Dictatura literaria

Imagination des literarischen Raumes in Sowjetgeorgien

Von Zaal AndronikashviliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Zaal Andronikashvili

George Orwells Roman 1984 bringt die Logik der totalitären Macht auf den Punkt: Es gilt nicht nur die Öffentlichkeit auszuschalten und den öffentlichen Raum zu zerstören, sondern jeden freien Raum, einschließlich den des Privaten, ihrem Gesetz unterzuordnen. Ist es einem Menschen möglich, einen freien, autonomen, keinem fremden Gesetz unterworfenen Raum in einem totalitären Staat zu konstituieren, wenn es dessen Strategie ist, jede Art von Autonomie auszuschalten? In Guram Dotscanaschwilis (geb. 1939) Erzählung Der Mann, der die Literatur sehr liebte (kaci romelsac liṭeraṭura ʒlier uqvarda, 1973) wird der Fotograf Wasiko Kescheradse von einem frisch gebackenen wissenschaftlichen Mitarbeiter eines Meinungsforschungsinstituts, dem Ich-Erzähler namens Tamas und dessen „jungen und dynamischen“ Chef befragt. Gegenstand des Interviews soll das Privatleben einer zufällig ausgewählten Berufsgruppe (der Fotografen) sein. Das „hochaktuelle“, „praktische Interesse“ seines Auftrages besteht darin, „die effektivsten Methoden zur Einwirkung auf das Menschliche Bewusstsein zu ergründen“. Das gescheiterte Interview über die freie Zeit, das den Icherzähler um seine Stellung bringt, entwickelt sich im Laufe der Erzählung zu einer Reflexion über den freien Raum.

I.

Kescheradse verblüfft den Meinungsforscher, indem er die ökonomische Logik auf den Kopf stellt und dessen Fragen ausschließlich auf die Literatur bezieht: Sein Beruf sei ihm gleichgültig, weil er die Literatur sehr liebe; seine Wohnverhältnisse seien gut, weil er keine Zentralheizung, dafür aber zwei große Bücherschränke, einen Sessel und eine Leselampe besitze; er möge Kleidung mit breiten Taschen, weil jedes Buch hinein passe; er könne keine öffentliche Rede halten, weil er nicht gleich zu einem Menschen, der Stendhal gelesen, und einem der ihn nicht gelesen habe, reden könne. Anders als die Litearaturbanausen strebe er keine Beförderung und keinen Aufstieg an. Was verbirgt sich hinter der Literaturbesessenheit des Fotografen?

Noch vor dem Interview irritiert Kescheradse den Soziologen: er erinnere ihn an jemanden, an einen gewissen „Aureliano dem Dicken bevor er dick wurde“, dem „Cousin des Marschalls, dem Mann von Eulalia“. Das Missverständnis klärt sich auf: der nicht belesene Tamas hat weder den „ Bittencourt-Roman“, noch den „Anselmo-Roman von Vargas Llosa“ gelesen und kann die Anspielung des Fotografen deshalb nicht verstehen. Der „Bittencourt-Roman“ (Dotschanaschwilis samoseli ṗirveli, 1975-80 in deutscher Übersetzung Das erste Gewand, Hanser 2018), hat weniger mit dem „Anselmo-Roman“ (Mario Vargas Llosas Das Grüne Haus, La casa verde, 1965) zu tun als mit dessen ein Jahr nach dem Das beste Gewand erschienenen Krieg am Ende der Welt (La guerra del fin del mundo, 1981).

Beide Romane thematisieren die Geschichte von Canudos, einer Kolonie, die in der brasilianischen Provinz Bihaia von einem Prediger Antônio Vicente Mendes Macie, genannt Antônio Conselheiro 1893 gegründet wurde. Die quasikommunistische Kolonie, die hauptsächlich von landlosen Bauern, ehemaligen Sklaven und Indigenen bevölkert wurde, erlangte bald den Ruf des Schlaraffenlandes. 1895 zählte sie bereits 30.000 Einwohner. Die Existenz einer autonomen (irrtümlicherweise als monarchistisch und separatistisch bezeichneten) Kolonie, die sich auch wirtschaftlich durch Lederhandel behaupten konnte, fasste die republikanische Regierung Brasiliens als eine Bedrohung und Herausforderung eigener Legitimität auf. Drei militärische Expeditionen scheiterten am erbitterten Widerstand der Canudosianer. Die vierte Expedition (1897), unter persönlicher Supervision des Kriegsministers, Marschall Carlos Machado de Bittencourt, führte nach der achtmonatigen Belagerung zum brutalen Massaker an den Kolonisten und zur Zerstörung der Kolonie.

