Neurechter Karneval

Die Ikonographie des ‚QAnon-Schamanen’

Von Marcus StigleggerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Stiglegger

In gewisser Weise haben sie sich tatsächlich verkleidet, man kann sagen, es handelt sich um costume design zur Alt-Right-Memeproduktion. Und dabei waren sie sehr erfolgreich. Sieht man sich Gemälde des amerikanischen Bürgerkriegs an, so erscheint ihre Kostümierung und Inszenierung überhaupt nicht übertrieben. Sie haben sich an der Darstellung der Südstaaten-Kämpfer orientiert, und diese geupdated mit Bezügen zur Internet-, Rave- und Gaming-Kultur.

Henrike Naumann in: Monopol (14.1.2021)

Die USA haben sich unter der Präsidentschaft von Donald Trump seit 2016 als eine zutiefst gespaltene Nation erwiesen, die sich zwar in der Wahl Ende 2020 mehrheitlich für den demokratischen Kandidaten Joe Biden entschied, aber bei dessen Wahlbestätigung im Kapitol einen Sturm der wütenden Trump-Anhänger auf die Institution der Senatsdemokratie nicht verhinderte. Stattdessen hatten der Nochpräsident und sein willfähriger Anwalt Rudy Giuliani die Demonstranten motiviert, zum Kapitol zu marschieren und suggeriert, man müsse alles unternehmen um die angeblich „gestohlene Wahl“ zu boykottieren. Nun steht Trump in der Verantwortung, einen bis heute beispiellosen Sturm auf die Demokratie selbst zu verantworten, bei dem fünf Menschen gewaltsam starben, darunter ein Polizist.

Donald Trumps Massen rekrutieren sich aus unterschiedlichen Milieus von Waffenlobbyisten, Verschwörungsanhängern – vor allem aus dem Umfeld der QAnon-Bewegung –, frustrierten Arbeitslosen und offen Rechtsextremen. In sozialen Netzwerken wurde er von der Alt-Right, der Neuen Rechten, unterstützt, was den Unterstützern den Ruf einer ‚Trollarmee‘ einbrachte. Dazu kommen seit einigen Jahren die Proud Boys, ein militanter nationalistischer Männerbund, der auf die Gründung durch Gavin McInnes, den nationalkonservativen Komiker und Mit-Gründer des VICE-Magazins, zurückgeht. Während die Proud Boys mit ihren schwarzen Polohemden mit gelben Lorbeerkranz noch auf die klassische Ikonographie der britischen Skinheads verweisen, hat sich längst eine wesentlich weitergehend Ikonographie der Neuen Rechten in den USA herausgebildet, die sich aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten bedient – das reicht von Hawaii-Hemden und Tikifackeln über die nordische Mythologie und indigene Symbole bis hin zu eindeutigen Naziversatzstücken.

Sieht man sich die TV-Aufnahmen der Demonstration und der folgenden Stürmung des Kapitols an, fallen zahllose Männer unterschiedlichen Alters mit langen und zerzausten Bärten auf. Viele tragen die typischen roten MAGA-Mützen („Make America Great Again“), die Trump in China produzieren lässt. Die Kleidung ist oft praktisch, aber häufig auch militant gewählt: Armeeparkas, Jeans, Turnschuhe, auch Jogginghosen sieht man. Sehr präsent ist das nationale Sternenbanner, die Nationalfarben Blau, Weiß und Rot. Hin und wieder werden T-Shirt-Aufdrucke gezeigt, die eine deutliche Sprache sprechen. Um die Welt ging ein Foto von einem langhaarigen Mann um die 60, der auf schwarzem Grund den Aufdruck zeigte: „Camp Auschwitz“ über einem Totenkopf, darunter das Konzentrationslagercredo „Work brings Freedom“ („Arbeit macht frei“). Dieser Rechtsextremist heißt Robert Keith Packer und wurde inzwischen verhaftet.

Die ikonische Figur der Kapitolsstürmung indes ist eine andere Person. Auf weltweiten Zeitungen war am nächsten Tag ein sportlicher junger Mann zu sehen, der in blau-weiß-roter Gesichtsbemalung, mit einem bisonartigen Kopfschmuck und einer Lanze mit US-Fahne die Meute anführt und später sich im Senatssaal fotografieren ließ. Im Vorfeld wurde er bereits vom ORF interviewt und äußerte drastische esoterische ‚Theorien‘, die letztlich auf die von QAnon-Anhängern vertretene These hinausläuft, dass die Demokraten den Staat unterwandert hätten, um Trump die Wahl „zu stehlen“. Er ließ sich mit unterschiedlichen selbst gemalten Schildern fotografieren, auf denen u. a. „Q Sent Me“ steht – der Mann sieht sich als Repräsentant von Q, dem mysteriösen Gründer der zunächst virtuellen QAnon-Bewegung. Später wurde jener Mann von Trump-Unterstützern als Agent Provocateur der Antifa bezeichnet – eine weitere rechtsextreme Verschwörungsthese, die behauptet, Anhänger der antifaschistischen Bewegung und von ‚Black Lives Matter‘ hätten sich unter Trumps Massen gemischt, um deren Ruf landesweit zu diskreditieren. Als der ‚Bison Man‘ schließlich festgenommen wurde und seine Identität geklärt war, wurde er nicht müde zu betonen, dass er ein treuer Trump-Fan und Unterstützer der QAnon-Bewegung sei.

Wer aber ist dieser Mann, und wie konnte er zu einer visuellen Ikone eines der drastischsten Angriffe auf das demokratische System der USA werden? Der sich als „QAnon-Schamane“ bezeichnende Mann ist der Youtuber Jake Angeli (bürgerlich Jacob Anthony Chansley) aus Phoenix, Arizona, der sich selbst als Gelegenheitsschauspieler und spiritueller Influencer bezeichnet. In zwei selbstverlegten Büchern beschäftigt er sich mit esoterischen Thesen über Willenskraft und verschiedene Bewusstseinsstufen, in denen er für sich ein „multidimensionales Bewusstsein“ beansprucht (so auch im ORF-Interview). Diese exponierte esoterische Spiritualität, die an die Modelle des drogeninduzierten modernen Schamanismus’ nach Carlos Castaneda erinnert, verbindet Angeli mit der deutschen Querdenker-Bewegung, die bereits im August 2020 einen sehr ähnlich motivierten Sturm auf den deutschen Bundestag unternommen hatte (wenn auch in erheblich geringerer Zahl und ohne nennenswerten Effekt). Auch unter den Querdenkern findet man immer wieder bizarr und auf den ersten Blick ironisch anmutende Kostümierungen, die in Angelis Präsenz einen durchaus ebenso radikalen wie lächerlichen Ausdruck finden – wie auch sein Pseudonym Angeli auf eine ‚Herkunft von den Engeln‘ verweisen möchte.

Betrachtet man das ikonische Bild Jake Angelis im ‚eroberten‘ Kapitol, fällt ein irritierender Eklektizismus auf, der tribale, mythische, moderne und nationalistische Symbole in der Art eines Gaming-Avatars kombiniert: Nichts davon passt zusammen, keines der Symbole steht mit den anderen im überzeugenden Zusammenhang, und doch ist genau dieser Eklektizismus prototypisch für eine buchstäblich postmoderne Bewegung. Angelis Bison-Kopfschmuck erinnert an den Kopfputz der Schamanen (oder „Medizinleute“) von Native American Plain Tribes. Der Kopfschmuck verwies auf das Schutztier oder möglicherweise auf eine totemistische Herleitung der Präriestämme. Das Gesicht wird von zwei Kojotenschwänzen gerahmt. Die kulturelle Aneignung einer indigenen Sakraltracht lässt sich als eine kolonialistische Übernahme betrachten, die den Schamanismus nun für sich selbst beansprucht – daher bezeichnet sich Angeli auch selbst als „Schamane“, der im Sinne des „Volkes“ mit sakralen Sphären und den Ahnen kommuniziert und zum Medium einer „höheren Wahrheit“ (in seinem Fall QAnon) werden möchte. Sein Gesicht ist mit den Nationalfarben geschminkt, was einen außeralltäglichen Zustand („War Paint“) signalisiert. Angeli ist also nicht er selbst, sondern im Sinne einer „Mission“ unterwegs, die Maskerade kennzeichnet diese überhöhende Transformation. Die Fahne ist seine Standarte, montiert an einen Speer, was militärische Aggression signalisiert, im Sinne eines Feldzeichens. Der Rest der Kleidung ist eher pragmatisch gewählt: eine khakifarbene Jogginghose, schwarze Wildlederturnschuhe, gefütterte schwarze Handschuhe und ein weißes Megaphon, das als Medium der politischen Agitation die Signifikanz der eigenen Stimme markiert – ohne, dass es eingesetzt werden müsste.

Warum kann Angeli kaum als Antifa-Provokateur betrachtet werden? Hier kommen seine Tattoos ins Spiel. Die Tätowierung ist eine Kultur- und Körpertechnik, die eine bleibende Kennzeichnung der Haut vornimmt, meist zu ornamentalen Zwecken, oft aber auch, um persönlich für wichtig gehaltene Symbole vorzuweisen. Die Tatsache, dass Angeli mit nacktem Oberkörper auftrat – ja, es war eine Cultural Performance –, lenkt den Blick umso mehr auf diese Symbole. Auf seinen Armen trägt Angeli eine positive und eine negative Variante eines Mauerwerkmusters. Assoziiert wird dieses Muster oft mit Trumps Projekt einer Mauer an der mexikanischen Grenze, doch man könnte aufgrund des esoterischen Weltbildes auch von der weitergehenden Metaphorik von Mauern als spirituellen Grenzen ausgehen, die einhegen, aber auch überwunden werden können – positiv und negativ signifiziert.

Wesentlich deutlicher sind jedoch jene drei Symbole, die Angeli auf der linken ‚Herzseite‘ seines Oberkörpers trägt. Auf dem Bauch finden wir einen sehr grob und in großen Schwarzflächen dargestellten Mjölnir, den Hammer des nordischen bzw. germanischen Gottes Thor. Dieses Macht- und Schutzsymbol ist in der neuheidnischen Bewegung ganz grundsätzlich als ein Bekenntnis zum ‚nordischen Glauben‘ zu verstehen, also eine Verbindung zur nordischen Mythologie. Dieses Symbol führte auch zu der Interpretation des Bisonkopfschmuckes als „Wikingerhelm“. Dabei ist anzumerken, dass Wikingerhelme nicht historisch, aber in populären Darstellungen mit zwei Hörnern dargestellt werden. Der Thorshammer ist durch die Popularität der Marvel-Verfilmungen des modernisierten Thorsmythos allgemein bekannt. Allerdings muss man feststellen, dass sich der Thorshammer international auch unter Rechtsextremisten als ein machtvolles Symbol etabliert hat und vor allem in deutschen Kreisen oft als politisches Kennzeichen interpretiert wird. Hier kommt es auf den Kontext an, in dem das Symbol auftaucht. Im Nationalsozialismus spielt der Mjölnir keine wichtige Rolle, allerdings weist das Kreismuseum Wewelsburg im Rahmen seiner Dauerausstellung nach, dass Heinrich Himmler gerne einen Thorshammer-Anhänger an ‚treue Kameraden‘ zu festlichen Zwecken verschenkte. Es gibt also einen Bezug zwischen dem Mjölnir-Symbol und seiner Verwendung in rechtsextremen Kreisen. 

Über dem Thorshammer sehen wir in einem Strahlenkranz die Darstellung eines Baumes mit wucherndem Wurzelwerk. Sie zeigt, dass der Baum die sichtbare Welt mit dem fruchtbaren Boden verbindet, die Welten also physisch und bildlich durchwächst. Es handelt sich dabei um eine populäre Darstellung der Weltenesche Yggrdrasil, die den gesamten Kosmos der nordischen Weltsicht verkörpert. Auch dieses Symbol zeigt, dass sich Angeli mit der nordischen Mythologie verbunden fühlt. U. a. lebt in Yggrdrasils Geäst nach der nordischen Mythensammlung Edda ein Adler – zugleich das amerikanische Wappentier. Da sich Angeli als Schamane begreift, wird er den Weltenbaum als Medium begreifen, das Oberwelt, Erde und Unterwelt verbindet und in der schamanischen Logik entsprechende Reisen ermöglichen könnte. Der Name setzt sich aus „yggr“ (Schrecken) und „drasil“ (Pferd) zusammen, was als Odins Pferd interpretiert werden kann, denn Odin trug auch den Beinamen „der Schreckliche“: der Baum als Medium der schamanischen Unterweltenreise.

In enger Verbindung zu Mjölnir und Yggrdrasil steht auch der Valknut, ein Knotenmuster mit drei Außenseiten und neun spitzen Außenwinkeln, die sich aus mythologischer Perspektive als die neun mythischen Welten der Edda lesen lassen. Das Muster wird auch Wotansknoten genannt, wobei Wotan die germanische Bezeichnung des Göttervaters Odin ist, des Wanderers und Suchenden der Weisheit, der Zugleich mit den im Kampf Gefallenen in Verbindung steht. „Valr“ sind die Gefallenen, „knut“ ist der Knoten, woraus sich der Knoten der im Kampf getöteten Krieger ergibt. Der Valknut kennzeichnet den Träger des Tattoos also als einen spirituellen oder realen Krieger, der sein Leben der weltanschaulichen Mission im Namen der nordischen Mythologie gewidmet hat. Es kommt historisch hinzu, dass man den Vaknut u. a. an gotländischen Opferplätzen gefunden hat und Odin sich selbst in einem Ritual der Weisheit geopfert hatte. Mit diesen Vorstellungen kann durchaus der Gestus des Blutopfers für die weltanschauliche Mission verbunden werden.

Jake Angeli verbindet in der verwendeten Ikonographie also die Pragmatik des Aufstandes (Handschuhe, Megaphon) mit der indigenen amerikanischen Bildwelt (Bisonhörner) und der nordischen Mythologie. Aufgrund der kolonialistisch gefärbten kulturellen Aneignung des „Indianer-Schmuckes“ in nationalistischem Kontext kann man schließen, dass auch die nordische Symbolik eher im Sinne der Neucodierung durch die rechtsextreme und Neonazi-Szene gelesen werden kann, die mit nordisch eigentlich ‚arisch‘, ‚weiß‘ und ‚rassisch rein‘ meint. Es geht weder um einen Verweis auf den Genozid an den Native Americans, noch um ein Interesse an der historischen Epoche der Germanen oder deren Mythologie, sondern um eine Übernahme etablierter tribaler Symbole in einer Kontext von nationalistischer und weißer amerikanischer Selbsterhöhung. Angeli ist in seinem eklektizistischen Performance-Kostüm zu der Bildikone eines antidemokratischen Aufstandes in den USA geworden, der ‚White Power‘ unbedingt über die linke Forderung nach Diversity stellt. Das schließt sowohl den spirituellen Kampf, die Idee eines ‚erwachten Bewusstseins‘ (QAnon), die rechte Auslegung ‚nordischer Symbole‘ und den konkreten physischen Aufstand gegen demokratische Strukturen mit ein. Nichts daran ist so lächerlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, denn in der Logik dieser Aufständischen wurde ihnen die Wahl wirklich ‚gestohlen‘. Vielmehr steht Angeli für eine gerade sich formierende, durch und durch postmoderne, aus dem virtuellen Raum in die Realität schwappende rechtsextreme Revolte, die gerade erst beginnt und von rechtsextremem Populisten wie Donald Trump und Steven Bannon auch zukünftig genutzt werden kann.

Literatur

Hilda Roderick Ellis Davidson: Gods and Myths of Northern Europe. London: Penguin 1990.

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen. Ritual, Magie, Kult, Mythus. Freiburg i. Br.: Herder Spektrum 1992.

Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 3., völlig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kröner 2006.

Marcus Stiglegger: Verdichtungen. Zur Ikonologie und Mythologie populärer Kultur. Hagen-Berchum: Eisenhut 2014.