Der kenntnisreiche Schwärmer

Ein Nachruf auf Deutschlands prägenden Literaturkritiker Hanjo Kesting

Von Christian SchwandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schwandt

Mit Hanjo Kesting, dem langjährigen Literaturchef des Norddeutschen Rundfunks und ungemein produktiven Buchautor, starb am 20. Februar einer der bedeutendsten deutschen Literaturkritiker. Seine Stellung im deutschen Kulturleben kann man sich heute kaum noch vorstellen: Kesting gehörte neben Marcel Reich-Ranicki, Sigrid Löffler und Fritz J. Raddatz zu den sieben oder acht westdeutschen Journalisten, die maßgeblich die jüngere deutsche Literaturgeschichte mitgestalteten. Die Macht, über Wohl und Wehe von Büchern und Schriftstellern zu bestimmen, erhielt er als „Leiter der Hauptredaktion Kulturelles Wort“ in den Jahren 1973 bis 2006. Diese schöne Position mit dem leicht operettenhaften Titel hatte der Norddeutsche Rundfunk im Funkhaus Hannover eingerichtet – und Kesting hat sie klug genutzt. Damals war die Medienlandschaft eine andere, bei weitem nicht so zersplittert. Es gab viel weniger Fernseh- und Radiosender. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde nicht in Frage gestellt. Mit der Kulturwelle des NDR konnte man noch relevante Teile der Bevölkerung erreichen. Literatursendungen im Radio wurden unter Schülern und Studenten diskutiert. Kesting erfand die großen NDR-Sendereihen „Am Morgen vorgelesen“ und „Am Abend vorgelesen“. In ihnen bescherte er seinen Hörern – wie die Neue Zürcher Zeitung schrieb – „Sternstunden der Rundfunkkultur“.  Die Lesungen wurden sorgfältig kommentiert und ergänzt durch Essays über die Autoren und ihre Bücher. Kestings Texte changierten zwischen Porträtskizze und Werkanalyse, aber im Ergebnis führen sie immer zu einem: dem großen Glücksversprechen der Literatur. Schriftsteller wie Günter Grass oder Siegfried Lenz hätten ihre Position ohne die jahrzehntelange Unterstützung von Hanjo Kesting nicht erreicht.

Das umfangreiche Werk der Gebrüder Mann stand im Zentrum von Hanjo Kestings Arbeit. Seine erste Publikation über Thomas Mann war noch ein harscher Verriss, den der Alt68er 1975 im NDR diskutierte und kurz darauf im Spiegel veröffentlichte. Der Artikel führte zu einer erregten deutschlandweiten Debatte. Doch schon bald gehörte Kesting zu Thomas Manns Verehrern und hielt ihn für den „größten deutschsprachigen Schriftsteller aus der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts“. Vor zwei Jahren veröffentlicht er dann mit Glanz und Qual das Ergebnis seiner lebenslangen Beschäftigung mit den Romanen des Nobelpreisträgers. Im Zentrum stehen natürlich Buddenbrooks, Zauberberg, Joseph und seine Brüder, und Doktor Faustus. Glanz und Qual besticht aber nicht nur durch seine gute Lesbarkeit, sondern regt auch zum erneuten Lesen der besprochenen Werke an. Es ist ein Buch zur Einführung ebenso wie zur Vertiefung und bietet auch einige Neuigkeiten: zum Beispiel, dass der Schriftsteller  Steuern hinterzog. Oder dass für Thomas Mann, der seine sexuelle Disposition genau kannte, nur eine Geldheirat in Frage kam. Und schließlich: Das „Lübecker Welttheater“ hat ihn nicht nur beim Entwurf der Buddenbrooks, sondern auch bei Joseph und seine Brüder oder beim Doktor Faustus angeregt. Fazit: Scharfsinniger, eleganter und im besten Sinn journalistischer ist selten über Thomas Mann und die Seinen geschrieben worden.

 Das Lieblingsbuch des Rezensenten unter Kestings Publikationen ist jedoch Das Pump-Genie, Richard Wagner und das Geld.  Hier wird jedem, der sein Leben der Musik, Literatur oder Kunst widmet, deutlich, dass es neben den bürgerlichen auch andere Werte gibt und wie man ein „kleines Liquiditätsproblem“ selbstbewusst und ohne Gesichtsverlust übersteht. Dass er auch ein musikalischer Mensch war, zeigte Kesting übrigens nicht nur in diesem Band.  

Vor zwanzig Jahren sattelte der Radiojournalist dann um und wurde Vortragskünstler. Das Vorbild war Karl Kraus und sein Sprachspiel des Vorlesens, Rezitierens und Deklamierens. Seine Vorträge gestaltete Kesting zusammen mit hervorragenden Schauspielern, mit denen er meistens schon beim NDR kooperiert hatte. Die Zuhörer mussten nichts anderes mitbringen als „Aufnahmebereitschaft und Interesse am Thema“.  In den norddeutschen Städten, die intellektuell etwas auf sich halten, füllte er die Säle: Zuerst im Hamburger Bucerius-Kunstforum, dann auch in Lübeck, Bremen, Osnabrück und Hannover – und das alles in allem etwa 500 Mal. Selten konnte man so schön wie an Kestings zwanzig bis dreißig jährlichen Abenden beobachten, welche Autorität die Leidenschaft für das Wort, für die Literatur verleiht. Bereits 2012 brachte der Göttinger Wallstein-Verlag die Frucht von Kestings erster großer Vortragsreihe, die Einführung in die Grundschriften der Europäischen Kultur, als eine Art kommentierter Anthologie heraus. 2015 erschienen die Große[n] Romane der Weltliteratur und 2019 die Große[n] Erzählungen. Jedem, den Literatur nicht kalt lässt, seien diese Anthologien in insgesamt neun Bände empfohlen.

Hanjo Kesting war ein kenntnisreicher Schwärmer. Besser und unterhaltsamer als bei ihm kann man die Weltliteratur nicht kennen lernen. Hanjo Kestings Motto war der letzte Satz aus Voltaires Candide: „Man muss seinen Garten bebauen.“ Dies hat er getan. In seinen beiden Stammverlagen Wehrhahn (Hannover) und Wallstein (Göttingen) werden noch in diesem Jahr vier weitere Bücher erscheinen.