Durch die Ähnlichkeit mit dem Cousin des Kriegsministers werden Tamas und sein Chef, der Giangiacomo Seminario, dem älteren Bruder des Marschalls ähnlich sieht,– mit dem repressiven Staat assoziiert. Diese Assoziation wird durch die sprachliche Ebene verstärkt: die Sprache, in der der Chef seinem Mitarbeiter den Auftrag gibt ist eine entstellte Amtssprache, die an die Sprachexperimente Andrej Platonows erinnert. Dessen Wortwahl, er käme aus einer „zuständigen Behörde“ bzw. einer „Instanz“ sollte für ein sowjetisches Ohr unmissverständlich nach einem repressiven Staatsapparat klingen.Die Erwähnung von Canudos impliziert dagegen die Flucht in ein freies Gebiet und eine Neugründung, die nach eigenen, freiheitlichen Gesetzen geordnet und von dem repressiven Staat unabhängig ist.

Die Identifizierbarkeit des Raumes der Literatur mit der freien Republik führt eine politische Dimension in die Erzählung ein und trennt zwei Bereiche: des (totalitären) Staates, der (totale) Kontrolle über die Menschen anstrebt, und dem der Literatur in das sich der Fotograf, sein Assistent Klim, aber auch jeder Sowjetbürger zurückziehen und seine Freiheit und Autonomie behaupten kann. Kescheradse könnte etwa nach dem Muster der Unabhängigkeitskämpfer des 19 Jahrhunderts sich in den Nationalen Sprachraum zurückziehen und das Konzept der Kulturnation aktualisieren, die Literatur als ein Instrument des politischen Kampfes für die Unabhängigkeit verwenden oder wie älteren Kollegen Dotschanaschwilis Zuflucht im mythologisierten nationalen Geschichtsraum finden. Er wählt aber den anderen Weg. Kescheradse spricht zwar georgisch, sein Raum und seine Sprache sind vielmehr eine besondere Sprache und ein besonderer Raum der Weltliteratur die im Fall Kescheradses grundsätzlich für die (persönliche) Freiheit steht.[1]

II.

Der Antagonismus zwischen Literatur bzw. Kunst und Politik kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Laut Pascale Casanova ist die – immer relative – Autonomie ein wesentliches Charakteristikum des Weltraumes der Literatur. Dank dieser Autonomie sei es möglich, spezifische Gesetze zu erstellen. Der kategorische Imperativ der Autonomie sei der Kampf gegen die Intervention der Politik in die Literatur.[2] Erst im 19. Jahrhundert könnte das „literarische Feld“ (Bourdieu) seine Autonomie vom Feld der Macht behaupten. Ein „autonomer“ Schriftsteller ist auch ein „Ideal“ Kescheradses: „ein stolzer, zerlumpter Vagabund, der, einen Adler auf dem Schulter, auf dem Wolf reitet, wenn man auch sagt, die Adler auch nicht zu zähmen seien“.[3] Doch wenn Kescheradse über die Literatur spricht, meint er nicht die Produktion, sondern die Rezeption. Die Akzentuierung der Rezeption, des Lesers und nicht des Autors ist signifikant: Das literarische Produktionsfeld war in der Sowjetunion der politischen Macht untergeordnet, der Schriftsteller (Schoßhunddresseur in der prächtigen Hussarenuniform – würde Kescheradse sagen) – qua obligatorischer Mitgliedschaft in der Schriftstellerunion – wurde in den Dienst des Systems gestellt, das sowjetische literarische Feld war keineswegs autonom.

Dagegen – so Kescheradse – kann sich der Leser gerade im Akt des Lesens befreien: „Es gibt etwas gemeinsames zwischen Weintrinken und Lesen“ – reflektiert er – „Beide führen zur so genannten persönlichen Freiheit. In einem Falle ist jedoch diese Freiheit zügellos, schmachvoll, erniedrigend, durch Verantwortungslosigkeit erzeugt. Im anderen ist sie erhaben, groß und allmächtig“.[4] Beides, das Weintrinken und das Lesen eröffnen einen „freien“ Raum, wie ist jedoch dieser Raum, in den sich der Fotograf zurückzieht und seine autonome literarische Welt begründet, beschaffen?

Der Raum des Fotografen ist das „spiegelverkehrte Gegenbild der Ökonomischen Welt“[5], der im Gegensatz zum Raum des Soziologen nicht hierarchisch sondern egalitär ist: „Für Euch“ – sagt er dem Soziologen – „gibt es keine Gleichen […] nur Obere und Untere […] Was haben dagegen Klim und ich zu teilen? Ihr könnt mich den Generaldirektor des Fotoateliers nennen und ihn den Assistenten – wir sind trotzdem eins, weil wir die Literatur sehr lieben“.[6] Andererseits funktioniert dieser Raum nach eigenen, nichtempirischen Gesetzen: „Nehmen wir an, auf der Straße steht [ein] wohlverwöhnter, selbstzufriedener Grandseigneur, und daneben […] dieser große Spanier, ein stolzer, zerlumpter, hungriger Krüppel […] und ein Mathematiker jener Tage geht an ihnen vorbei. […] Wenn man ihn fragt, wie viele Menschen stehen auf der Straße wird er vielleicht antworten: ,Zwei’. Ist das eine Antwort? Wieso zwei? Dieser und jener sollen also eins plus eins sein? Nein, nein, manchmal ist die Mathematik keine exakte Wissenschaft. In der Literatur dagegen, mein lieber, ist solche Ungenauigkeit ausgeschlossen, obwohl sie die gesetzloseste aller Wissenschaften ist“.[7]

Die „Gesetzlosigkeit der Literatur“, der ihr inhärenter Egalitarismus sowie die Bezeichnung der Literatur als Wissenschaft könnte uns an das humanistische Konzept der Respublica literaria verweisen.[8] Der Ausdruck literae – so Peter Burke – entspreche unserem Ausdruck der Gelehrsamkeit, wobei die „Humanisten, die den Begriff prägten, Gelehrsamkeit vom Literarischen und Sprachlichen her verstanden haben“ – die Unterscheidung zwischen Gelehrten und Literaten nahm erst im 18. Jahrhundert zu.[9] Respublica literaria, „Imaginäre Gemeinschaft“ bzw. „Erfundene Nation“ der Gelehrten (Burke), die „Raum und Zeit und transzendierte und sich deshalb über die Diversität der Sprache, Religion und Nationalität erhob“[10], erreichte ihre Blüte zwischen 1550 und 1789.[11] „Die Gelehrtenrepublik (La république des Lettres)“ – so der französische Schriftsteller Noël Argon im unter dem Pseudonim M. de Vigneul-Marville veröffentlichten Buch Mélanges d’historie et de literature (1699) – ist sehr alt. „[…] Sie war noch nie so groß, so dicht bevölkert, so frei und so glorreich. Sie umfasst die ganze Welt und setzt sich aus allen Nationalitäten, sozialen Klassen, Generationen und beiden Geschlechtern zusammen. […] Dort werden alle Sprachen, alte wie neue, gesprochen.“[12]

Freiheit und Gleichheit sind wesentliche Marker der Gelehrtenrepublik: „In der Gelehrtenrepublik, wo die Freiheit herrscht, ist ein ungemein freier Staat. Man erkennt in ihm nur die Herrschaft der Wahrheit und der Vernunft an. […] Jeder ist darin ein Herrscher und zugleich der Gerichtsbarkeit eines jeden unterworfen“ – so Pierre Bayle in seinem Historisches und kritisches Wörterbuch (1697).[13] Die Gelehrtenrepublik kann sowohl autonom in Bezug auf den Feld der Macht – ein „,Traum von Gleichheit’ in der hierarchisch organisierten Gesellschaft“[14] – sowie mit Pierre Bordieu (der im Begriff der Gelehrtenrepublik eine „erhellende Analogie“ zum von ihm analysierten Literaturfeld sieht) als anomisch (in Bezug auf ihre innere Ordnung), weil „niemand mehr als absoluter Herr und Besitzer des nomos, des Prinzips legitimer Vision und Division aufspielen kann“ beschrieben werden.[15] Beides, die Autonomie vom Feld der macht und die interne Anomie scheinen für den literarischen Raum, in den sich Kescheradse zurückzieht, konstitutiv sein. Es gibt jedoch einen unterschied. Die Gegenüberstellung der Freiheit des Weintrinkens mit der Freiheit des Lesens markiert die Grenze zwischen der „zügellosen“ Anomie des Weintrinkens und der „erhabenen“ Autonomie der Gelehrtenrepublik. Worin besteht aber diese Autonomie?

Auf die Frage des Meinungsforschers, welche Literatur er denn so liebt, etwa die Sachbücher, antwortet der Fotograf lächelnd: „nein, die schöngeistige“. Den Einwand des Soziologen, die „schöngeistige“ Literatur sei eine enge Definition, weil es auch Dokumentarliteratur und Sachbuch, wissenschaftliche Literatur und Lehrbuch gebe, antwortet Kescheradse ironisch: „mein lieber, du hast die Broschüre vergessen“. Die Textordnung Kescheradses schließt alle anderen Gattungen mit Ausnahme der schöngeistigen Literatur aus dem Begriff der Literatur aus, mit einem Ziel, gerade die Sprengkraft des Fiktionalen zu betonen. Das fiktionale potential der Literatur erlaubt Kescheradse die Freiheit gerade dort zu erlangen, wo der totalitäre Staat sie einschränken will. Beschränkt der Staat die Bewegungsfreiheit, so breitet sich die Lektüre zu einer Weltkarte, freilich der Weltkarte der Literatur aus. Der Leser wird zum einzigen wahren Reisenden: „Es ist schwer zu sagen, wer wirklich in Peru oder Nigeria war, ich oder der Seemann der die ganze Welt bereist hat“[16] – sagt Kescheradse.

Möchte der Staat den Menschen in der Raumzeit genau lokalisieren und kontrollieren, so beharrt der Leser auf seiner Unlokalisierbarkeit: „Mein Gott, was haben wir [die Leser, Z.A.] alles erlebt!“ – sagt Kescheradse – „Wie oft waren wir verliebt von allem anderen ganz zu schweigen! […] wer zählt schon, wie viele Frauen wir noch geliebt haben. Wo bin ich nicht überall gewesen, welche Länder habe ich nicht alle bereist! […] Man sagt, die Katzen haben neun Leben, aber, eh, wie viele verschiedene Leben habe ich gesehen! Und da beschäftigt euch […] die Frage, wie viel Minuten ich verliere, wenn ich nach Nudeln anstehe, wo ich gerade wer weiß wo bin“.[17]

Der wichtigste Punkt für die Begründung der Autonomie ist aber die Freiheit vor dem Tod: „Wir […] haben von dem Tod viel weniger Angst, weil wir schon mehrfach gestorben sind, und alles, mein Gott, alles überlebt haben“.[18] Mit der Teilhabe an Literatur, wird der Leser zu einem Teil der sich selbst reproduzierenden „Ewigkeitsmaschine“: „Übrigens, werden Physiker nie ein Perpetuum Mobile schaffen, die Literatur hat es aber schon hervorgebracht – Don Quijote“. [19]

III.

Die Begründung der Autonomie geschieht aber zum Preis der Verschmelzung empirischer Welt mit der Lesewelt und nimmt die durch die Anspielung an Canudos eingeführte Dimension des politischen Kampfes wieder zurück: „Und so einer wie ich kraftlos auf dem Sterbebett liegend, wird sagen können: ‚Ach, es ist doch verdammt schön gewesen’ und so ein einer wie Sie, gesund und kräftig wird dann schadenfroh fragen, ‚was, das Leben oder die Literatur?’ und wissen Sie, was ich darauf antworten werde? […] ‚war das etwa nicht das gleiche?’“[20]

Mit dem Rückzug in der Bereich des Fiktionalen endet auch die Ähnlichkeit mit der respublica literaria: Neben Ähnlichkeiten gibt es auch unterschiede, die nicht minder konstitutiv sind. In seinem Aufsatz „Communication in the Respublica literaria of the 17th century“ bezeichnet Paul Dibon die Kommunikation als „Mittel und Ziel“ (means and as an end) der Gelehrtenrepublik. Ruft der briefliche und persönliche Austausch, die „räumliche Kommunikation“ zwischen den „Bürgern“ der Gelehrtenrepublik zum Leben und hält sie zusammen, wird die „Literaturrepublik“ Kescheradses dagegen aus der Unmöglichkeit der räumlichen, horizontalen Kommunikation, dem Abbruch der Öffentlichkeit im totalitären Staat geboren. Seine Vorstellung ist auf einer zeitlichen, vertikalen Kommunikation eines Individuums mit der Literaturwelt gegründet: „im Traum kann man sich durchaus durch Jahrhunderte spazieren“ – sagt Kescheradse. Das Fehlen der „horizontalen“ Kommunikation macht die literarische Republik Kescheradses zu einem geschlossenen fiktionalen utopischen Raum eines einzelnen. Bisher haben wir gesehen, dass er der Kontrolle totalitärer Macht zu entgehen erlaubt. Wie steht es aber mit der Gründung eines literarischen Canudos, einer „imaginierten Gemeinschaft“ der Literaturliebhaber?

Der Abbruch horizontaler Kommunikation im totalitären Staat und die daraus resultierende Notwendigkeit des Bezugs auf die Vertikale Kommunikation wird – wesentlich nuancierter – in einem Interview des georgischen Philosophen Merab Mamardaschwili (1930-90) „Idee der Kontinuität und die philosophische Tradition“ (1989) ausgeführt. Das Interview wird mit einem Zitat aus George Orwells anfangs erwähnten Roman 1984 eingeleitet: „He was a lonely ghoast uttering a truth that nobody would ever hear. But so long as he uttered it, in some obscure way the continuity was not broaken“.[21] Diese Art der paradoxen Kontinuität der unterbrochenen Tradition – wenn die Begegnung zwischen dem „sprechenden“ und seinem Zuhörer empirisch nicht beobachtet werden kann – impliziert für Mamardaschwili eine vorausgehende Verbindung – universelle Korrespondenzen im Bewusstsein noch vor der beliebigen inhaltlichen und gegenständlichen Kristallisierung. (Die inhaltlichen und gegenständlichen Kristallisierungen sind dabei die verwirklichten Denkmöglichkeiten der Bewusstseinserfahrung und umgekehrt, das Bewusstsein als ein Denkraum ist die Vorbedingung für jeden Inhalt des Gedankens).

Die Struktur der Bewusstseinserfahrung (des Bewusstseins als einer ontologischen Gegebenheit) mache einen Menschen von jeder empirisch möglichen Begegnung unabhängig und erlaube dem empirisch Fernen nah zu kommen, das Nahe mit dem Zukünftigen zu verbinden etc.). Dies impliziert eine Möglichkeit (wenn man sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt) jede historische gegenständliche Sprache zu reduzieren, um zum „objektiven Inhalt“ eines philosophischen Systems zu gelangen. Diese Reduktion schaffe eine andere Raumzeit – statt einer chronologischen Kontinuität eine Vertikale bzw. einen Fächer, dessen Falten nicht linear platziert werden, sondern koexistent sind. Dabei ergebe sich ein gleitender Punkt der Gleichzeitigkeit. Ein vertikaler oder Fächerförmiger Schnitt, der uns erlauben würde mit Plato, Buddha, Descartes etc. gleichzeitig anwesend zu sein.

In diesem Punkt seien die Vergangenheit mit der Zukunft (und die Zukunft mit der Vergangenheit) gleichzeitig anwesend. In einem Punkt der Unentscheidbarkeit zwischen dem „radikalen Solipsismus“ und dem „absoluten Realismus“ wird im philosophischen bzw. poetischen „Denk-Akt“ – der unbedingt den anderen als einen gleichberechtigten Agenten des Denkens voraussetzt – der Rückzug in den zeitlosen Raum der Bewustseinserfahrung gleichzeitig zu einer Re-konstitution des öffentlichen Raumes: die unterbrochene Tradition wird kraft der persönlichen Anstrengung des Denkenden mit-reproduzieren, neu erschaffen und zusammengehalten.

Der „äußerste Solipsismus“ Kescheradses kennt keinen Anderen. Deswegen gelingt ihm kein Übergang vom „äußersten Solipsismus“ zum „absoluten Realismus“, von der individuellen Freiheit zur Begründung des öffentlichen Raumes als einen freien Raumes. Von einem Instrument der Freiheit wird die Literatur zu einem Instrument der Nivellierung: Die Literaturliebhaber sind uniform und unterscheiden sich kaum voneinander. Insofern, wird der Begriff der Öffentlichkeit obsolet. Wollte Kescheradse ursprünglich der Uniformität des Totalitarismus widersetzen, so entwirft er selbst einen Raum, in dem nur gleichdenkende Menschen möglich sind. Als Resultat verwandelt sich seine Utopie zu einer Distopie: Eine respublica literaria verwandelt sich in die literarische Diktatur.

Der Unterschied zwischen Anomie und Autonomie hat auch eine andere Implikation: Die Frage des Meinungsforschers, wie denn Kescheradse gute von der schlechten Literatur unterscheide, impliziert auch die Frage nach dem Gesetzgeber des vom Fotografen imaginierten autonomen Raumes. „Mein Freund“, antwortet Kescheradse, „wenn ich etwas wirklich bedeutendes lese, bekomme ich vom Handgelenk bis zum Elenbogen Gänsehaut.“[22] Wenn der Leser zum Gesetzgeber aufsteigt, das Recht (den Kanon) setzt, dann wird er auch sein Recht durchsetzen und erhalten wollen.

Auf die Frage des Meinungsforschers, wie würde er das gesellschaftliche Leben organisieren antwortet Kescheradse mit einem ungewöhnlichen Projekt: „Ich würde die ganze Stadt mit Karzern voll bauen“. Auf den Einwand des Meinungsforschers, es sei doch ein „Despotismus“, antwortet der Fotograf: „Das würden keine Karzer im üblichen Sinne, sondern Luxus-Karzer […] mit vielen Büchern, einem bequemen Sessel und einem schönen Tisch mit Leselampe […] ein Traum für jeden Bücherfreund“ sein. Dort möchte er „junge Burschen, die an der Wand lehnen, dummes zeug schwätzen, ab und zu ausspucken und Zeit vertrödeln“,[23] aber auch „ungebildeten Chemiker“, „alle Säufer“ „Geschäftemacher“ etc. einsperren. Sie werden nicht entlassen, bis sie einen vollen Bücherschrank, der in dem Luxuskarzer steht, fertig gelesen haben.

Der Insasse des Luxus-Karzers fängt zunächst mit den Kinderbüchern mit großen Buchstaben an dann verkompliziert sich die Lektüre schrittweise: „Am besten ist es mit Jules Verne anzufangen […] Na, Klim, was können wir ihm da anbieten? Ja, die Drei Musketiere, Mark Twain […] O’Henry… Später kommen ernstere Schriftsteller an die Reihe. Nenne mir zwei, Klim. Wunderbar! Jack London […] und und natürlich die romantische Prosa Hugos, die sich nicht so einfach liest. Dann werden wir ihm die Atempause gönnen und ihm den „Kopflosen Reiter“ oder „Ivanhoe“ geben. Und danach, Klim, machen wir ihm eine Freude, jene großen Schriftsteller kennen zu lernen, die sich erstaunlich leicht lesen! Jaja! Mérimée, Tschechow und noch einen, ja genau Maupassant zum Lesen an. Jetzt kann man schon riskieren, ihm etwas kompliziertes zuzumuten, aber keinen Roman, das ist noch zu viel für ihn, erst mal eine Erzählung. Ach nein, nein, „Tod in Venedig“ ist er noch nicht gewachsen. Etwas verhältnismäßig leichtes, altmodisches. Ja, genau Dickens“.[24] Im Luxuskarzer verbleibt er so lange, bis er zu einem leidenschaftlichen Leser, „irgendeinem Klim“, einem weiteren Mann der die Literatur sehr liebt erzogen wird. Warum könnte die Vision eines freien Raumes zu einer Vorstellung eines, sei es luxuriösen Karzers führen?

Mit dem „Karzer“ bezeichnete man im russischen Zarenreich sowie in der Sowjetunion eine Disziplinarstraffe unter schwersten Bedingungen (Isolierung z.T. ohne Licht und mit reduzierter Verpflegung) für Militärangehörige und Gefängnisinsassen. Das Wort, das ursprünglich aus dem lateinischen kommt und Kerker bedeutet, wurde jedoch ins russische und georgische aus dem deutschen übernommen. Im Rahmen der akademischen Gerichtsbarkeit waren in Deutschland bis in das 20. Jahrhundert hinein Arrestzellen für Schüler und Studenten Karzer genannt. Kescheradse hält mit diesem Wort durchaus an der ursprünglichen Funktion des Karzers fest. Andererseits, verlor im 19. Jahrhundert ein Karzer seinen erzieherischen Wert: Der Aufenthalt in einem Karzer wurde zur Ehrensache für Studenten. Dieses Wort steht damit auch Rebellion gegen die bestehende Ordnung, die den unfreien Raum in einen Raum der (geistigen) Freiheit verwandelte.

Diese Konnotation des Karzers bzw. des Gefängnisses ist auch in der georgischen Literatur des 20. Jahrunderts, etwa bei Tschabua Amiredschibi (geb. 1921) und Nodar Dumbadse (1928-84) zu finden: hier wird ein Gefängnis im russischen bzw. sowjetischen Imperium zu einem Ort, in dem Freiheit und Demokratie im Gegensatz zur unfreien „Außenwelt“ möglich sind. Der „Luxus-Karzer“ verweist damit auf die Situation des Sowjetbürgers: er ist vom anfangs beschriebenen Zimmer Kescheradses kaum zu unterscheiden. Als Leser kann er den unfreien Raum, sein Gefängnis in einen Ort der geistigen Freiheit verwandeln. Aber wenn er versucht, den Raum der individuellen Freiheit als einen öffentlichen Raum zu imaginieren, kehrt er die Verhältnisse einfach um: das Gefängnis, in totalitaristischen Verhältnissen der Raum der geistigen Freiheit, wird einfach auf den öffentlichen Raum übertragen. Statt der Ursprünglich postulierten Autonomie, die ein Leben nach anderen, freiheitlichen Gesetzen implizieren würde, wird die Macht übernommen, ohne die Beschaffenheit des Raumes, seinen Nomos zu verändern. In Folge wird der imaginierte Freiraum zu einem großen Gefängnis, bzw. zu einem von „Luxus-Karzer“ voll gebautem Raum.

Anmerkung der Redaktion: Der hier leicht veränderte Text erschien zuerst in „Die Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte vom Osten her gesehen.“ Hg. von Zaal Andronikashvili, Tatjana Petzer, Andreas Pflitsch und Martin Treml. Berlin 2014. S. 97-106.

Wir danken den Herausgebern und dem Verlag für die freundliche Genehmigung eines Wiederabdrucks.

 

Literatur

[1] Dazu siehe Pascale Casanova, The World Republic of Letters, Harvard UP 2007,  S. 86.

[2] Ebenda.

[3] Guram Dotschanaschwili: „Der Mann, der die Literatur sehr liebte“, aus dem Russichen von Alexander Szegeda, in: Der ferne weiße Gipfel. Georgische Erzählungen, hg. von Steffi Chotiwari-Junger, Berlin 1984, S. S. 402f.

[4] Ebd., S. 401. Die Übersetzung wurde von mir an das Original angepasst.

[5] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, S. 342.

[6] Dotschanaschwili: „Der Mann der die Literatur sehr liebte“ (Anm. 6), S. 400.

[7] Ebd., S. 397f.

[8] Dieser Ausdruck wurde bereits 1417 beim venezianischen Humanisten Francesco Barbaro nachgewiesen. Siehe Peter Burke: „Erasmus und die Gelehrtenrepublik“, in: ders.: Kultureller Austausch, FrankfurtM. 2000, S. 80.

[9] Ebd., S. 81 und S. 98.

[10] Paul Dibon: „Communication in the Respublica Litteraria in the 17th Century“, in: Res publica litterarum 1 (1978), S. 44.

[11] Burke: „Erasmus und die Gelehrtenrepublik“ (Anm. 12), S. 81 und S. 84.

[12] Zitiert nach Dibon: „Communication in the Respublica Litteraria „ (Anm. 14), S. 44.

[13] Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch, Stuttgart 2003, S. 21.

[14] Burke: „Erasmus und die Gelehrtenrepublik“ (Anm. 12), S. 83.

[15] Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Anm. 9), S. 216.

[16] Dotschanaschwili, „Der Mann, der die Literatur sehr liebte“ (Anm. 6), S. 400.

[17] Ebd.

[18] Ebd., S. 398.

[19] Ebd., S. 401.

[20] Ebd., S. 404.

[21] George Orwell: Nineteen Eighty Four, Fairfield 2004, S. 38.

[22] Ebd., S. 403

[23] Ebd., S. 391.

[24] Ebd., S. 395f.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz