Die Welt neu-entdecken
Esther Kinsky als 66. Poet in Residence der Universität Duisburg-Essen
Von Daniel Kost
Die Welt, wie sie uns heute erscheint, ist eine vom Menschen gemachte: Städte, Straßen und Strukturen überziehen Landschaften wie graue Schleier, die den Blick auf sich lenken. Es sind Schichten von Bauprojekten und Blaupausen, Plänen und Ideen, die die vormalige Wildnis mehr und mehr überformen. Bereits das Wort ‚Wildnis‘ beinhaltet die Vorstellung von etwas Chaotischem und Nicht-zivilisiertem. An Orten, die Esther Kinsky „gestörtes Gelände“ nennt, wo eine ordnende, sich kümmernde Hand verschwunden ist und neben und in zerfallenden Ruinen Bäume und Gräser sprießen, lösen sich die Schleier zusehends auf.
Ein möglichst objektiver und wertungsfreier Blick wie Kinsky ihn anstrebt, der in seiner Genauigkeit an Akribie grenzt, kann mit Hilfe von Rissen und Brüchen die Schichten menschlicher Eingriffe durchdringen. Vorbei an freigelegten Spuren, die erkundet, nachvollzogen und studiert werden können. Erfahrbar werden vergangene Absichten, Maßnahmen und Geschehnisse – die Geschichte und Geschichten, die verborgen in den Objekten und Gegenden liegen. Je tiefer der Blick eindringt, desto mehr kann entdeckt werden. Bis am Ende, nach allen Schichten, der ‚Ursprung‘ erreicht ist.
Denselben Prozess, weiter und weiter in die Tiefe, ins Detail zu gehen, mehr und mehr zu erkunden, wird von der eigenen Sprache und unweigerlich vom Selbst begleitet: Je genauer man hinschaut, je mehr man sich auf die Eindrücke einlässt, desto mehr Spuren fallen auf. Worte, Sätze und Phrasen, ihre Historie, Konnotationen, sowie ihr Ballast werden erkannt, reflektiert, übernommen oder verworfen, verändert und ggf. neugebildet, um letzten Endes exakt die gewonnenen Eindrücke beschreiben und ausdrücken zu können, die ein solch scharfer Blick liefert. Währenddessen sagt jede Priorität, die verfolgt, jede Assoziation, die geweckt und jede Bedeutung, die verworfen wird, etwas über einen selbst aus. Es wird ersichtlich, welche Einflüsse auf einen einwirken und wie sie dies tun, seien sie kulturell, gesellschaftlich, politisch, personell oder religiös geprägt.
Wenn man sich einlässt, auf die Welt, auf Eindrücke, lernt man, Zugrundeliegendes und Angepasstes, Überformtes voneinander zu unterscheiden, ihre Ursachen, Wirkungen und Wechselwirkungen nachzuvollziehen (Sehen), und man lernt Ausdrucksweisen, die ohne Missverständnisse und Nebenbedeutungen genau das zu verstehen geben, was erfahren und gemeint wird (Sprechen). Man lernt sich selbst kennen, die eigenen Motivationen, Umstände und Assoziationen – sich zu erkennen – und anderen zu vermitteln, unverhüllt von überlagernden Schleiern. Denn sich auf etwas einzulassen, bedeutet auch, sich aus etwas anderem ‚herauszulassen‘.
Darin, so scheint es, liegt die Poetik Esther Kinskys. Wegen ihrer Performance lässt sich das nur ungewiss bestimmen. Der Eindruck, den diese hinterlassen hat, ging für viele Teilnehmer der Vorlesungen (die neben der Schreibwerkstatt eine Hälfte des Essener Poet in Residence bilden) in eine andere, den Erwartungen entgegengesetzte Richtung: Viele Redundanzen in erstaunlich kurzen Vorträgen, zum Teil bereits bekannte Selbstverständlichkeiten, und nicht zuletzt wenig Interesse seitens der Autorin, mit dem Publikum zu sprechen oder gar zu diskutieren. Für die Poetik selbst blieb nicht viel Platz. Nach allem stand der Auftritt der Poetin im bemerkenswerten Kontrast zu ihren Worten (und auch zu ihrem deutlich offeneren Auftreten in der Schreibwerkstatt). Es ist enttäuschend, dass Esther Kinsky das Essener Publikum weniger ernst genommen hat, als das bei ihren vorangehenden Poetikdozenturen der Fall war.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen