Der Chronist der amerikanischen Gegenwart

Zum 85. Geburtstag von Philip Roth

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Mit seinem letzten Roman Nemesis hat sich Philip Roth vor acht Jahren zur Ruhe gesetzt. Er wolle nicht mehr schreiben, so der Autor, der seit Jahren als einer der großen Favoriten für den Literatur-Nobelpreis gilt, sondern sein Dasein als Rentner genießen. Mit damals fast 80 Jahren hat ihm, der in den Jahrzehnten davor so viele Romane veröffentlicht hat, das sicher auch jeder von Herzen gegönnt. Nun, zum 85. Geburtstag, ist es wichtig daran zu erinnern, mit welch großem Maß an Sensibilität Roth die brennenden Themen unserer Zeit, zumal der amerikanischen Gegenwart, nicht angesprochen hat, sondern Konflikte in fast schon prophetischer Weise vorausgesehen und sie in seinen Romanen behandelt hat. Gerade der Roth seit den 1990er Jahren ist ein politischer Schriftsteller. Nicht, dass er es nicht bereits zu seinem Debüt, der Kurzgeschichtensammlung Goodbye Columbus aus dem Jahr 1957, gewesen war. Auch sein wohl berühmtester früher Roman Portnoy’s Complaint ist ein gelungenes Portrait des (jüdischen) Amerika der späten 60er Jahre. Doch erst mit den 90er Jahren – sein 1992 erschienener Roman Operation Shylock mag hier als Wendepunkt gelten – wird Roth direkter, politischer, auch sarkastischer und bisweilen illusionsloser. Sein literarisches Spiel mit der amerikanischen Vergangenheit und Gegenwart führte ihn nicht nur zu schonungslosen Bestandsaufnahmen wie Exit Ghost (2007), sondern auch zu alternativer Geschichtsschreibung (die sich, wie noch zu sehen sein wird, gleichzeitig als erschreckend prophetisch herausgestellt hat) oder nur auf den ersten Blick waghalsigen Gedankenspielen wie in Operation Shylock oder Der menschliche Makel. Im Folgenden sollen drei Texte Roths – Die Verschwörung gegen Amerika, Exit Ghost sowie Der menschliche Makel – näher untersucht werden, um seinen Status als Chronisten der amerikanischen Juden im Zeichen der politischen Geschichte und Gegenwart herauszuheben.

1. Die Verschwörung gegen Amerika

Als im November 2016 die Welt fassungslos auf das Ergebnis der amerikanischen Präsidentschaftswahl starrte und die Medien weltweit die bevorstehende Apokalypse in Form einer Machtübernahme rechtsextremer Kräfte vorhersahen, erwuchs bei literaturinteressierten Zeitgenossen verstärkt der Eindruck, man habe all dies schon mal irgendwo gehört. Dystopische Texte wie Robert Harris’ Fatherland und vor allem Philip K. Dicks The Man in the High Castle kamen vielen in den Sinn; Texte also, in denen die Nazis den Krieg gewonnen hatten und sich Amerika nun unterjochten. George Orwells 1984 schoss gleichzeitig auf Platz 1 der amerikanischen Bestsellerlisten, auch dies eine Dystopie über die Rücksichtslosigkeit eines autoritären Staates, der, ganz im Sinne des Trump-Wahlkampfs, die breite Masse des Volkes manipulativ steuerte. Doch es war vor allem ein Roman, der erschreckende Parallelen zu dieser neu gewählten Regierung aufzeigte: vor allem die Wahrscheinlichkeit einer russischen Einmischung in den Wahlkampf, vielleicht sogar in die Abstimmung selbst, und, als absolutes Schreckensszenario, die Möglichkeit einer Absprache mit dem aussichtslosen, aber letztlich vielleicht dank dieser Unterstützung durch eine fremde Macht siegreichen Kandidaten. Das Wort ‚Verschwörung‘ machte die Runde, und der heutige Stand der nicht nur andauernden, sondern immer breiter werdenden Ermittlungen lässt dazu nichts Gutes erhoffen. Es ist genau dieses Szenario, dass Philip Roth im Jahr 2005 in seinem Roman Die Verschwörung gegen Amerika beschreibt.

Das Buch geht, wie auch die Texte von Harris und Dick, von einem historischen Ereignis während des Zweiten Weltkriegs aus, und spinnt dieses zu einem dystopischen Szenario. Der berühmte Pilot Charles Lindbergh, der zunehmend von rechtsextremem Gedankengut begeistert ist, entscheidet sich, nicht unähnlich wie [oder: ähnlich wie] Donald Trump rund acht Jahrzehnte später, es als Präsidentschaftskandidat zu versuchen. Diese Überlegungen kursierten seinerzeit tatsächlich, doch stieß die Vorliebe Lindberghs für das totalitäre Deutschland nicht auf allzu viel Gegenliebe in den USA, so dass die von ihm imaginierte Bewegung schnell zum Erliegen kam und Lindbergh nicht ins Rennen gegen Roosevelt einstieg. In Roths Roman ist dies anders: Lindbergh entscheidet sich 1940, als Kandidat für die Republikaner zu kandidieren; er gewinnt überraschend mit einem Erdrutschsieg die Wahl, auch weil er gegen einen Kriegseintritt der USA agitiert. Es kommt zum Friedensbündnis mit den Nationalsozialisten und schließlich zu immer stärker werdenden Repressionen gegen jüdische Bürger. Die politische Situation dient als Hintergrund für die Familiengeschichte der Roths, erzählt aus der Perspektive des jungen Philip, der in dieser alternativen Realität aufwächst. Als Lindbergh verschwindet – womöglich als Folge eines missglückten Pakts mit den Nazis – übernimmt Vizepräsident Burton K. Wheeler sein Amt. Dieser führt Lindberghs Politik fort; tatsächlich scheint – vieles im Roman bleibt bewusst im Vagen – die Machtübernahme ein faschistischer Putsch gewesen zu sein. Doch Die Verschwörung gegen Amerika endet mit der Enttarnung der mutmaßlichen Nazi-Verschwörung, der Notinthronisierung Roosevelts, dem Eintritt der USA in den Krieg und der Niederlage Nazideutschlands.

Die erschreckenden Parallelen zur Trump-Präsidentschaft, gerade in Bezug auf die seit Monaten diskutierte „Verschwörung gegen Amerika“ im Kontext manipulierter Wahlen, sind nicht von der Hand zu weisen. So wurde auch Roth nach Trumps Wahl in einem E-Mail Interview mit dem New Yorker dazu befragt. Es sei viel leichter, die Wahl eines imaginären Präsidenten wie Lindbergh zu verstehen als die Trumps, so Roth in dem am 30. Januar 2018 veröffentlichten Gespräch. Immerhin sei dieser nämlich aufgrund seiner Flugkünste und seines Pioniergeistes für große Teile der amerikanischen Bevölkerung ein Held gewesen. Trump sei nur ein Betrüger. „Viel besser als mein Buch passt zu Trumps Wahl Herman Melvilles letzter Roman ‚The Confidence Man‘, der ja auch“, dies als Anspielung auf Trumps eigenen Bestseller The Art of the Deal, „‘The Art of the Scam‘ hätte heißen können“, also so viel wie Die Kunst des Betrugs.

Weiterhin schreibt Roth:

Ich bin im Jahr, als Roosevelt den Amtseid ablegte, also 1933, geboren. Er war dann Präsident bis ich 12 Jahre alt war. Ich bin seitdem ein Roosevelt-Demokrat. Als Bürger fand ich unter Richard Nixon und George W. Bush sehr vieles alarmierend. Aber all das, was ich bei ihnen an schwachem Charakter oder unzureichendem Intellekt gesehen habe, hat nichts mit der menschlichen Armut zu tun, die Donald Trump verkörpert: Er weiß nichts über Regierungsarbeit, über Geschichte, über Wissenschaft, über Philosophie, über Kunst, er ist unfähig, sich nuanciert zu äußern, ihm geht jeglicher Anstand ab, und er beherrscht ein Vokabular von 77 Wörtern, das mit der englischen Sprache wenig zu tun hat.

