Die Freiheit des Lügners

Überlebenshilfe im postfaktischen Zeitalter: Über einige philosophische Neuerscheinungen zum Phänomen der Lüge

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Medien uns die Wahrheit sagen – was von immer mehr Menschen angezweifelt wird –, leben wir inzwischen im „postfaktischen Zeitalter“. In den USA spricht man sogar schon von der „Post-Truth-Ära“ – als ob die Wahrheit je einen leichten Stand gehabt hätte! Schließlich hat sie, wie bereits Michel de Montaigne wusste, immer nur ein Gesicht; ihre Gegenseite aber, die Lüge, „hat hunderttausend Gesichter und einen unendlich weiten Spielraum“.

Chancenlos war die Wahrheit also schon lange vor der Erfindung des Internets oder der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Dennoch triumphiert die Lüge „gefühlt“ so richtig erst heute – wenn noch so aberwitzige „Fake News“ Wahlen beeinflussen können und der mächtigste Mann der Welt eben diese scham- und leider auch folgenlos mit seinen „alternativen Fakten“ malträtiert. Wann also, wenn nicht jetzt, sollte man sich mit dem Phänomen der Lüge beschäftigen?

Wie stark derzeit das Interesse an diesem, nach Immanuel Kant, „eigentlichen faulen Fleck in der menschlichen Natur“ ist, zeigen etwa Titel von Romanen wie Joachim Lottmanns Alles Lüge oder TV-Serien wie Pretty Little Liars. Mehr noch aber dem Thema gewidmete Ausgaben von Zeitschriften wie Kursbuch, Zeitschrift für Kulturphilosophie und ZEIT Geschichte sowie eine Reihe neuer oder wiederentdeckter philosophischer Werke über die Lüge. Darunter der Essay Lying von Sam Harris aus dem Jahr 2013, dessen (etwas holprige) Übersetzung nun in der Schweizer Edition Spuren erschienen ist.

Provozierte der amerikanische Neurowissenschaftler 2004 mit seinen Thesen von der Schädlichkeit der Religionen für die Menschheit (Das Ende des Glaubens), so nun mit der Feststellung: „Die wenigsten von uns sind Mörder oder Diebe, aber wir alle waren und sind Lügner.“ Die „gezielte Irreführung anderer, während sie eine ehrliche Meinung erwarten“, aber sei der „Königsweg ins Chaos“. Der langfristige Schaden unserer alltäglichen Flunkereien überwiege jeden kurzfristigen Nutzen: Mit Lügen ruinieren wir unsere Freundschaften und Beziehungen, von den psychisch-emotionalen Kosten wie Schuldgefühlen oder der Angst aufzufliegen zu schweigen. Dagegen brächte uns ehrliche Kritik statt geschmeidigen Schwindelns letztlich alle weiter, selbst bei der Schreckensfrage für alle Ehemänner, „Findest du mich zu dick?“. Warum also nicht einfach endlich ehrlich sein?

Dass das in der zwischenmenschlichen Realität nicht immer ganz einfach ist, weiß Sam Harris natürlich auch. Er versucht, anhand zahlreicher Alltagsbeispiele zu zeigen, wie es seiner Meinung nach besser geht. Wer zum Beispiel einen unliebsamen Gast beherbergen muss, der sich bei seiner Ankunft für die Unterkunft bedankt, könnte etwa entgegnen: „Dafür sind Gästezimmer ja da … Wie war eure Reise?“ Statt einem geheuchelten „Ich freue mich so über deinen Besuch“ also diplomatisches Rumgeeiere? Bei Harris sieht moralischer Fortschritt einem faulen Trick zum Verwechseln ähnlich.

Gewichtiger als Harris’ Essay wirken da doch die neuen Titel zweier deutscher Philosophinnen. Formal könnten sie unterschiedlicher kaum sein: Die Düsseldorfer Philosophieprofessorin Simone Dietz liefert in der aktualisierten Neuausgabe ihres ursprünglich bei Rowohlt erschienenen Buches Die Kunst der Lüge ein eindrucksvolles, gut lesbares Grundlagenwerk, in dem sie sämtliche Spielarten der Lüge betrachtet – von „windbeutelnden“ oder „versteinerten“ Lügen bis zu Trumps „Beifallslügen“.

Die Hamburger Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth dagegen, die mit einer Arbeit über einen der erfolgreichsten Lügner des 20. Jahrhunderts, Adolf Eichmann, bekannt wurde, präsentiert mit Lügen lesen einen brillant geschriebenen Essay von aphoristischer Dichte. Über das Zusammenspiel zwischen dem Lügner und seinem Gläubigen heißt es etwa: „Wenn Wahrheit ist, was uns verbindet, dann ist Lüge das, worin wir uns freiwillig aneinander ketten“. Wo Dietz sich systematisch vorarbeitet, lädt Stangneth den Leser zu einem facettenreichen Denkabenteuer ein und verblüfft mit originellen Beispielen. Hatte sie 2016 in Böses Denken Kants „transzendentale Apperzeption“ genüsslich am Beispiel einer Damenhandtasche erklärt (als kleine Rache dafür, dass der Königsberger vom weiblichen Intellekt wenig hielt), so in ihrem neuen Buch das Problem der Lüge an der spezifisch weiblichen Fähigkeit zum vorgetäuschten Orgasmus. 

