Dissidenten im Dichtergarten

Matthias Jüglers Roman „Die Verlassenen“ im Kontext der alternativen Lese-Kultur der DDR

Von Sophia WegeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sophia Wege

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle (Saale), veröffentlichte 2021 den viel gelobten DDR-Roman Die Verlassenen, für den er 2022 mit dem Klopstock-Preis, der höchsten Auszeichnung für Literatur in Sachsen-Anhalt, geehrt wurde. Aktuell arbeitet Jügler als Stadtschreiber in Halle und stellte jüngst sein Buch in einem Kleingarten seiner Heimatstadt vor. Der Veranstaltungsort hätte nicht passender gewählt sein können, denn ein solcher Garten bildet das poetisch-politische Zentrum der Geschichte. Das Refugium der Großstädter avanciert bei Jügler zum Treffpunkt eines dissidentischen Schreib- und Lesezirkels, der dort regimekritische Aktionen vorbereitet. Am Beispiel der Zerstörung der literaturaffinen Familie Wagner durch die Staatssicherheit arbeitet Jügler ein Stück ostdeutscher Literatur- und Kulturgeschichte auf, ohne in verklärende Ostalgie zu verfallen, aber auch ohne die Oppositionsbewegung zu heroisieren, denn der Spitzel stammt aus den eigenen Reihen. Den realhistorischen Hintergrund des Literaturzirkels in der Fiktion bilden die Biotope der intellektuellen und künstlerischen Boheme, die sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 in Halle und anderen ostdeutschen Universitätsstädten herausbildete. Deren Akteure schufen individuelle Freiräume jenseits parteigelenkter Kulturpolitik und bereiteten auf diese Weise den Boden für den Mauerfall.

II

Aus dem Jahr 2014 rückblickend erzählt der 1981 ebenfalls in Halle geborene Protagonist Johannes Wagner seine Familiengeschichte. Johannes wächst mit seinen Eltern in einem Hochhaus in der „Hanoier Straße“ in Halle-Silberhöhe auf, einer real existierenden, im Volksmund „Silberhölle“ genannten Plattenbausiedlung am südlichen Rand der alten Universitätsstadt. Phonetisch bildet „Hanoi“ das Äquivalent zu „Ha-Neu“, der gängigen Abkürzung für Halle-Neustadt, einer östlich von Bahngleisen und westlich von der Saale umgrenzten Neubausiedlung, die in den 1960er Jahren eigens für die Arbeiter von BUNA und LEUNA, zweier nahegelegener chemischer Großkombinate, erbaut wurde und mit fast 100.000 Einwohnern als eines der größten und ambitioniertesten Bauprojekte der DDR galt. Im Roman ist der ‚Platte‘ („Fickzellen mit Fernheizung“, Heiner Müller) beziehungsweise dem Industriestandort sowohl die Saale, als Naturraum, beiseitegestellt, sowie auch jene auf dem flachen Land zwischen Halle und Leipzig gelegene Kleingartenanlage. Der abgelegene Garten ist für Familie Wagner ein existenzieller locus amoenus am Rande der zu DDR-Zeiten von schwerer Umweltverschmutzung gezeichneten Stadt. Von Anfang bis Mitte der 1980er Jahre veranstalten die „Literaturenthusiasten“ Annegret und Thomas Wagner in ihrer Parzelle einen konspirativen Lesezirkel mit Freunden, darunter „Schriftsteller und Maler, und solche, die sich dafür hielten“. Um „Lesen, trinken, fröhlich sein“ sei es gegangen, erklärt der Vater dem Sohn die Freitagabende, verschweigt aber die politische Dimension der Zusammenkünfte: Man las und diskutierte Literatur, doch schrieben einige Mitglieder auch Flugblätter und organisierten eine Fahrrad-Demonstration für freie Meinungsäußerung. Zudem arbeitete Thomas Wagner insgeheim an einem eigenen Buch. Erst gegen Ende des Romans erfahren die Leser:innen, dass die Staatssicherheit einen OV (operativen Vorgang) eingerichtet hatte, das heißt, einen Freund innerhalb der Gruppe als IM anwarb, der den Lesekreis und dessen Aktivitäten bespitzelte.