Und tatsächlich sieht auch Roth Parallelen zu seiner Lindbergh/Wheeler-Administration. Damals seien, in jener alternativen amerikanischen Geschichte, Juden verfolgt worden, nun seien es andere Minderheiten, die zunehmend unter Beschuss kämen. „Der Schrecken des nicht Vorhergesehenen“ nennt der siebenjährige Philip Roth dies an einer Stelle in Die Verschwörung gegen Amerika. Und es ist dieser Schrecken, ein persönlicher, subjektiver Schrecken zumal, den die Geschichtsschreibung nicht repräsentieren könne und der hier, in dieser Art alternativer Geschichtsschreibung, deutlich zum Vorschein kommt.

Der Roman wurde seinerzeit, während der Bush-Jahre, als Warnung vor den Gefahren eines amerikanischen Isolationismus’ gelesen, doch Roth sieht ihn nicht als solche. „Im Grunde war es nur ein Gedankenspiel“, so Roth schließlich. „Was wäre, wenn eine jüdische Gemeinde wie meine eigene dort in Newark von etwas befallen würde, das auch nur im Ansatz an den Antisemitismus der Nazis angelehnt ist? Was Trump angeht: Das Beängstigendste ist doch, dass er alles möglich macht, inklusive, natürlich, einer nuklearen Katastrophe.“

2. Exit Ghost

Dass Philip Roth ein Schriftseller ist, der vor allem auch als Chronist des Gegenwartsamerikas gesehen werden muss, ist indes nicht nur aus diesem fast prophetischen Plot zu ersehen, sondern auch an zahlreichen anderen Romanen, in denen der Autor – selbstredend immer mit besonderem Blick auf die Situation der amerikanischen Juden – die amerikanische Politik zum Gegenstand macht. In seinem Roman Exit Ghost aus dem Jahr 2007 schreibt er über die aus seiner Sicht bleiernen Post-9/11-Jahre unter George W. Bush, einer aus heutiger Sicht fernen Zeit, als amerikanische Intellektuelle noch glaubten, es könne nicht schlimmer kommen.

Hier taucht der aus früheren Roth-Romanen den Lesern wohlbekannte Protagonist Nathan Zuckerman, das Alter Ego des Autors, nach jahrelanger Abwesenheit wieder in seiner ehemaligen Heimatstadt New York auf. Roth konstruiert jene Abwesenheit als Rekurs auf die Volkslegende von Rip Van Winkle, der aufgrund eines nicht näher spezifizierten Zaubers ohne sein Wissen einem jahrelangen Schlaf anheimfällt und in einer ihm fremden Welt wieder aufwacht. „You know the story of Rip Van Winkle? Rip Van Winkle goes to sleep for 20 years, then wakes up. That is what happens to Zuckerman coming back to the city“, so Roth in einem Interview über die Inspiration für Exit Ghost. Nathan Zuckerman hat elf Jahre fernab von New York auf dem Land gelebt, als er sich bereit erklärt, mit einem jungen Paar, das aus Angst vor weiteren Terroranschlägen die Metropole verlassen möchte, für ein Jahr die Behausungen zu tauschen. Im Jahr 2004 kehrt der 71-jährige in seine alte Heimat zurück und findet eine ihm fremde Welt vor. Zuckerman nimmt ein von den Anschlägen des 11. September 2001 verändertes New York wahr. Er wird Zeuge der Wiederwahl George W. Bushs, die das Land seiner Meinung nach in eine weitere existenzielle Sinnkrise stürzen wird. Während Exit Ghost eine Erzählung über das zeitgenössische Amerika ist, dient der Archetyp Rip Van Winkle als Allegorie auf den gesellschaftlichen Wandel und das Ringen um die eigene Identität. Noch stärker als in Verschwörung gegen Amerika dient die politische Situation als Hintergrund für eine persönliche Geschichte, die aber, wie alle persönlichen Geschichten, natürlich wiederum hochpolitisch ist. Dabei unterstreicht auch Exit Ghost Roths herausragende Stellung als Chronist des modernen Amerika, jedoch auch seine Fähigkeit, persönliche Schicksale darzustellen und gleichzeitig eine Bestandsaufnahme dessen zu zeichnen, was es heißt, ein amerikanischer Jude zu sein.

