Die französischen Präsidenten und die Literatur
Von de Gaulle bis Macron
Von Volker Steinkamp
Wie kein anderes Land versteht sich Frankreich, das in diesem Jahr zum zweiten Mal nach 1989 das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, als eine literarische Nation. Das Urteil des bedeutenden Romanisten Ernst Robert Curtius aus dem Jahre 1930 hat auch am Anfang des 21. Jahrhunderts wenig von seiner Gültigkeit verloren: „Im Kultur- und Nationalbewußtsein Frankreichs spielt die Literatur eine Rolle von so ausschlaggebender Bedeutung, wie dies bei anderen Nationen auch nicht annähernd der Fall ist. In Frankreich, und nur in Frankreich, wird die Literatur von der Nation als ihr repräsentativer Ausdruck gesehen.“ (Die französische Kultur)
Die Wurzeln dieses spezifisch französischen und häufig verklärten Verhältnisses von Nation und Literatur reichen dabei weit zurück. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist es Kardinal Richelieu, der ebenso machtbewusste wie geniale Premierminister Ludwigs XIII. und eigentliche Begründer des Absolutismus, der wie wohl kein Staatsmann vor ihm die machtpolitische Dimension der Literatur erkannt und daraus den Schluss gezogen hat, sie in den Dienst seiner Politik zu stellen. Denn – so lautet seine lange vor modernen „soft power“-Theorien gewonnene Erkenntnis – ein großes Königreich müsse auch über eine bedeutende Literatur und Sprache verfügen. Die von ihm 1635 gegründete staatliche Académie française, deren vierzig auf Lebenszeit gewählte, „unsterbliche“ Mitglieder unter der Schirmherrschaft des Königs (heute des Staatspräsidenten) bis heute einen eigenen „corps littéraire d´État“ (Marc Fumaroli) bilden, erhält mithin eine zentrale identitätsstiftende Funktion bei der von ihm angestrebten Etablierung der absolutistischen Monarchie und dem Aufstieg Frankreichs zur europäischen Hegemonialmacht zugewiesen.
Nicht nur die Académie française hat den Gang der Zeiten und den Wechsel der Staatsformen vom Ancien régime über Revolution und Empire bis hin zur Republik überdauert und geht als ehrwürdigste Institution des Landes inzwischen ihrem 400. Geburtstag entgegen. Auch an dem ihr zugrundeliegenden Verständnis von Frankreich als Kulturstaat („État culturel“) hat sich bis in die Gegenwart nichts Wesentliches geändert.
Zu diesem Verständnis gehörte in der 1958 gegründeten V. Republik lange Zeit aber auch die Erwartung der Nation, dass der Staatspräsident als oberster Repräsentant des „État culturel“ wenn schon nicht selber ein „homme de lettres“, ein Literat, so doch zumindest ein „homme lettré“, ein Mann mit literarischer Bildung, sein sollte.
Zumindest die ersten Präsidenten der V. Republik haben diese Erwartung auch jeder auf seine Weise erfüllt, mitunter sogar übererfüllt. Nicht ohne Grund posierte der Republikgründer Charles de Gaulle (1959-69), der über eine fundierte klassische Bildung verfügte, auf dem offiziellen Amtsfoto in der Bibliothek des Élysée-Palastes vor einer imposanten Bücherwand; seine Erinnerungen an die Zeit des II. Weltkriegs und die Résistance, die dreibändigen Mémoires de guerre sind nicht nur von großem historischen Interesse, sondern auch von solch beachtlicher literarischer Qualität, dass sie mit der Aufnahme in die Klassikeredition der Bibliothèque de la Pléiade sogar die höchsten Weihen des französischen Verlagswesens erhalten haben.
Sein Nachfolger, der im Amt verstorbene Georges Pompidou (1969-74), der als Jahrgangsbester die École normale supérieure, die intellektuelle Elitehochschule des Landes, absolviert hatte, ehe er zur Rothschild-Bank und später in die Politik wechselte, war ein großer Lyrik-Kenner und Liebhaber, der in Pressekonferenzen einer unangenehmen Frage auch schon mal mit aus dem Stehgreif rezitierten Versen von Paul Éluard auszuweichen wußte. An der von ihm herausgegebenen Anthologie de la poésie française, der Pompidou eine sehr persönlich gehaltene Einführung voranschickte, haben Kritiker zwar die konventionellen Auswahlkriterien bemängelt; dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – ist sie mittlerweile selber zu einem Klassiker geworden und noch heute – über 50 Jahre nach ihrem Erscheinen – eine der meistgekauften französischen Lyriksammlungen.
