Die Zumutungen der Kunst

Eine Replik auf Mario Wiesmanns Ausführungen über die Legitimation des Literaturnobelpreises an Peter Handke

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Unlängst ist hier ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Text von Mario Wiesmann zur bereits einige Monate zurückliegenden Kontroverse um die Vergabe des Literaturnobelpreis 2019 an Peter Handke erschienen. Es beginnt mit dem Titel. Die Frage „Hätte Handke den Nobelpreis erhalten dürfen?“ ist gestellt, als sei sie empirisch mit einem eindeutigen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten. Aus der Ferne erinnert sie an die sportjournalistische Aufarbeitung einer Schiedsrichterentscheidung im Fußball über einen womöglich irrtümlich gegebenen, spielentscheidenden Elfmeter. Dabei liegt in der Form der Fragestellung bereits die Tendenz der Antwort verborgen. Der Untertitel des Aufsatzes  – „Warum Literaturpreisdebatten zu keinem Ergebnis führen“ – macht dann eigentlich wenig Lust, den weiteren Text, als „Klärungsversuch“ angepriesen, zu lesen. Schließlich siegt die Neugier, ob es noch so etwas wie einen literaturwissenschaftlichen Videobeweis geben wird.

Um es vorweg zu nehmen: Es gibt diesen Beweis nicht. Am Ende überwiegt das Befremden. Denn Wiesmann spürt bis auf zwei Ausnahmen gar nicht in den Primärtexten Handkes der Frage nach der Zulässigkeit des Erhalts des Nobelpreises nach. Er beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit Sekundär- bzw. Tertiärtexten. Diese Herangehensweise ist bezeichnend nicht nur für die Rezeption der sogenannten Jugoslawientexte Handkes, sondern spiegelt sich immer mehr in der Debattenkultur, wenn es um Kunst und deren moralische Legitimation geht. Zwar werden bisweilen noch ausgewählte Stellen aus den Primärtexten herangezogen, die jedoch zumeist derart geschickt dekontextualisiert werden, dass am Ende die These der Anklage (fast immer garniert mit außerliterarischen Bezügen) bestätigt wird. Wenn dann, wie im „Fall“ Handke geschehen, der Verlag eine Klarstellung mit ausführlichen, kontextualisierten Zitaten aus der inkriminiert dargestellten Prosa publiziert, wird dies verblüffenderweise als „einseitig“ und „aus dem Zusammenhang gerissen“ kommentiert.

Wiesmann erwähnt die Bemühungen des Verlags, seinen Autor vom Stigma eines Neu-Rechten (oder gar Schlimmeren) zu befreien, gar nicht erst. Stattdessen schlägt er sich früh auf die Seite von Marie Schmidt von der Süddeutschen Zeitung, die in einem Aufsatz dafür plädiert, den „ideelle[n] Kontext“ des Künstlers in die Bewertung des Kunstwerkes einfließen zu lassen. Die von manchen „Handke-Verteidigern“ vorgebrachte Trennung von Werk und Autor wird abgelehnt, als überholte „Autonomieästhetik“ verworfen.

Tatsächlich fällt diese Trennung von Autor und Werk – einst Lieblingserrungenschaft des literaturkritischen Establishments – bei Peter Handke schwer. Zu stark greifen die Prägungen des Autors in das Werk ein und werden mit ihm verflochten. Zu unterscheiden wäre dabei, ob die persönlichen Bezüge (beispielsweise sein Bekenntnis zum „Slawentum“ manifestiert durch seine Mutter und den Großeltern mütterlicherseits) bloße Nebenerscheinungen sind, oder tatsächlich in der Prosa ihren Niederschlag finden, sie derart existentiell durchdringen und Bestandteil der Persönlichkeit sind. Man muss dafür nicht gleich das derzeit arg strapazierte Wort der „Identität“ heranziehen. Problematisch wird die Verquickung von Text und Autor immer dann, wenn hieraus unverrückbare, fatumhafte Kausalitäten konstruiert werden, d.h. beispielsweise behauptet wird, der Autor sei in seinen biographischen Prägungen gefangen. Oder, das Gegenteil: Es kommt zum Inszenierungsvorwurf, der unterstellt, ein Künstler spiele in seinem Werk mit seiner Biographie.

Handke hat sowohl seit Mitte der 1980er Jahre in seinem Werk wie auch in Gesprächen seine Affinität für Jugoslawien erläutert. Neben den bereits erwähnten autobiographischen Prägungen ist vor allem der Gedanke an das Widerstandsgebilde Jugoslawien zu nennen, welches sich, so Handke, im Wesentlichen aus eigener Kraft von der Barbarei des Nationalsozialismus befreit habe. (Daher ist die Aussage insbesondere in schwedischen Medien, Handke sei ein rechter Denker, geradezu lächerlich.) Beides korrespondiert bei Handke mit einem sprachkritischen Impetus, mit dem er die Berichterstattung zu den jugoslawischen Sezessionskriegen beginnend Anfang der 1990er Jahre begleitet. Es ist dieser Dreiklang, der Handke veranlasste, sich zu Wort zu melden.

Wurde in der Erzählung Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), in der die Abkehr Sloweniens aus dem jugoslawischen Staatenverbund betrauert wird, noch als Randnotiz abgetan, setzten die medialen Gewitter mit der Winterlichen Reise 1996[1] ein. Von nun an sollten sich Handke wie auch seine Kritiker gegenseitig aufschaukeln. Aber leider interessiert sich Wiesmann überhaupt nicht für die Geschichte dieser jahrzehntelang andauernden, bisweilen pausierenden Lawine von Missverständnissen, Falschzitaten und gegenseitigen Beschimpfungen. Er begnügt sich damit, Handke „persönliche Entgleisungen“ zu attestieren und spricht von „strittigen Stellen“. Eine solche Stelle wird dann aus der Winterlichen Reise zitiert. Da wird Handkes Verwendung des Wortes „Muselmann“ für die bosnischen Muslime als „rassistisch“ ausgemacht. Fast selbstredend, dass sich Wiesmann auch auf die „andersgelben Nudelnester“ bezieht und hierin einen „Affront“ gegen die Opfer des Genozid sieht.

Darunter macht er es nicht. Dass „Muselmann“ eine Eindeutschung des französischen Wortes für Muslim („musulman“) sein könnte (Handke lebt seit dreißig Jahren in Frankreich), kommt ihm nicht in den Sinn. Und dass die „andersgelben Nudelnester“ tatsächlich eine Impression auf dem Belgrader Wochenmarkt ist, auch nicht (die auf dem Balkan übliche Fütterung von Hühnern mit Mais gibt den Nudeln eine andere Farbe).

Stattdessen stimmt Wiesmann in die Rede von der „Umdeutung historischer Fakten“ ein. Welche das sein sollen, lässt er aus. Ja, es steht jedem Kritiker frei, Handkes Jugoslawien-Bild als „Nostalgie“ oder falschen Idealismus zu kritisieren. Handke macht das oft genug übrigens selber, spricht vom „Neunten Land“, von sich als Träumer. Bereits in der Winterlichen Reise fragt er, ob ein solches Aufschreiben von den Leiden der Serben nicht obszön wäre. Nirgendwo beansprucht Handke so etwas wie die Wahrheit zu Jugoslawien zu sagen oder gar zu wissen. Die Behauptungen, die er aufstellt, werden von ihm, gerade ausgesprochen, sofort wieder befragt bzw. angezweifelt. Aber auch das, was die Journalisten so in ihren Schnellschüssen herbeischreiben, befragt Handke. In diesem als blasphemisch empfundenen Akt liegt Handkes „Verfehlung“.

Der Verdacht kommt auf, dass Wiesmann die Texte Handkes wenn überhaupt nur sehr eingeschränkt kennt. Daher all die Zitate aus der taz, dem Standard, der Rede von Saša Stanišić (die mit einem falschen Zitat Handkes eingeleitet wird), der NZZ, der FAZ und sogar von der bisher nicht als Handke-Exegetin in Erscheinung getretenen Margarete Stokowski (die in Bezug auf Werk und Person Handkes die „Müll“-Metapher verwendete). Rekapitulation all der „Gründe“ (oder Schein-Gründe) gegen Handkes Auszeichnung. Neben Nora Bossong und Helmut Böttiger findet er noch einen Journalisten des Neuen Deutschland als „Handke-Verteidiger“ (fast scheint es sich dabei um eine Profession zu handeln). Die zahlreichen Einlassungen zum Beispiel von Literaturwissenschaftlern, die zum einen Handkes Texte kennen und daher nicht schematisch im Raster „pro“ und „contra“ argumentierten, fehlen im Aufsatz ebenso wie die Bewertung und Einschätzung der Vehemenz der sogenannten Diskussion, die bis zur Schmähung der Person Handke ging. Der 91-jährige deutsch-französische Autor Georges-Arthur Goldschmidt, der mit Teilen von Handkes Serbien- bzw. Jugoslawien-Büchern nicht übereinstimmt, nannte den Furor einiger Wortmeldungen „intellektuellen Mordversuch“. Dass sich mehr als 200 Intellektuelle gegen diese Form der Auseinandersetzung zu Wort meldeten und einen fairen Umgang in der Kritik mit Handkes Werk forderten, spielt bei Wiesmann ebenfalls keine Rolle.

Das Urteil steht fest: Wer am Grab von Milošević gesprochen und Karadžić getroffen hatte, als dieser bereits zur Verhaftung ausgeschrieben war, ist diskreditiert. Was Handke am Grab Miloševićs sagte und mit welcher Intention er den Srebrenica-Mörder Karadžić aufsuchte, wird nicht erwähnt. Weil es nicht bekannt ist? Weil es nicht in das Argumentationsmuster passt?

Wiesmann findet am Ende zu einer verblüffenden (Schein-)Logik: In der Handke-Sache seien beide Seiten im „Unrecht“ (nur er scheinbar nicht). Begonnen wird mit einem Appell: „Wer sich öffentlich über die literarische Qualität eines Textes äußert, sollte sich der gesellschaftlichen Tragweite seiner Worte bewusst sein.“ Hier stimmt man noch zu und ergänzt „…und sollte die Texte kennen“. Auch die Aussage, dass „wer über einen Autor oder eine Autorin urteilt…berechtigte Kritik an der Person nicht als Kritik am Werk verkaufen [darf]“, kann man teilen. Aber die Konsequenz, die hieraus für die Prämierung von literarischen Werken, folgt, ist perfide: „[Ü]ber ein Kunstwerk nachzudenken, es ästhetisch zu beurteilen, ist etwas anderes, als einen Autor durch eine wichtige Auszeichnung öffentlich zu honorieren.“

Das habe die Akademie gemacht, weil bei der Vergabe (es ist keine „Verleihung“ wie Wiesmann mehrfach schreibt – den Unterschied kann man schnell nachschlagen) die Person anwesend und vom schwedischen König den Preis in Empfang nahm. Wiesmanns Ratschlag an die Schwedische Akademie, „Kontroversen“ offen anzusprechen, ist bemerkenswert. Warum trägt er ein solches Ansinnen nicht gleich auch an alle anderen Literaturjurys? Im Übrigen ist er hier auch nicht auf der Höhe der Information. Auf Kritik an der Preisvergabe an Handke hatte die Akademie sehr wohl reagiert (man siehe u.a. die Stellungnahme vom 15. November 2019).

Der Vorschlag des Autors für die Zukunft geht dahin, dass Kunstwerke, die für wen auch immer moralisch „verantwortungslos“ sind, zwar weiterhin geduldet werden, aber nicht mehr prämiert werden sollen, solang es einen Autor gibt, der den Preis im Empfang nehmen könnte. Damit würde praktisch jedes Kunstwerk, jeder literarische Text zunächst einmal über die Integrität des Künstlers und dessen moralischer Ausrichtung bewertet werden. Bestimmend wäre dann „die Haltung oder Herkunft […] der Autoren“ (Wiesmann Marie Schmidt paraphrasierend). Welche Kriterien dies sind und wer entscheidet, bleibt ungeklärt.

Man sieht die Moralzensoren schon zu Gericht sitzen, fahndend nach verbotenen Wörtern, scheinbar abstrusen Schlüssen, verqueren Fragen und in den Biographien von Schriftstellern nach vermeintlich dunklen Flecken suchend. Nur wer diesen Test besteht, darf an die Stipendien-, Preis- und Dozententöpfe. Den anderen bleibt nur mehr die Gnade der weitgehend ignorierten Publikation.

Dabei würde Kunst, wie Peter Trawny jüngst einleuchtend ausführte, die sich moralischen Imperativen beugt, Verrat an sich selber üben. Die Frage nach der Berechtigung von Handkes Nobelpreis ist, und das zeigt Wiesmanns Text exemplarisch, Ausweis der Überforderung der Kritiker. „In Wahrheit“, so schreibt Trawny, „handelt es sich um die Unfähigkeit, die amoralische Moralität – d.h. die Offenheit – seiner [Handkes] Dichtung zu verstehen und zu ertragen. Die Unruhe dieses Offenen bedroht. Anstatt in ihr die Kraft des Schreibens zu erkennen, will man es schließen, das Offene zuschütten, damit Ruhe herrscht.“ Mit dem Zuschütten des Offenen würde am Ende die Literatur, die Kunst begraben.

 

[1] Der Text erschien zunächst in zwei Folgen in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Gerechtigkeit für Serbien. Einige Wochen später dann als Buch: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Aus Anlass des Nobelpreises hat die SZ den Originaltext ins Netz gestellt.