Die Erinnerung, fragil wie ein Origami-Kranich

Mark Henshaws „Der Schneekimono“ würdigt bedeutsame Begegnungen

Von Lara EhlisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lara Ehlis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Schneekimono erzählt Geschichten vom Glück der großen Liebe und von der klaffenden Leere des Verlusts. Begegnungen, die durch Vorsehung oder Zufall zustande kommen, enden letztlich in schmerzlichen Abschieden. Die Andenken an bereits Erlebtes dienen den Erinnernden als Zufluchtsort und eröffnen dem Leser gleichzeitig gut maskierte Wahrheiten, die sich wie Abgründe auftun. Dabei bewegen sich die Protagonisten zwischen dem tröstlichen Gefühl der Erinnerung und der Selbstgeißelung durch die Konfrontation mit ihr.

Im Paris des Jahres 1989 überkommt den unlängst pensionierten Kriminalkommissar Auguste Jovert die beunruhigende Vorahnung, dass sein bisheriges Leben eine Wendung erfahren wird. Kurz darauf erreicht ihn ein Brief aus Algier, in dem seine bis dato unbekannte Tochter ihm ihre Existenz offenbart. Die Nachricht nimmt seine Gedanken so sehr gefangen, dass er das herannahende Auto nicht bemerkt und angefahren wird. Er muss ins Krankenhaus gebracht werden. Einige Tage später wirft er den Brief weg, doch es will sich keine Ruhe einstellen. Ganz im Gegenteil nimmt sein Leben merkwürdige Züge an, als ein neuer Nachbar vor seiner Wohnungstüre erscheint und sich als Tadashi Omura vorstellt. Dieser schildert ihm eine Geschichte über einen Ausflug, den er gemeinsam mit seiner Tochter zum Friedhof unternommen hat. Dort wurde er Zeuge eines grausamen, verstörenden Zwischenfalls und der Gedanke daran ließ ihn nicht mehr entkommen. Aufgewühlt durch Omuras Erzählung eilt Jovert zurück zu dem Ort, an dem er den Brief seiner Tochter weggeworfen hat, um das im Mülleimer verbliebene Foto zu bergen. Es ist das Einzige, was von dem Brief noch vorhanden ist.

„Ohne zu wissen, wie oder wann es geschehen war, fand er sich übergangslos in einem Gespräch ohne Anfang dahintreibend. Als wäre es immer da gewesen.“

Omuras Anwesenheit und seine Erzählungen üben eine hypnotische Wirkung auf Jovert aus. Die Geschichte über den Ausflug zum Friedhof wird nur eine von vielen sein, die der Japaner mit seinem Nachbarn teilt. Immer präsenter wird in ihnen die Figur des Katsuo Ikeda, dessen Handeln das Leben Omuras seit deren gemeinsamer Kindheit maßgeblich zu beeinflussen scheint. Das Bild einer Freundschaft in Dysbalance, die droht, auf ein tragisches Ende zuzusteuern, verdichtet sich.

„In Japan haben wir eine Redensart: Willst du dein Leben erkennen, musst du es durch die Augen eines anderen sehen. Vielleicht können Sie mir helfen. Und ich Ihnen.“

Anfänglich lediglich auf merkwürdige Weise von seinem Nachbarn fasziniert, entdeckt Jovert nach und nach Parallelen zwischen ihren anscheinend so unterschiedlichen Leben. Er beginnt, seine eigenen Erinnerungen an denen Omuras zu spiegeln und eröffnet dem Leser einen Einblick in eine dunkle Vergangenheit, deren Relikte in seinem Gedächtnis Gestalt annehmen. Sie handeln von jener Art Geheimnissen, die vor den Liebsten verborgen werden und tiefe Spuren der Reue – wie Narben – in der Seele hinterlassen.

„Erinnerungen als Heiligtum. Als etwas, was uns verbindet. Doch inzwischen wusste er, dass dies eine Illusion war. Erinnerungen konnten sich ändern, zerstört werden, umgeschrieben werden.“

Leise erzählt bietet Henshaws Roman dem Leser die Möglichkeit, an Joverts und Omuras Geschichten beobachtend teilzuhaben. Episodenhaft wechseln die Schicksale der beiden Männer sich ab, und Parallelen zwischen den so verschieden wirkenden Leben werden sichtbar. Passagen von geradezu erlesener Schönheit stechen hervor, die zahlreichen aus der Natur inspirierten Metaphern sind voller Anmut. Der Autor lässt Gedanken wie Vogelschwärme vorbeiziehen, die sich mal elegant im Aufwind bewegen, an anderer Stelle jedoch den Himmel der Protagonisten mit ihren Schwingen verdunkeln. Auch das Schreckliche und vermeintlich Hässliche spart er in seinem Roman nicht aus, er kleidet es vielmehr in poetische Worte, die das Bezeichnete in die Vorstellung übermitteln. Einem Echo gleich kehrt die Vergangenheit der Protagonisten sukzessive zurück und immer steht dabei die Frage im Hintergrund, inwieweit Erinnerung stets auch Konstruktion ist, wie viel Fiktion in ihr steckt.

Den Leser, der sich auf das geheimnisvolle Spiel einlässt, zu dem Henshaws Protagonisten einladen, erwartet ein auf vielen Ebenen überraschender Roman. Die erzählten Einblicke in die Leben von Jovert und Omura enthalten unvorhersehbare Wendungen, die auf verblüffende Weise ein großes Ganzes ergeben, das sich nach und nach zusammenfügt. Große Freude bereitet nicht zuletzt die unaufdringliche und metaphernreiche, niemals oberflächliche Sprache. Henshaws Roman Der Schneekimono ist von jener Art intensiver Schönheit, die ihre Leser vollkommen einnimmt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Mark Henshaw: Der Schneekimono. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Gräfe.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
381 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783458176824

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