Relativ gelungen
Stefan Descher legt eine Untersuchung zu Interpretationstheorien vor
Von Karin S. Wozonig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Buch Relativismus in der Literaturwissenschaft. Studien zu relativistischen Theorien der Interpretation literarischer Texte von Stefan Descher geht auf eine Dissertation zurück, die im Rahmen des Doktorandenkolloquiums von Simone Winko und Tilmann Köppe in Göttingen entstanden ist. Das lässt eine fundierte und meinungsstarke Auseinandersetzung mit einem Thema erhoffen, das für die Literaturwissenschaft üblicherweise keines ist, da jede Interpretationshypothese per definitionem relativistisch ist, nämlich abhängig vom individuellen Textverstehen.
So steht am Anfang des Buches auch gleich ein mindestens doppelter Relativismus: Erstens der des Autors William Shakespeare, der seine Figur Hamlet sagen lässt: „For there is nothing either good or bad, but thinking makes it so.“ Und zweitens der Hinweis des Verfassers, es gebe „unterschiedliche Lesarten“ dieser Textstelle. Descher entscheidet sich – beim Thema der Arbeit wenig überraschend – für diejenige, dass es sich „im Kern um einen relativistischen Gedanken handelt“. Die Abhängigkeit bestehe hier „von der Person, die das Urteil fällt, und vor allem von dem, was diese Person denkt.“ So ist es, könnte man an dieser Stelle dem Autor Descher, Shakespeare und gleich auch noch Hamlet beipflichten und das Buch zur Seite legen. Da sich der zweite Teil laut Inhaltsübersicht aber mit „Begründungsstrategien für den Interpretationsrelativismus“ und im dritten Teil mit relativistischen „Problemfeldern“ befasst, liegt die Vermutung nahe, dass Descher trotz des relativistischen Einstiegs einiges gegen den Relativismus in der Literaturwissenschaft vorzubringen hat. Zumal Kapitel III. 2, ein Unterkapitel der Problemfelder, nicht schlicht „Plausibilität statt Wahrheit“, sondern „Plausibilität statt Wahrheit?“ heißt und Unterkapitel III.1 mit der zweifelnden Frage „Interpretiert jeder sein eigenes Werk?“ betitelt ist. Und tatsächlich: Nicht weniger als „nach der Berechtigung relativistischer Positionen in der Literaturwissenschaft zu fragen“, hat sich der Verfasser zum Ziel gesetzt.
Um ihm auf dem Weg dorthin mit Gewinn zu folgen, muss man von einer Prämisse ausgehen, die nicht mehr ganz leicht zu halten ist, nämlich, dass es überhaupt eine nicht-relativistische Literaturwissenschaft gibt, von der sich eine relativistische abzuheben vermag.
Descher bezeichnet das als „Bild, das man sich vom Interpretieren literarischer Texte machen kann“, ein Bild, demzufolge „Interpreten […] prinzipiell richtige und falsche Aussagen“ über literarische Texte machen können. Die „Idee“ hinter dem Bild sei: „Wenn wir Texte interpretieren, dann können und sollen wir herausfinden, was diese tatsächlich bedeuten, welche Interpretationen tatsächlich korrekt sind.“ Vor dieser Folie der disziplinären Selbstabschaffung ist nun die weitere theoretische Bemühung Deschers zu lesen.
Sie besteht unter anderem aus der sehr detaillieren Darstellung der Fallen dekonstruktivistischer Lektüren (Kapitel II. 1); der Behandlung des Problems, dass nicht abgegrenzte Interpretationsgemeinschaften keine Interpretation bzw. nur Beliebigkeit zulassen (Kapitel II.2: Pragmatischer Interpretationsrelativismus, Stanley Fish); der Analyse des Umstands, dass auch Plausibles von Kontingenz angekränkelt wird (dargestellt anhand des „Wahrheitstheoretischen Relativismus“, behandelt in Kapitel II.3), und aus stoffreichen Ausführungen zur Tatsache, dass Interpretationen gelegentlich nichts anderes tun, als einem Werk Eigenschaften zuzuschreiben, die dem Interpreten gerade zupasskommen.
Interessant ist bei all dem, dass Deschers Darstellung relativistischer Konzepte nebenbei aufzeigt, dass es auch fast vierzig Jahre nach Jean-Franҫois Lyotards Fundamentalkritik an universalistischen Erklärungsmustern und Theorieentwürfen überraschend wenig produktive Beispiele für den Umgang mit konkurrierenden Interpretationen gibt. Wobei die Gelegenheiten, bei denen aus institutionellen Gründen (zum Beispiel Ressourcenmangel) der Raum der höflichen Toleranz verlassen wird, noch ein verhältnismäßig geringes Problem darstellen. Bedeutender und folgenreicher ist wohl die daraus resultierende Dauerbelastung für die Literaturdidaktik.
Diese ist allerdings nicht Untersuchungsgegenstand der hier zu besprechenden Studie. Apodiktisch erklärt der Autor am Ende, keine der von ihm untersuchten „relativistischen Interpretationstheorien“ könne „in zufriedenstellender Weise begründet werden“. Bezeichnenderweise argumentiert der Verfasser gegen diese Theorien oder Teile davon mit dem Argument der „Überzeugungskraft“ und führt am Ende die reichlich schwammige Kategorie „Erfolg“ ein: Er vermutet, „dass diejenigen relativistischen Theorien, deren zentrales Manöver darin besteht, die Vorstellung stabiler Bedeutungen schlechthin zu kritisieren, die geringste Aussicht auf Erfolg haben dürften.“ Kommunikationstheoretisch ist das sicher korrekt.
Ein hübscher Schluss gelingt Descher mit der Behauptung, sein (theoretisch fundiertes) Postmoderne-Bashing sei geradezu die Voraussetzung dafür, konkurrierende Interpretationen anzuerkennen, weil es sich von der relativistischen Beliebigkeit absetzt. Dass er dabei Toleranz mit Akzeptanz verwechselt, schadet dem Befund kaum.
Die Studie breitet eine Fülle an Material zur Theoriebildung seit den frühen 1980er Jahren aus und findet eine interessante Perspektive auf die Postmoderne in der Literaturwissenschaft. Und auch wenn der in dieser Studie geübte ausschließliche Gebrauch des generischen Maskulinums im literaturwissenschaftlichen Diskurs schon etwas Schrulliges hat, gehört das Buch doch stilistisch zum besser Gelungenen in der Menge der hermeneutischen Abwehrzauber, die immer schon als Begleittexte neben den Theorien der uneindeutigen Lektüren herlaufen.
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