese ist jedoch verheiratet und dem Philosophiestudenten bleibt nichts anderes übrig als seine desaströse Niederlage und das ziellose Schmachten im Park sitzend in Prosa zu gießen. Doch mehr als ein Titel und ein wenig germanistisch-plagiierendes Stückwerk kommen dabei nicht heraus.

Mit dem sechsten Band Die Universität von Andreas Maiers autobiographischem Romanzyklus befindet sich der Ich-Erzähler nun an der Schwelle des Erwachsenwerdens, das Leben – und vor allem die alltäglichen Probleme – scheinen irgendwie ernster zu werden. Der Erfahrungshorizont des Ichs weitet sich, so wie sich die konzentrischen Kreise, die die einzelnen Bände des Erzählprojekts bilden, kontinuierlich vom Nabel der erzählten Welt des hessischen Wetterau-Kreises entfernen und ausdehnen. In einzelnen Erinnerungsskizzen gestaltet Maier ein Bild seiner frühen Studentenzeit, das – obschon schnörkellos erzählt –ungemein plastisch ist und wie auch seine Vorgängerbücher einen Sog entwickelt, der sich nicht nur aus biographistischem Leser-Voyeurismus oder nostalgisch-identifikatorischem Schwelgen in so oder ähnlich erlebten vergangenen Lebensabschnitten speist. Maier erzählt pointiert und die einzelnen Bilder und Situationen des schmalen Romans fügen sich zu einem poetischen Ganzen, das genau das vormacht, wovon sein 20-jähriges Alter Ego träumt: schreiben zu können.

Der Erzähler, der in Philosophie-Seminaren bei Karl-Otto Apel sitzt, ist notorischer Beobachter zweiter Ordnung. Nicht nur beschäftigt er sich qua Studienfach mit den Letztgründen des menschlichen Seins und den Bedingungen von Erkenntnismöglichkeiten, sondern beobachtet sich selbst beim Beobachten seines neuen Umfeldes. In kammerstückartigen Selbstgesprächen mit seinem Meta-Kuckuck handelt der Protagonist Rollenentwürfe des Uni-Kosmos aus. Der akademische Habitus, den es zu erlernen und durchschauen gilt, bereitet ihm buchstäblich Bauchschmerzen. Schwarzer Rollkragenpullover, mäandernde hypotaktische Redebeiträge, die richtigen lateinischen Phrasen, selbst die Raucher- bzw. Trinkerpose in der Kneipe will angemessen inszeniert sein. Wo stehe ich in diesem Spiel, das ich als solches erkenne? Die Reaktion auf den Eintritt in die Institution Uni ist körperlich, bereitet dem Erzähler nicht nur Verdauungsprobleme, sondern auch Ausschlag. Konsultierte Ärzte erklären ihn teilweise für verrückt, ja geistesgestört – klar, dass Seminare in Transzendentallogik zu nichts führen außer gravierenden psychosomatischen Beschwerden. Der pragmatische Vorschlag eines Arztes, der die diffusen Leiden des Studenten zum ersten Mal ernst nimmt: Einfach nicht mehr in der Mensa essen und (noch) mehr trinken. Diese Art der Therapie scheint dem Studenten entgegenzukommen.

Maiers fiktionalisierte Selbstbiographie ist hin und wieder mit Proust verglichen worden; dieser Null-Vergleich zwingt sich natürlich auf durch die Form der fiktionalisierten Schriftsteller-Autobiographie – sind doch alle Bände von Maiers Zyklus als Romane gekennzeichnet – auf der einen Seite und durch die kanonische Wirkmacht von Prousts Erinnerungsbüchern auf der anderen Seite. Viel interessanter ist jedoch ein Vergleich zu Peter Kurzecks Romanprojekt, das ähnlich wie Maiers (in stilistischer und poetologischer Hinsicht jedoch ganz anders) in einem engen regionalen Rahmen verhaftet ist und gleichzeitig an einer panoramisch-literarischen Chronik eines Autorenlebens arbeitet.

Mit der Universität tritt nun ein zentraler Entwicklungsabschnitt des Schriftstellers vor die Leser. Jenseits von Episoden, die man als humorige, soziologische Feldstudien des Uni-Betriebs lesen kann, oder historischen Rückblenden, wie die Tatsache, dass Maiers Alter Ego als Altenpfleger Gretel Adornos jobbt (Achtung Fiktionsfalle, möchte man hier fast aus literaturwissenschaftlich konditionierter Vorsicht rufen), zeichnet Maiers sechster Band seines Erzählprojektes vor allem die Selbstbewusstwerdung seines jüngeren Ichs nach. Es geht hier um Identitätsfindung, nicht im Sinne eines Ratgebers, sondern eines Abnabelungsprozesses eines jungen Erwachsenen, der sich langsam, mitunter auch unter schmerzhaften, aber keineswegs singulären Erfahrungen, auf seinen eigenen Weg macht. Nostalgisch kommt Die Universität dabei nicht daher, es sei denn man liest den Text ausschließlich vor dem Hintergrund der tiefgreifenden Veränderungen der Unilandschaft durch den Bologna-Prozess, wobei man eine gewisse Sehnsucht nach den alten, weniger reglementierten Zeiten des geisteswissenschaftlichen Studiums verspürt. Denn der Roman ist trotz seiner Anlage als auto(r)biographische Rückschau vielmehr ein Blick nach vorne, eine einschneidende Station der Entwicklung eines Autors, deren Fortgang es mit den noch angekündigten fünf Lieferungen zu erwarten gilt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Andreas Maier: Die Universität. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
147 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427859

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