Doch auch wenn Stangneth, anders als Dietz, bezweifelt, dass es Mittel gibt zu erkennen, wann ein Mensch lügt – inhaltlich stehen sich die beiden deutschen Denkerinnen recht nahe. Beide wollen auch nur beschreiben, nicht vorschreiben, teilen also Kants rigoristische Ablehnung der Lüge nicht. Für den Königsberger waren Lügen ja selbst in dem über hundert Jahre nach ihm ziemlich aktuell gewordenen Extremfall verboten, dass man jemanden vor ungerechtfertigter Verfolgung versteckt und plötzlich der Häscher an der Tür klingelt.

Schließlich sei die Sprache allein zur wahrheitsgemäßen Mitteilung gemacht; jede Lüge ruiniere diesen Vernunftzweck. (Sam Harris schlägt hier übrigens den hollywoodreifen Spruch vor: „Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Wenn du einen Schritt weitergehst, jage ich dir eine Kugel in den Kopf.“) Dagegen erinnert etwa Stangneth mit dem Philosophen Karl Jaspers daran, dass es Umstände gibt, in denen das Lügen schlichtweg Lebensbedingung ist. Jaspers wusste, wovon er sprach, die Nazis hätten ihn und seine Frau um ein Haar in den Suizid getrieben.

Das Phänomen nicht vorschnell verurteilend, sondern mit der Faszination von Insektenforschern zu studieren, führt beide Philosophinnen zu eindrucksvollen Erkenntnissen. Zum Beispiel beweist wenig so eindeutig die menschliche Freiheit wie unsere Fähigkeit zu lügen. Mit Hannah Arendt lässt sich sagen: „Ich kann lügen und könnte ich es nicht, ich wäre nicht frei.“ Zugleich bedeutet Lügen aber nicht weniger als eine Einschränkung der Freiheit des Belogenen, die Missachtung seiner Selbstbestimmung, auch wenn ein Arzt aus Barmherzigkeit einem Todkranken seinen Zustand verschweigt. Wenig erschüttert uns so sehr wie die Erkenntnis, belogen worden zu sein; sie kann uns sogar zwingen, uns unsere Vergangenheit rückwirkend neu anzueignen, etwa wenn ein adoptiertes Kind die Wahrheit über seine Herkunft erfährt. 

Am ehesten gerechtfertigt erscheint das Lügen noch zum Schutz der Privatsphäre, als kommunikative Verteidigung gegenüber ungerechtfertigter Neugier eines Gegenübers. Denn das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet auch das Recht, selbst zu bestimmen, was man von sich preisgeben möchte. So hat das deutsche Bundesarbeitsgericht erlaubt, dass Schwangere in Bewerbungsgesprächen bei entsprechenden Fragen lügen dürfen. Ein Selbstbehauptungsrecht, das Dietz auch Flüchtlingen „ohne gesicherten Rechtsstatus in einer für sie unwägbaren globalen Lage“ einräumt. Untreue Partner dagegen sollten sich nicht zu früh freuen, ergänzt Dietz: „Eine als Vertrauensverhältnis definierte und gelebte Beziehung begründet andere Ansprüche als die Begegnung zwischen Fremden.“

Beide Philosophinnen sind sich auch darin einig, dass das Lügen eine der komplexesten Tätigkeiten ist, zu denen wir fähig sind, auch wenn, wie Stangneth erinnert, wohl noch nie ein Kind für seine erste Lüge gelobt worden sein dürfte. Dass aber diese Ur-Lüge eines Individuums in dessen Entwicklung ein Schlüsselmoment ist, wusste bereits der französische Moralphilosoph Vladimir Jankélévitch. Dessen 1942 unter dem Vichy-Regime entstandener Essay Von der Lüge liegt nun in der ehrwürdigen grünen Klassiker-Reihe des Meiner Verlags in deutscher Sprache vor. Jankélévitch, der die Lüge zwar als „List der Schwachen“ lobte, aber als „Opium der geringsten Anstrengung“ ablehnte, betonte: „Man lügt niemals, ohne es zu wollen. Daher ist die erste Lüge eines Kindes auch so schwerwiegend. Der Tag der ersten Lüge ist ein wahrhaft feierlicher, an dem wir beim Unschuldigen die beunruhigende Tiefe des Bewusstseins entdecken.“ Sind wir also letztlich alle ein bisschen Donald Trump? Sad.

Titelbild

Simone Dietz: Die Kunst des Lügens.
Reclam Verlag, Stuttgart 2017.
203 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783150111031

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Sam Harris: Lügen. Kurze Beine, lange Folgen.
Spuren, Winterthur 2017.
127 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783905752557

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Titelbild

Vladimir Jankélévitch: Von der Lüge.
Herausgegeben von Steffen Dietzsch.
Übersetzt aus dem Französischen von Sarah Dormhof und Vincent v. Wroblewsky.
Parerga Verlag, Berlin 2006.
290 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3937262229
ISBN-13: 9783937262222

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Titelbild

Bettina Stangneth: Lügen lesen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498061739

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