Der dritte Präsident der V. Republik Valéry Giscard d´Estaing (1974-81) suchte dagegen seinen Sinn für Literatur seinen Landsleuten zunächst dadurch nahezubringen, dass er in der literarischen Fernsehsendung Apostrophes (dem Vorbild von Marcel Reich-Ranickis Literarisches Quartett) mit ihrem prominenten Moderator Bernard Pivot und weiteren Kritikern über seinen erklärten Lieblingsautor Guy de Maupassant fachsimpelte. Als er nach Ende seiner Amtszeit dann selber zur Feder griff und – neben seinen weitgehend positiv aufgenommenen Memoiren Le pouvoir et la vie (Die Macht und das Leben) – gleich zwei wenig gelungene Romane verfaßte, brachte ihm das allerdings nicht nur in den notorisch hochmütigen Pariser Intellektuellen-Kreisen reichlich Häme und Spott ein. Vor allem gilt dies für Le président et la princesse (Der Präsident und die Prinzessin), einen 2009 erschienenen Schlüsselroman über eine Mitte der 1980er Jahre spielende Liebesaffäre zwischen einem fiktiven französischen Staatspräsidenten namens Jacques-Henri Lambertye und einer schönen, aber unglücklich verheirateten britischen Kronprinzessin namens Patricia, in dem sich der Autor nur wenig Mühe gab, die Parallelen zu seiner eigenen Person und der in der Zwischenzeit verstorbenen Prinzessin Diana und ihrer angeblichen Liaison zu verfremden. Doch vermochte auch diese Peinlichkeit nicht mehr den Status der „Unsterblichkeit“ rückgängig zu machen, den Giscard d´Estaing als erster ehemaliger Präsident inzwischen durch seine 2003 mit knapper Mehrheit erfolgte Aufnahme in eben jene Académie française erworben hatte, deren Schirmherr er zuvor während seiner Präsidentschaft gewesen war.
François Mitterrand als erster sozialistischer Präsident der V. Republik und zugleich als Staatsoberhaupt mit der längsten Amtszeit (1981-1995) nimmt auch in literarischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Nicht zufällig ist er der einzige Präsident, der auf seinem offiziellen Portrait ein geöffnetes Buch – Michel de Montaignes Essais – in den Händen hält, hatte er doch wie kein anderer Staatschef vor oder nach ihm ein geradezu leidenschaftliches Verhältnis zur Literatur, die nach der Politik seine „deuxième tentation“ (zweite Versuchung, vgl. http://www.mitterrand.org/Litterature-la-deuxieme-tentation.html) darstellte. Als Leser pflegte der Sozialist dabei eine auf den ersten Blick überraschende Vorliebe für Autoren aus dem politisch rechten Spektrum, etwa für Maurice Barrès oder Pierre Drieu la Rochelle, aber auch für Ernst Jünger, den er in dessen Haus 1993 zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl besuchte und dem er zwei Jahre später mit einer persönlichen Würdigung in der Frankfurter Allgemeine zum 100. Geburtstag gratulierte.
Selber „eine Gestalt wie aus einem Roman“ (François Mauriac) war Mitterrand mit vielen bekannten Autoren und Autorinnen wie Marguerite Duras, Françoise Sagan und Eric Orsenna befreundet. Für Gabriel García Márquez verkörperte sein präsidialer Freund sogar den idealen „homme de lettres“, wie es ihn in dieser Form nur in Frankreich geben könne. In der Tat war der gewiefte Machtpolitiker Mitterrand zugleich auch ein feinsinniger Essayist, dessen immerhin vierbändiges Œuvre rund zwanzig literarische, historische und politische Schriften umfaßt, darunter Le coup d´État permanent (Der permanente Staatsstreich), L´abeille et l´architecte (Die Biene und der Architekt), La paille et le grain (Spreu und Weizen), und das im vergangenen Jahr durch die beiden pünktlich zu Mitterrands 100. Geburtstag erschienenen und von der Kritik auch wegen ihres Stils hochgelobten Bände mit über tausend Briefen an seine jahrzehntelange heimliche Geliebte und Mutter einer gemeinsamen Tochter, Anne Pingeot (Lettres à Anne – 1962-1995) und einem eigens für sie verfaßten Tagebuch (Journal pour Anne – 1960-1970) noch postum erweitert worden ist.
Mit dem Ende der Präsidentschaft Mitterrands schien indes auch die Tradition der literarisch versierten Präsidenten zu ihrem Abschluß gekommen und das vermeintlich „eiserne Gesetz der Republik, in der nur regieren soll, wer mit der Feder umzugehen wisse“ (Jürg Altwegg) zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt zu sein. Denn keiner seiner Nachfolger hat durch besondere literarische Interessen oder gar entsprechende eigene Aktivitäten von sich reden gemacht. Jacques Chirac (1995-2007) und François Hollande (2012-17) wurden vielmehr in der Presse lange Zeit ihre offenherzigen „Geständnisse“ nachgetragen, wonach sie nur Kriminalromane bzw. gar keine Romane lesen würden. Am wenigsten aber entsprach zweifellos Nicolas Sarkozy (2007-12) dem überkommenen Idealbild eines „président lettré“. Vor allem mit seinen wiederholten abfälligen Äußerungen über Madame de la Fayettes La Princesse de Clèves (Die Prinzessin von Kleve, 1678), den ersten großen französischen Roman, der in seinen Augen aber eine durchaus verzichtbare Lektüre sei, unter der er selber in der Schule sehr gelitten habe, sorgte Sarkozy nicht nur in literarischen Kreisen für helle Aufregung und Empörung. Glaubten kulturkritisch gestimmte Zeitgenossen in der präsidialen Geringschätzung eines Klassikers der Nationalliteratur ein weiteres untrügliches Zeichen für den Niedergang der französischen Kultur insgesamt erkennen zu können, so erlebte Lafayettes Roman im Gegenzug dafür eine bemerkenswerte Renaissance in Form von enormen Auflagensteigerungen und öffentlichen Marathon-Lesungen vor dem Pariser Panthéon, auf denen die zahlreichen Zuhörer ostentativ Buttons mit dem Bekenntnis „Je lis La Princesse de Clèves“ (Ich lese Die Prinzessin von Kleve) trugen.
Ob sich Emmanuel Macron als neuer Hausherr des Élysée-Palastes auch in dieser Hinsicht von seinen unmittelbaren Vorgängern abheben wird und vielleicht sogar die Tradition eines „président littéraire“ wiederzubeleben beabsichtigt, wie sich dies der Schriftsteller Éric-Emmanuel Schmitt kürzlich in Le Monde wünschte, kann zu einem so frühen Zeitpunkt seiner Präsidentschaft freilich noch nicht abschließend beurteilt werden.
Doch spricht durchaus einiges dafür, dass Macron in seinem offenkundigen Bestreben, dem Amt wieder neuen Glanz zu verleihen, auch in dieser Frage wieder an das Erbe eines de Gaulle oder Mitterrand anknüpfen möchte. Einen diskreten Hinweis in diese Richtung könnte man einmal mehr dem offiziellen Amtsfoto entnehmen, auf dem neben zwei Bänden von Stendhal und André Gide auch – von Macron persönlich sorgsam arrangiert, wie in einem vom Élysée-Palast getwitterten Film zu sehen ist – eine Ausgabe von De Gaulles Mémoires de guerre aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch liegt.
Über die entsprechenden intellektuellen Voraussetzungen für eine auch literarisch ambitionierte Präsidentschaft verfügt der ehemalige Assistent des Philosophen Paul Ricœur, der seine Abschlußarbeit über Machiavelli geschrieben hat, ohnehin, und auch über seine bis in die Schulzeit zurückgehende Theater-Leidenschaft, die Brigitte Trogneux, seine ehemalige Lehrerin und heutige Frau, in ihm geweckt hat, ist schon viel berichtet worden.
Doch sollten die Anhänger eines eher konventionellen Verständnisses von der Literatur als Grundlage nationaler Identität keine allzu großen Hoffnungen in den neuen Präsidenten setzen. Denn noch im Wahlkampf hatte Macron für Aufsehen und auch scharfe Kritik nicht nur im konservativen Lager gesorgt, als er die Existenz einer einheitlichen französischen Kultur in Frage stellte und nur von einer Kultur in Frankreich sprechen wollte, die aber in sich verschiedenartig sei: „Il n´y a pas une culture française, il y a une culture en France, et elle est diverse.“
Ob Macron mit seiner Vorstellung von einem auch kulturell vielfältigen und weltoffenen Frankreich im 21. Jahrhundert seine zutiefst verunsicherten Landsleute wird überzeugen können, ist indes eine ebenso offene wie spannende Frage, deren Beantwortung mit über seinen politischen Erfolg als achter Staatspräsident der V. Republik entscheiden wird.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen