Der Schwarzmaler

Wie mich Dürrenmatt gelehrt hat, in der Hoffnungslosigkeit anständig und amüsiert zu bleiben

Von Daniel BickermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Bickermann

Hätte man mich mit 20 gefragt, warum ich Dürrenmatt so liebe, ich hätte einen absichtlich vagen und provokativen Begriff hingerotzt: Realismus. Ich sah mich als Mitglied einer wie auch immer neuronal verdrehten Minderheit, die ihre Umgebung ganz und gar nicht im Stil der herkömmlichen Realismus-Merkmale der darstellenden Künste wahrnahm. Wacklige Dokumentarkamera im Kino, Photorealismus in der Kunst, naturalistische Formlosigkeit in der Literatur – so erlebte ich die Realität nicht. Ich fand das Leben viel ähnlicher einem Kafka-Roman, einem Resnais-Film, einem Dalí-Gemälde – oder eben einem Dürrenmatt-Stück. Kein Wunder also, dass ich euphorisch durch seine gesammelten Werke gepflügt bin, mit dem Enthusiasmus und der Konzentration eines jungen Studenten, der im oft so staubigen Kanon der Literaturgeschichte einen seltenen Seelenverwandten gefunden hat. 

Wenn mich heute, zwanzig Jahre später, jemand fragt, was ich von Dürrenmatt gelernt habe, verweise ich meist auf eine einzige Textstelle. Man findet sie in Dürrenmatts Doppel-Autobiographie Labyrinth und Turmbau, und bemerkenswerterweise ist es keine Anekdote über Literatur, sondern eine über Malerei. Sie beschreibt einen Besuch des befreundeten Künstlers Willy Guggenheim alias Varlin, der sich in Dürrenmatts Wohnung dessen Hobby-Malerei anschaut. Und natürlich lässt sie sich nicht paraphrasieren, sondern muss im eigenwilligen Wortlaut und Tonfall des Autors selbst zitiert werden: 

Als ich Varlin eines meiner wenigen Ölbilder zeigte, die „Katastrophe“, starrte der große Maler überrascht auf das Gemälde und wollte nicht so recht glauben, was er da sah: In einer Schlucht auf einer Brücke prallen zwei mit Passagieren überfüllte Eisenbahnzüge in voller Fahrt zusammen; ein jeder aus einem Tunnel schießend, ins Freie und ins Verderben rasend, prasseln sie auf eine weitere, tiefer gelegene Brücke, über die sich ein kommunistischer Umzug wälzt, so daß Brücken, Eisenbahnzüge, Passagiere und Kommunisten auf eine Wallfahrtskirche stürzen, die sich im Grund der Schlucht befindet und die ihrerseits im Zusammenbrechen unzählige Pilger unter sich begräbt, während oben, über der Schlucht, im blauen Frühlingshimmel die Sonne mit einer zweiten Sonne zusammenkracht, den allgemeinen Untergang der Erde und des ganzen Planetensystems einleitend. Varlin schwieg, und dann meinte er endlich, nicht ohne Sorge: „So was sollte ein erwachsener Mensch nicht malen.“

Erstmal: Alles daran ist großartig. Die provokativ nüchterne Beschreibung seines eigenen Motivs; die elegant angedeutete Pause für das perfekte komische Timing; und die genüsslich unkommentierte Reaktion als Pointe. Aber in dieser Geschichte, in diesem Gemälde Die Katastrophe, in der Art der Beschreibung und der Art der Reaktion, in jedem Detail steckte für mich eine Erkenntnis. 

Beginnen wir mit dem Inhalt des Gemäldes, von dem man eine direkte Linie zu seinem bevorzugten Motiv ziehen kann: dem allumfassenden Untergang der entschlossenen Helden. Dürrenmatt hatte dabei oft die ikonoklastische Angewohnheit, den traditionellen Zusammenhang zwischen der Art der Entschlossenheit und der Art des Untergangs zu verneinen. Soll heißen: Die Kommunisten auf dem Gemälde sterben nicht am Scheitern des Kommunismus, die Christen werden nicht wegen ihres Glaubens unter Trümmern begraben. Das ganze Konzept der tragischen Ironie, die Idee des Helden, der unbewusst Auslöser seiner eigenen Zerstörung ist, all das hat Dürrenmatt nie interessiert. Sein Pessimismus ist größer, unpersönlicher: Nicht der Mensch ist fehlerhaft, die Welt ist es. Und der Mensch, der versucht, diese verrückte Welt in einen Sinnzusammenhang zu drängen, muss daran scheitern (und nicht selten selbst verrückt werden). Dem Schicksal ist egal, was uns antreibt, es zermalmt uns ohne Gespür für erzählerische Eleganz oder aristotelische Symmetrie. 

Nebukadnezar in Ein Engel kam nach Babylon beispielsweise ist entschlossen, sein Reich sozial gerechter zu gestalten. Er verzweifelt nicht, wie so viele andere Figuren in historischen Tragödien, an dieser allzu hohen Ambition, sondern an der Ungerechtigkeit der Liebe und des Universums. Romulus der Große, vielleicht der größte Umstürzler und Hühnerzüchter der Theatergeschichte, hat den ebenso ehrgeizigen Vorsatz, sein eigenes, ehrloses Reich zu zerstören und dadurch globale Gerechtigkeit zu schaffen. Keine der anderen Figuren kann ihn aufhalten – aber auch dieser Plan scheitert aufgrund von absurder, höherer Gewalt: Der erobernde Germanenfürst entpuppt sich als ebenso machtlos wie Romulus selbst, es gibt keine Gerechtigkeit für niemanden, die Welt dreht sich unverändert weiter. Auch die drei Physiker Beutler, Ernesti und Möbius sind allesamt entschlossen, den Lauf der Geschichte zu gestalten, sie ringen mit globalen Mächten und Geheimdiensten – und sie alle müssen sich dem perversen Irrsinn fügen, der sich längst in alle Bereiche der Gesellschaft verbreitet hat, über deren Rettung sie so vergeblich diskutieren. 

Diese Ablehnung der figurengetriebenen Handlungslogik macht Dürrenmatt erst richtig radikal, macht ihn (zusammen mit Kafka) zu einem der seltenen wirklich atheistischen Autoren. Er verweigert seinen Lesern und Zuschauern nicht nur den glücksbringenden deus ex machina, sondern lässt auch in der Katastrophe keine Spur eines Großen Erzählers durchscheinen, sei es tragische Ironie oder poetische Gerechtigkeit. „Das Grauenhafte am Universum ist nicht, dass es bösartig wäre, sondern dass es indifferent ist“, wie Kubrick in Anlehnung an H.P. Lovecraft einmal postulierte.  

Dieser Frevel musste Menschen vor den Kopf stoßen, die sich nach einer wie auch immer gearteten Ordnung im Universum sehnen – und nicht nur den Maler Varlin. Das sieht man vielleicht am klarsten in der Entstehungsgeschichte von Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen. Der Stoff begann als Drehbuch für den Schweizer Film-Mogul Lazar Wechsler, das Dürrenmatt, der mit dem Zeitdruck dieser literarischen Form überfordert war, allzu schnell aus den Händen gerissen und für den Dreh vorbereitet wurde. Das Buch war eine Auftragsarbeit und, mit Verlaub, nichts Besonderes: Der Kommissar stellt dem Kindermörder eine Falle; der Kindermörder wird geschnappt. Noch vor Drehbeginn fiel Dürrenmatt ein Ende ein, das seiner Weltsicht besser entspricht: Der Kommissar stellt dem Kindermörder eine Falle – aber der Kindermörder gerät auf dem Weg dorthin in einen Autounfall und erscheint nicht. All der Spannungsaufbau, all die Anstrengungen des Helden – sie laufen ins Leere. Es war nicht seine heilige Entschlossenheit, die ihn vernichtet hat, nicht einmal die zweifelhaften moralischen Entscheidungen, die er unterwegs treffen musste – es war einfach Pech. Stell dir vor, es ist Peripetie, und keiner kriegt es mit. 

Kein Wunder, dass Wechsler diese Fassung vehement ablehnte und lieber den Standardplot mit Heinz Rühmann und Gert Fröbe als Es geschah am hellichten Tag verfilmte. Dürrenmatt schrieb seine Version zum Versprechen um, aber den Erfolg hatte erstmal die Verfilmung: Das Publikum war nicht bereit für die Darstellung eines Schicksals, das wirklich blind und willkürlich waltet. Ironischerweise war es dann ein Kino-Trend im neuen Jahrtausend, Filme im willkürlichen, dürrenmattesken Schock enden zu lassen. Darunter fiel nicht nur die amerikanische Neuverfilmung von Das Versprechen (2001), auch Filme wie Gangs of New York (2002) oder Apocalypto (2006) mündeten abrupt in der historisch-kosmischen Katastrophe, die einen zugespitzten persönlichen Konflikt einfach ausbremst und ad absurdum führt. 

Aber worin liegt da eigentlich der Schrecken? Warum ist Varlin von dem Gemälde überhaupt so abgestoßen? Der Schock besteht darin, wie wenig Dürrenmatt das menschliche Schicksal zu würdigen scheint. Er war nie ein empathischer Autor, der seine Leser eingeladen hätte, sich in die Gedanken- oder, gottbewahre, in die Gefühlswelt seiner Figuren hineinzuversetzen. Er scheint seine Figurenkonstellationen eher wie einen Versuchsaufbau zu verstehen, dessen resultierendes Chaos amüsant anzusehen, aber nicht sonderlich tragisch ist.

Und wer Die Katastrophe sieht, findet darin eine ähnliche Perspektive – und findet Dürrenmatts flache und emotionslose Beschreibung durchaus akkurat: Es ist ein irrsinniges Wimmelbild des Schreckens, eine atemlose Aufzählung. Nichts steht hier im Vordergrund, kein individuelles Schicksal, kein Schrei, keine Figur. Der Tod eines Menschen erhält die gleiche Gewichtung wie ein herabstürzender Felsbrocken – aber auch wie die Auslöschung eines ganzen Sonnensystems. Der Blick ist so weit entfernt, dass man es als „kosmischen Standpunkt“ beschreiben könnte; die Perspektive eines neugierigen, aber letztlich uninteressierten Gottes. 

Sicherlich gab es unter Dürrenmatts Zeitgenossen, wie eigentlich immer in der Literaturgeschichte, keinen Mangel an Kulturpessimisten, Untergangspropheten und sogar Apokalyptikern. Es ist dieser Tonfall, der Dürrenmatt einzigartig macht: Keine Spur von einer heiligen Wut über die Geschehnisse, kein Hauch von Propaganda oder einem Aufruf zur Auflehnung gegen dieses Schicksal – nur ein klarer, kühler Blick auf die Unausweichlichkeit des menschlichen Scheiterns. 

Warum will ich Varlin also widersprechen? Warum denke ich, dass ein erwachsener Mensch genau solche Bilder malen, genau solche Theaterstücke und Romane schreiben sollte? Aus einem Grund, den ich mit 20 nur verschämt genannt hätte, den ich heute aber als profunder verstehe: Weil es komisch ist. 

Dürrenmatts „Komödien“-Begriff hat mich schon immer skandalisiert. Der Mann klebte das Label scheinbar ungesehen auf praktisch all seine Theaterstücke, direkt vorne drauf! Einige davon könnte man, trotz der geschilderten persönlichen, gesellschaftlichen oder sogar kosmischen Katastrophen vielleicht noch als pechschwarze Komödien durchgehen lassen. Oder wenigstens als Farce. Aber Der Meteor, eine Komödie? Die WiedertäuferTitus Andronicus, um Himmels Willen?!

Varlin erkennt den Humor, aber er findet ihn infantil. Dass die radikale Gleichsetzung allen Übels die Bachtinschen Karnevalskategorien erfüllt, schützt sie in seinen Augen nicht vor Geschmacklosigkeit. ‚Sicher‘, höre ich den großen Maler sagen, ‚aus kosmischer Perspektive sind wir alle lächerlich‘. Aber ist das nicht defätistisch, ja sogar zynisch? Wenn es keine Gewichtung gibt, kein menschliches Drama, wenn die Intentionen der Menschen nichts zählen, wenn wir alle nur existenzialistischer Schuttregen sind, Spielbälle eines willkürlichen, sinnlosen Schicksals – warum dann überhaupt nach etwas streben? Warum überhaupt etwas erzählen? Warum überhaupt leben? 

Dürrenmatts Antwort ist in der Frage versteckt. Einem alten Sprichwort zufolge ist die Art und Weise des eigenen Untergangs keineswegs unwichtig – vor allem, wenn der Untergang das einzige ist, was einem noch geblieben ist. Es mag für den Ausgang seines Schicksals vielleicht keine Rolle spielen, welche Ziele und Intentionen der Dürrenmattsche Held ursprünglich hatte. Aber das heißt beileibe nicht, dass seine Handlungen unbedeutend waren. Nicht selten entscheiden sie darüber, wie viele Mitmenschen der Held mit sich in den Untergang reißt – und wie er selbst mit der Tragödie umgehen kann.

Schauen wir uns nun doch einmal an, wie die Dürrenmattschen Helden die unausweichliche Zerstörung ihres Lebenswerks verkraften. Nebukadnezar verflucht Gott und die Welt und widmet sich und sein Reich dem hilflosen Wahnsinn. Johann Wilhelm Möbius und Kommissar Matthäi ergeben sich dem Irrsinn der Welt und vegetieren als gebrochene Gestalten ihr Leben zu Ende. Und Romulus der Große? Romulus nimmt’s mit Humor. Nicht, weil seine Pensionierung auf einem Landgut glimpflich wäre – es ist im Gegenteil die größte Zerstörung seiner Existenz und wird zudem recht bald in einem gewaltsamen Tod enden, wie er selbst weiß. Aber Romulus besitzt eine weithin unterschätzte Fähigkeit – die zum Schulterzucken. „Ertragen wir denn das Bittere“, meint er lakonisch. „Spielen wir noch einmal, zum letzten Mal, Komödie.“ Dürrematt würde niemals eine Figur offen belohnen, aber für mich war immer klar, wer hier als Modell für ein erfolgreiches Leben angeboten wurde. 

Und das bringt uns zur letzten Deutung der zitierten Malerei-Anekdote: Zu Dürrenmatts Selbstportrait. Es gibt nur wenige Autoren, die wirklich klug und einsichtig über sich selbst schreiben können. Dürrenmatt, dessen Autobiographie eine endlose Quelle an Denkanstößen und Kuriositäten ist, schafft es nur deshalb, weil er eine dritte Zutat dazu mischt: die Komik. Hier wird endgültig klar, dass seine Figuren für ihn nicht „andere Menschen“ sind, die ihm gleichgültig wären – er schildert auch sein eigenes Leben, seine Erfolge wie Katastrophen, mit dem gleichen nüchternen, liebevollen, leicht spöttischen Blick, aus der Sicht eines unbeteiligten, uninteressierten Erzählers, der selbst zugeben muss, dass seine Geschichte keiner Logik folgt, aber trotzdem unterhaltsam ist. Er macht sein eigenes Leben zur Komödie.   

Ich verstehe Dürrenmatts „Komödien“-Begriff daher weniger als Beschreibung, sondern eher als Aufforderung. Das Universum mag sich nicht um unsere ehrgeizigen Pläne und unsere hehren Intentionen scheren; das Schicksal mag blind, blöd und ohne Sinn für narrative Stimmigkeit sein; und das Leben mag sehr wohl „nasty, brutish and short“ ausfallen, wie Thomas Hobbes einst warnte – aber das heißt nicht, dass unsere Pläne sinnlos sind; dass unsere Intentionen nicht echte Auswirkungen auf die Menschen um uns herum haben; und vor allem heißt es nicht, dass wir unseren Humor verlieren sollten. 

Als junger Mensch darf man über Dürrenmatts Literatur lachen, ebenso wie über sein Gemälde Die Katastrophe. Als erwachsener Mensch sollte man es sogar. Nicht, weil man das dargestellte Leiden damit abschwächt, verdrängt oder lächerlich macht. Sondern weil wir es selbst sind, die da abgebildet sind. Lachen über Dürrenmatt ist der erste Schritt auf dem Weg, über sich selbst zu lachen. Es wird uns nicht vor der Katastrophe bewahren – aber vielleicht wird es uns dabei helfen, sie (und uns selbst) ein wenig besser zu ertragen.