Die Fokussierung auf das Judentum mag in seinen frühen Romanen – allen voran Portnoy`s Complaint – ausgeprägter gewesen sein und intensiver vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Diskurse (nicht zuletzt auch jener über die Sexualität) diskutiert worden zu sein. In vielen seiner späteren Texte rücken politische Dystopien, zeitgenössische Schreckensszenarien oder eben alternative Geschichtsschreibung immer mehr in den Mittelpunkt. Neben den hier diskutierten Texten sei vor allem noch Operation Shylock genannt, in dem sich Roth in Form eines Spionage-Thrillers (oder der Parodie auf denselben) den Nahost-Konflikt und vor allem das Verhältnis amerikanischer Juden zu Israel vornimmt – und hiermit zum großen Vorbild des (ehemaligen) Schriftsteller-Ehepaars Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss wurde. Beide orientieren sich in ihren neuesten Romanen deutlich an der Vorlage, die Roths Roman geliefert hat.

3. Der menschliche Makel

Als wohl wichtigster Text im Spätwerk Roths kann jedoch sein 2000 erschienener Roman Der menschliche Makel gelten; ein Roman der vordergründig in Form einer aberwitzigen Geschichte den Fall eines Literaturprofessors erzählt, tatsächlich aber ein bissiger Kommentar zur vor allem heute in den USA allgegenwärtigen Debatte zur political correctness und über die Zuschreibungsmechanismen ethnischer (wie auch geschlechtlicher) Identität ist.

In Der menschliche Makel schreibt der jüdische Autor Philip Roth über die Aneignung einer nach gesellschaftlichen Maßstäben definierten Norm des Jüdischen – in diesem Fall durch einen afro-amerikanischen Literaturwissenschaftler –, mit der Konsequenz, dass dieser ja definitiv nicht-jüdischen Figur ausschließlich aufgrund der selbst erwählten Mimikry fortan ‚typisch‘ jüdische Eigenschaften zugeschrieben werden. Roths Roman behandelt somit die Problematik externer Identitätszuschreibung, die längst auch ein wichtigstes Element bei der Konstruktion eines jüdischen Bildes jenseits von antisemitischen Ausfällen – eben gerade im Kontext der political correctness – geworden und besonders[à besonders] aus diesem Grund wieder partiell antisemitisch bedingt ist.

Im Zentrum des Romans steht der renommierte jüdische Collegeprofessor und -dekan Coleman Silk, der von der Lehre suspendiert wurde, nachdem er zwei schwänzende Studenten aufgrund ihrer chronischen Abwesenheit in Anspielung an den gerade im Seminar behandelten Shakespeare-Text als „spooks“ bezeichnete – nicht wissend, dass es sich bei diesen um Schwarze handelte, die sich von der Äußerung rassistisch angegriffen fühlten: „Does anybody know these people? Do they exist or are they spooks?“ Obwohl Silk sich eindeutig auf die ihm nicht bekannten Studenten als Geister-Erscheinungen [?], im deutschen „dunkle Gestalten“, bezog, vergaß er kurzerhand, dass ‚spooks‘ gleichsam ein älteres, längst vergessenes, jedoch nicht weniger despektierliches Wort für Afro-Amerikaner ist (die deutsche Übersetzung trifft dieser Zweideutigkeit nicht, „dunkle Gestalten“, auch wenn es ein Shakespeare-Zitat bleibt, wird allzu offensichtlich auf Schwarze bezogen).

Roth erzählt anhand von Rückblenden die Lebensgeschichte von Coleman Silk (‚coal-man‘, der Kohlenmann, ein außerhalb der Diegese stehendes Spiel mit dem Namen des Protagonisten); nach und nach erfährt man, dass es sich bei dem scheinbar jüdischen Professor keinesfalls um einen Juden handelt, sondern um einen besonders hellhäutigen Schwarzen. Als Silk in den 40er Jahren merkt, dass er, der Musterschüler, aufgrund der Identitätszuschreibungen und sozialen Repressionen, die mit seiner ethnischen Abstammung einhergingen, nicht weit kommen wird, fasst er den Entschluss, sich fortan als Jude auszugeben.

Der Identitätswechsel funktioniert reibungsloser als erwartet: Coleman schreibt sich als Jude freiwillig in die Army ein, was aufgrund des Bedarfs an jungen Soldaten niemand hinterfragt. Er zieht in den Zweiten Weltkrieg, und als er zurückkehrt, ist er aufgrund der religiösen Zugehörigkeit in seinen Entlassungspapieren eben ein Jude. Wie sein Boxtrainer ihn gelehrt hat, scheint die einfache Regel der amerikanischen Gesellschaft zu sein: Wenn du sagst, dass du zu einer bestimmten Gruppe gehörst, und dir das jeder glaubt, dann gehörst du auch dazu.

Für Silk eröffnet sich nun ein neues Leben, doch die Verwandlung zum Juden fordert ihren Tribut. Er löst sich bewusst von seiner Familie, als er eine jüdische Frau heiratet, die wiederum nur per definitionem jüdisch ist und daher auf das falsche Judentum Silks hereinfällt. Silks Mimikry kann mit Homi Bhabha als Imitation eines herrschenden Diskurses bzw. auch als Widerspiegelung dessen Konzepts der „in-between identities“ gelesen werden, das sich in Silks Konstruktion einer ‚alternativen Identität‘ offenbart.

Das Doppelbödige in Roths Roman liegt jedoch auch darin, dass sich Silk nicht für die herrschende WASP-Klasse entscheidet, sondern, wahrscheinlich aufgrund seines Boxtrainers, für das Judentum. Silk unterläuft eine Mimikry, indem er einen, zumindest aus seiner Minderheiten-Position heraus, herrschenden Diskurs annimmt und versucht, diesen zu imitieren.

Die Fragwürdigkeit ethnischer Klassifizierungen machen Roth bzw. sein fiktiver Erzähler (wieder einmal der bekannte Nathan Zuckerman, ein Freund Silks) vor allem dann deutlich, wenn er die Genealogie Silks nacherzählt: eine Familiengeschichte, die Paarungen unter anderem zwischen edlen britischen Helden, armen schwarzen Sklaven und unterdrückten amerikanischen Ureinwohnern (aber ironischerweise keinen Juden) vorzuweisen hat.

Die Brüche innerhalb seines Verhaltens bleiben gering – einmal wirft er etwa seinem weißen Anwalt an den Kopf, er wolle aus seinem wohlgenährten weißen Gesicht keine Ratschläge hören, und seine Mutter ruft ihm, als er ihr ankündigt, eine weiße Jüdin heiraten und seine Herkunft negieren zu wollen, zu, er sei weiß wie Schnee, verhalte sich aber wie ein Sklave. Doch die Probleme der Anpassung sind weitaus geringer, als man vermuten könnte. Es scheint sogar, dass die Menschen, weist man sie erst einmal darauf hin, zur einen oder anderen ethnischen Gruppe zu gehören, die Mimikry für denjenigen, der sich tarnen muss, selbst vollziehen. Lediglich weil Silk öffentlich proklamiert, dass er Jude sei, wird er auch zum Juden. Und obwohl er, wie in zahlreichen Rückblenden geschildert wird, trotz seiner fast weißen Hautfarbe die in den 40er Jahren üblichen, grausamen Repressionen erleiden muss, ist es doch diese physische Besonderheit, die ihm den Ausweg aus einer gesellschaftlich bedingten Ethnisierung und Klassifizierung erlaubt.

Was Roth in Der Menschliche Makel unternimmt, ist ein gewagtes Rollenspiel, denn er negiert an seinem Fallbeispiel jegliche tatsächliche ethnische Identität, die nicht aus gesellschaftlichen Zuschreibungsprozessen entsteht, zumal wenn man sich in der ‚melting-pot‘-Gesellschaft der amerikanischen Ostküste bewegt.

Da Silks Vater ein zwar zu Gelegenheitsjobs verdammter, jedoch hochgebildeter Schwarzer ist und Coleman stets als Klassenprimus gilt, entsteht überhaupt erst der Wunsch einer Abspaltung von der schwarzen Gemeinschaft, die Silks Eltern bereits forcieren, als sie schon im Amerika der 20er Jahre in eine weiße Nachbarschaft ziehen. Coleman hat ein paar schwarze, aber vor allem jüdische Freunde und erlebt aufgrund seiner weißen Hautfarbe und der gemütlichen Suburbia-Gemeinschaft, in der er aufwächst, erst später, als Student in Washington DC, erste Repressionen. Doch er fühlt sich, aufgrund seines Boxtrainings und seiner Bekannten, keinesfalls aber aus religiösen oder kulturellen Gründen, dem Judentum zugetan und wird somit auf dem Papier eben einfach Jude. Anhand dieser Mimikry entzieht sich Silk jeglicher Normierung innerhalb ethnischer Diskurse und wird zum Eindringling in eine fremde Kultur, die ihm aber gar nicht abnötigt, sich diese anzueigen. Da er sich für ein säkulares Judentum entscheidet, wird die religiöse bzw. ethnische Zuschreibung lediglich zu einer Formalie und der Eintritt in den zumindest aus seiner Perspektive kulturellen Mainstream ist vollbracht.

Später wird er gar der erste jüdische Dekan des Colleges und als solcher aufgrund seiner revolutionären Reformen berühmt. Doch zeigt sich hier vor allem, dass Silk eben doch nicht den Weg in den kulturellen Mainstream gegangen ist, sondern sich einer anderen Minderheit angeschlossen hat, in der er sich lediglich aufgrund seiner Physiognomie zumindest oberflächlich frei entfalten konnte. Doch Silk kämpft in den 50er und 60er Jahren einen ähnlichen, nur bedingt leichteren Kampf als Jude denn als Schwarzer, um in den Mainstream aufgenommen zu werden. So ist zwar eine Umschichtung der formalen ethnischen Zugehörigkeit erfolgt, doch der Wille, einen Weg ins Establishment zu finden, hat sich nicht geändert. So ist es auch kein Zufall, dass Silk als Dekan, zu einer Zeit, als Juden an Colleges nunmehr Teil des Mainstream geworden sind, trotzdem instinktiv weiterkämpft und gerade deswegen die Organisation institutionell revolutioniert.

Mit Bedauern ist, gerade bei der neuerlichen Lektüre dieser Texte, festzustellen, dass Philip Roth tatsächlich wohl keinen Roman mehr schreiben wird. Doch das zitierte Interview mit dem New Yorker-Magazin etwa zeigt, dass er auch heute noch eine wichtige Stimme ist, der man es durchaus zutrauen könnte, einen Roman über die allzu verrückte amerikanische Gegenwart zu schreiben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz