Thomas Mann in einem anderen Licht

Heinrich Detering gelingt ein biographisches „Update“ des Literaturnobelpreisträgers

Von Michael FasselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Fassel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Betrachtet man das Cover von Heinrich Deterings Buch Das Meer meiner Kindheit, so sieht man Thomas Mann – dem Betrachter den Rücken zugewandt – bei einem Spaziergang in Schweden an der Ostsee. Auf dem abschließenden Rückdeckel wird man einem der bekanntesten Vampire der deutschen Filmgeschichte, Nosferatu, ansichtig. Die Szene zeigt den Untoten am offenen Fenster mit Blick auf die Stadt Lübeck. Der Kontrast der Bilder könnte unterschiedlicher nicht sein und spiegelt sehr gelungen die Ambivalenz in Thomas Manns Haltung zu Lübeck wider, der in seinen Kinder- und Jugendjahren aufgrund seiner Homosexualität unter Stigmatisierungen gelitten hat. Gleichzeitig kann er sich von seiner Vaterstadt in seinen Texten und Reden, wie etwa in der Ansprache Lübeck als geistige Lebensform vom 5. Juni 1926, nicht losschreiben.

Vor dieser Ausgangslage zwischen „Verklärung und Dämonisierung“ entfaltet Detering das Innenleben des Literaturnobelpreisträgers, indem er den biographischen Spuren Manns sowohl in dessen literarischen Werken wie etwa Die Buddenbrooks (1901) als auch in dessen Essays und handschriftlichen Randnotizen nachgeht. Während er in den Dämonen diffuse Empfindungen wie Stigmatisierung, Außenseitertum und die damals tabuisierte Homosexualität sieht, betrachtet Detering die Autoren wie Theodor Storm, Henrik Ibsen oder Detlev Liliencron, dem das Abschlusskapitel gewidmet wird, als greifbare Schutzgeister. Er hebt sich von anderen Mann-Biographien insofern ab, als der Literaturwissenschaftler in jedem der sechs Kapitel eine doppelte Perspektivierung Manns in den Fokus rückt: „auf den erwachsenen Schriftsteller, der auf seine eigene Kindheit und Jugend zurückblickt, und auf den Heranwachsenden, den er uns zeigt“.

Obwohl das Buch im Gegensatz zu anderen Thomas-Mann-Biographien eher schmal und mit sechs Kapiteln überschaubar ist, zeugt es von einer beachtenswerten Tiefe. Detering beleuchtet Kindheit und Jugend, die den Schriftsteller sehr stark geprägt haben. In Kapitel I unterzieht er zum Beispiel Die Buddenbrooks einer Re-Lektüre, indem er den Roman als Schauergeschichte liest und phantastische Elemente herausarbeitet. Er plausibilisiert die These, dass Thomas Mann in den Buddenbrooks zum einen sein „Kindheitstrauma vom Verfall seiner eigenen Lübecker Familie ins Modellhafte transformiert“ und zum anderen die eigene Lesesozialisation verarbeitet, die sich u.a. aus E.T.A. Hoffmanns Erzählungen oder den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm speist. Im Rahmen dieser Neuinterpretation überzeugt insbesondere die Lesart, dass das Haus der Buddenbrooks ein physisches Eigenleben führe, was an das sogenannte haunted mansion narrative erinnere.

Auch in den anderen Kapiteln greift Detering die prägende Jugendzeit des gescheiterten Gymnasiasten Mann immer wieder auf. So habe beispielsweise die Stigmatisierung der Homosexualität seinerzeit einen immensen Einfluss auf Manns Schreiben gehabt. „Die Protagonisten des Lübecker Pubertätsdramas sind Mitschüler, denen Liebe gilt, die nicht ausgesprochen werden kann und darf“. Die homoerotisch aufgeladenen Schulfreundschaften finden schließlich fiktionalisiert bei „Tonio Krögers Knabenliebe zum blonden, blauäugigen und gänzlich unpoetischen Hans Hansen“ ihren Ausdruck.

Das Meer meiner Kindheit wirft zwar kein gänzlich überraschendes, wohl aber ein erhellendes Licht auf den Schriftsteller Thomas Mann. In nur sechs Kapiteln gelingt es Detering neue Zusammenhänge zwischen prägenden biographischen Ereignissen und den Texten Manns herzustellen. Ein gelungenes Update.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Heinrich Detering: Das Meer meiner Kindheit. Thomas Manns Lübecker Dämonen.
Boyens Buchverlag, Heide 2016.
278 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783804214453

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