Der Titel des Romans bezeichnet vornehmlich die nahezu vollständige Verlassenheit der Hauptfigur: Als die Mutter 1986 plötzlich stirbt, angeblich an einem Herzinfarkt, bleibt der fünfjährige Johannes mit dem trauernden Vater allein zurück. Thomas Wagner vermag es nicht, über die eigenen Gefühle und die des Jungen zu sprechen. Das Schweigen führt dazu, dass der Junge dem Vater gegenüber unwillkürlich die Rolle des vernünftigen und tröstenden Erwachsenen einnimmt („Das wird schon wieder“) und Rechtfertigungen für dessen Verhalten sucht, was einem erzieherischen Versagen des Vaters gleichkommt. Als Johannes das Arbeitszimmer des Vaters aufräumt und dessen Papiere entsorgt, in der Hoffnung, ihm auf diese Weise eine Freude zu machen, und weil ihm beigebracht wurde, dass Ordnung das halbe Leben ist, spricht der Vater zwei Wochen lang kein Wort mehr mit ihm. Das Buchmanuskript wird später wieder aus dem Müll gefischt und mit Hilfe von Wolfgang, dem engsten Freund des Vaters, mühevoll rekonstruiert. Der lustige Wolfgang dient sich Johannes als Vaterersatz an, so auch 1988 beim Umzug in eine kleinere Wohnung, in dessen Verlauf der Umzugskarton mit dem Manuskript endgültig verloren geht. Der siebenjährige Johannes leidet mittlerweile unter Zwangsvorstellungen und gibt sich selbst die Schuld am Verschwinden des Kartons. Die Aufbruchstimmung der Wendejahre spart Jügler konsequent aus, denn der Teil der Geschichte, auf den es ankommt, sind die Traumata und seelischen Versteinerungen der Regimeopfer, die der Mauerfall nicht heilen kann. 1992 verschwindet auch Wolfgang, der einzige Freund, plötzlich aus dem Leben der Restfamilie. Im Sommer 1994 verbringt Thomas Wagner einen letzten, friedvollen und unverhofft redseligen Tag mit seinem Sohn – bedeutsamer Weise im idyllischen Grün des besagten Kleingartens zwischen Rittersporn und Hollywoodschaukel. Am Abend übergibt der Vater Johannes der Großmutter, die in einem dunklen Plattenbau in Halle-Ammendorf lebt, und verschwindet für immer und ohne Erklärung. Mutmaßlich nimmt sich Thomas Wagner das Leben – hierauf könnte die mehrfache Erwähnung des blühenden Rittersporns hindeuten, denn die blaue Blüte ist giftig.    

Johannes wächst nunmehr ohne Eltern und auch ohne Freunde und ohne nennenswerte Ereignisse bei der Großmutter auf, die zwar ihr Bestes gibt, es jedoch ebenfalls nicht fertigbringt, über das Verschwinden des Vaters zu sprechen. Als im Jahr 2000 noch die Großmutter stirbt, zieht sich der endgültig verlassene Johannes bis zum Abitur in die insulare Einsamkeit des elterlichen Kleingartens zurück, doch fehlen ihm die handwerklichen Fähigkeiten, die Laube instand zu halten. Die Abstoßung der entlegenen, verfallenden Parzelle steht symbolisch für das Ende der DDR, einer schönen und gleichwohl von innen vergifteten und umzäunten Idylle. Im Kern von Jüglers Garten-Metapher steckt eine tiefe emotionale Ambivalenz gegenüber dem verlorenen Stück Land, an der sich viele Ostdeutsche bis heute abarbeiten.

Mit Beginn des VWL-Studium zieht der Protagonist in die nördliche Innenstadt, einem gutbürgerlichen Gründerzeitviertel, kehrt jedoch mit dem Antritt einer Stelle in der öffentlichen Verwaltung freiwillig in einen Plattenbau im mittlerweile heruntergekommenen Süden der Stadt zurück. Aus dem Sohn von Buchliebhabern ist ein stummer Buchhalter geworden, der keinen Zugang zu seinen Gefühlen findet. Emotional betäubt, unter Schlafstörungen leidend und enge Bindungen meidend, lebt er ein ereignisloses Leben bis er 2003 Katja kennenlernt. Die Beziehung geht voraussehbar nach einem Jahr an Sprachlosigkeit zugrunde. Immerhin gelingt es Johannes, den Kontakt zu seinem Sohn Jasper aufrechtzuerhalten.

Zur Sprache, zur Literatur, und damit zu sich selbst und seiner Lebensgeschichte, findet der Protagonist erst, als er circa 2015 die Bücherkisten seiner Eltern öffnet, die er jahrelang im Keller aufbewahrte, um ihnen „nahe zu sein“. Johannes, der als Kind davon träumte, Meeresbiologe zu werden, findet im Biologiebuch der Mutter einen an den Vater adressierten Brief aus dem Jahr 1994, das heißt aus dem Jahr seines Verschwindens. Johannes reist daraufhin nach Norwegen zu Inger, der Absenderin des Briefes. Sie händigt ihm einen Ordner aus, aus dessen Inhalt sich der Tod der Mutter 1986 und auch der mutmaßliche Suizid des Vaters erklärt: Inger verliebte sich Anfang der 1990er Jahre in einen Ostdeutschen namens Stefan. Per Zufall entdeckte sie wenige Monate später eine von Stefan offenbar sorgfältig vor ihr versteckte Akte, aus der hervorging, dass ihr Geliebter in Wahrheit Wolfgang hieß und für die Staatssicherheit den Lesekreis der Wagners bespitzelte. Inger schlussfolgerte, dass Wolfgang aufgrund einer bevorstehenden oder tatsächlichen Enttarnung als IM nach Norwegen gegangen war. Sie trennte sich von ihm und schickte Thomas Wagner den Brief, den Johannes nun zwanzig Jahre später in Händen hält.

Der Zeitpunkt von Wolfgangs Abtauchen 1992 passt zu den realhistorischen Umständen der Wendezeit in Halle, die eine bundesweit einmalige Besonderheit aufzuweisen hat. In eben diesem Jahr veröffentlichte die lokale BILD eine Liste mit den vollständigen Namen und Adressen sämtlicher Stasi-Mitarbeiter der Stadt. Die Liste war der Zeitung von einer anonymen Dissidentengruppe zugespielt worden, die verhindern wollte, dass die Unterlagen von Stasi-Leuten vernichtet wurden, um ihre Vergangenheit zu vertuschen und sich, wie im Fall von Wolfgang, einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. Bemerkenswert ist, dass Jügler zu ungewöhnlichen Mitteln greift, um dem Roman den Anschein lokaler historischer Authentizität zu verleihen. Teile der Stasi-Akte der Wagners aus dem Ordner, den Inger Johannes überreichte, sind fotographisch in den Text hineinmontiert. Aus den fiktiven abgebildeten Dokumenten geht hervor, dass sich Annegret Wagner auf dem Weg zu einem konspirativen Treffen mit einem Freund des Lesekreises befand, als sie von Wolfgang, der ihr offenbar gefolgt war, auf der Straße angesprochen wurde. Ein weiterer Zeugenbericht besagt, Annegret habe Wolfgang mit dem Verdacht konfrontiert, dass er ein Spitzel sei. Im Zuge eines Streits habe Wolfgang Johannes Mutter auf eine viel befahrene Straße gestoßen, wo sie von einem Auto erfasst wurde und tödlich verunglückte.

Der Roman endet damit, dass Johannes den untergetauchten Wolfgang in einer norwegischen Kleinstadt ausfindig macht. Jetzt ist er es, der dem Verräter heimlich folgt und ihn bespitzelt, doch zur Rede stellt er ihn nicht, denn Wolfgang hat mittlerweile eine neue Frau und zwei kleine Kinder. Aus Rücksichtnahme auf das Lebensglück dieser Kinder entscheidet sich Johannes dafür, Wolfgang nicht mit seiner Vergangenheit und seiner Schuld zu konfrontieren. Stattdessen zieht er sich zurück – und schreibt ein Buch, Die Verlassenen. So wird am Ende aus dem Buchhalter doch noch ein Schriftsteller, der gewissermaßen das ungeschriebene Buch seines Vaters vollendet und damit die Geschichte seiner Familie zwischen Idylle und Trauma in Literatur verwandelt.

III

Jügler wuchs in Halle-Silberhöhe auf und studierte Skandinavistik. Auch andere Details lassen vermuten, dass das Buch autobiographisch geprägt ist. Gleichwohl ist es nicht als Autofiktion ausgewiesen und verdient es, allein aufgrund seiner erzählerischen Qualitäten als literarisches Werk, als Fiktion, behandelt zu werden. Jügler setzt allerdings bewusst und auch für Ortsfremde unverkennbar auf diverse erzählerische Mittel zur Erzeugung einer empirisch-faktischen, nahezu dokumentarischen Qualität des Erzählten, aus welcher gleichwohl die poetisch-metaphorische Dimension des Romans erwächst: Die Stadt Halle weist im Roman zwei Gesichter auf. Zum einen ist sie geprägt von neuer DDR-Architektur und Industrie, zum anderem von Garten- und Flusslandschaft, also einem zeitlosen idyllischen und gleichwohl abgründigen Naturraum. Der Protagonist ist in beiden Räumen zu Hause. Das Erzählen dieser Räume grundiert zum einen die äußere, rationale, vom politischen System geprägte Ordnung der Familiengeschichte, die auch als Stadt- und Landesgeschichte erkennbar wird. Zum anderen generiert das Erzählen eine neue psychisch-emotionale Ordnung von erlebter innerer Geschichte mittels therapeutischen Erzählens. Zu Jüglers faktenversessener, geradezu buchhalterischer Erzählweise zählt die akribische Nennung von Namen: Neben dem Kleingarten (in Gröbers an der B6), sind dies die Namen von Straßen (Ludwig-Wucherer-Straße nahe Steintor), Wohnadressen (Hanoier Straße 71), Straßenbahnhaltestellen (Rennbahnkreuz), Geschäften (Fleischerei) und Lokalen (Imbisse, Kneipen), Stadtbezirken und einzelnen Gebäuden (u.a. die alte Papierfabrik in Kröllwitz). Sämtliche Orte haben eine Entsprechung in der Wirklichkeit. Der protokollierende, ordnungsaffine Stil des Ich-Erzählers bildet ein ästhetisches Spiegelbild zum emotionsfreien ‚Aktenstil‘ der im Roman abgedruckten Protokolle und Beobachtungsberichte der Staatssicherheit, die sich ebenfalls durch Akribie auszeichnen, insbesondere was Namen und Ortsangaben betrifft. Im Gegensatz zur Staatsicherheit lässt der Erzähler die Daten und Fakten seines Lebens jedoch nicht in geheimen Archiven verschwinden, sondern stellt sie der lesenden Öffentlichkeit in Gestalt seines Romans zur Verfügung – gerade hierin liegt die tiefere Ursache für die Erzählweise des Ich-Erzählers.  

Hinzu kommt, dass Jügler die Informationen in den Stasi-Akten der Wagners zwar frei erfunden, sie jedoch hinsichtlich Sprache und Stil echten Akteneinträgen nachempfunden hat, zudem unter Verwendung der Originaltypographie alter Schreibmaschinen. Bei den abgedruckten schwarz-weiß Fotographien handelt es sich um reale Fotos, die einerseits aus ihrem ursprünglichen realhistorischen Kontext gelöst wurden, andererseits aber in allen relevanten Punkten mit dem Romangeschehen übereinstimmen. Das Foto der im Roman von Thomas Wagner organisierten Fahrrad-Demonstration für Meinungsfreiheit zeigt Teilnehmer:innen einer real-existierenden Fahrrad-Demo aus DDR-Zeiten. Es handelt sich um die Petersberg-Rallye, die von Halle zum nahegelegenen Petersberg führte und nach dem Schelmen-Roman von Christian Reuter „Schelmuffsky-Troffi“ getauft wurde. Die seit 1969 alljährlich stattfindende Tour war über die Grenzen des Bezirkes Halle hinaus als Event der Gegenkulturszene bekannt. Initiiert wurde sie von Wasja Götze, einem Maler, der sich von ‚kapitalistischer‘ Pop-Art inspirieren ließ und republikweit Bekanntheit erlangt hatte, weil er 1976 das Protestschreiben gegen Biermanns Ausbürgerung unterzeichnet hatte. An der wild-fröhlichen Radtour nahmen alljährlich bunt kostümierte Familien, mehr oder weniger oppositionelle Künstler, Hippies, Studenten, Bohemiens und Intellektuelle, darunter zahlreiche Studenten und Mitarbeiter der medizinischen Fakultät der Uni Halle teil. Anders als im Roman gab es während der Schelmuffsky-Troffi jedoch keine offensiven parteikritischen Aktionen.

Das subkulturelle Klima in der Saalestadt, das den Hintergrund für Jüglers Geschichte bildet, speiste sich maßgeblich aus dem autonomen Selbstverständnis der traditionsreichen Kunsthochschule Burg Giebichenstein und der Martin-Luther-Universität, wobei deren soziale Sphären aufgrund persönlicher Querverbindungen eng verwoben waren. In den 1960er Jahren wurde die Kunsthochschule von Wille Sitte geleitet, der damals noch nicht zum ersten Staatsmaler der DDR gekürt war, sondern die aufmüpfigen Künstler der Stadt unterstützte, darunter das Schriftsteller-Ehepaar Sarah und Rainer Kirsch, das bis 1968 in Halle lebte. Die Universität Halle brachte zur Zeit der Aufklärung eine Reihe schriftstellernder und philosophischer Ärzte hervor, und diese Tradition setzte sich auch zu DDR-Zeiten fort. Beispielsweise lehrte der bedeutendste Chirurg der DDR, Karl-Ludwig Schober, an der MLU. Dem Erfinder der hallischen Herz-Lungen-Maschine und Sammler moderner Kunst widmete Rainer Kirsch in Kopien nach Originalen ein dreißigseitiges Portrait. Der Mitteldeutsche Verlag, bei dem die Kirschs ihre ersten Werke veröffentlichten, hatte seinen Sitz in Halle. Bereits in den 1970er Jahren gab es in den verfallenden Altbauten der Stadt eine Hausbesetzerszene. In den 1980er Jahren fanden in der Christuskirche überregionale Treffen ostdeutscher Punkbands statt. In der Studentengemeinde waren Inge und Walter Jens sowie Günter de Bruyn zu Besuch.

Halle war in den 1960er Jahren nicht nur Kunst- und Universitätsstadt, sondern nicht zuletzt auch Literaturstadt. Nicht nur die Fahrrad-Demo, sondern auch zahlreiche weitere Orte, Ereignisse und Personen des Romans lassen sich Halle als Literatur- und Kulturstadt in Zusammenhang bringen, wodurch die fiktive Familiengeschichte einen dezidiert kulturhistorischen, beinah archivarischen Anspruch erkennen lässt: Neben den Ehepaaren Christa und Gerhard Wolf sowie Sarah und Rainer Kirsch lebten hier unter anderem die regimekritischen Schriftsteller Werner Bräunig, Dieter Mucke, Kurt Bartsch sowie Heinz Czechowski, der Sarah Kirschs Lektor im Mitteldeutschen Verlag war. Erik Neutsch, der Autor von Spur der Steine, war bis 1965 Bezirksvorsitzender des Schriftstellerverbandes Halle und lebte bis zu seinem Tod 2013 in Halle. In Ammendorf, wo Johannes‘ Großmutter wohnt, war das Kombinat „Maschinenfahrzeugbau“, das größte Werk zur Produktion von Schienen und Eisenbahnwaggons der DDR, angesiedelt. In diesem so genannten Waggonbau Ammendorf, dem stählernen Herz der Industrie, leiteten die Wolfs in den frühen 1960er Jahren einen „Zirkel schreibender Arbeiter“ und lernten dort das Ehepaar Kirsch kennen. In solchen Veranstaltungen sollten die Werktätigen an den Sozialistischen Realismus herangeführt werden, jene ästhetisch-ideologische Leitlinie, die durch den programmatischen „Bitterfelder Weg“ von 1959 vorgegeben war – Bitterfeld liegt nur 30 Kilometer östlich von Halle.

Mit dem Setting Halle-Ammendorf erinnert Jügler an die offizielle, von den Kulturbund-Clubs der DDR organisierte Schreibzirkel-Tradition, zeigt jedoch am Beispiel der Familie Wagner, wohin sich das Leseland DDR jenseits der institutionalisierten, parteigelenkten Kulturpolitik ab den 1970er Jahren entwickelte: Spätestens seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976 schossen in ostdeutschen Universitätsstädten informelle Oasen in allen Kulturbereichen – Literatur, Bildende Kunst, Musik und Mode – wie Pilze aus dem Boden, darunter auch zahlreiche private Lesezirkel. Die Ausstellung „Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte, Quartiere“ im Deutschen Historischen Museum (1997) dokumentierte die künstlerischen Räume und Praktiken dieser Alternativ-Szene in einzelnen ostdeutschen Städten und wertete sie insgesamt stärker als individualistische Ergänzungskultur denn als politisch aktionale Gegenkultur. Den „Hippies, Lauben, Sommergästen“ dieser Boheme ist im Katalog zur Ausstellung ein Kapitel gewidmet. Darin lässt sich nachlesen, dass neben der bekannten Szene am Prenzlauer Berg noch zahlreiche weitere Initiativen aktiv waren, darunter in Dresden, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Jena, Erfurt und auch in Halle, das sich ab den 1970er Jahren zur Hochburg subversiver Literatur-Treffen entwickelte. Der Verfasserin dieses Artikels sind allein vier Lesekreise bekannt, wobei die Mitglieder der Gruppen untereinander stark vernetzt waren. Beim Lesezirkel des Ärzte-Ehepaares Nattermann las beispielsweise 1972 Sarah Kirsch, ehemalige Studentin der Biologie an der MLU. Vermittelt wurde der Besuch durch den an der MLU lehrenden Mediziner und Lyriker Dr. Eckhard Ulrich, der sich nach der Wende das Leben nahm, nachdem er in der Wendezeit fälschlicherweise unter dem Verdacht gestanden hatte, Stasi-Mitarbeiter gewesen zu sein.

Der bedeutendste Literatur-Zirkel der Stadt bildet den konkreten geschichtlichen Hintergrund für Jüglers Roman: Seit 1973 Jahren lud der an der MLU lehrende Dr. Peter Bohley (1935-2020), ein international renommierter Biochemiker, Freundinnen und Freunde regelmäßig an Freitagabenden zum Lesezirkel in seine Privatwohnung ein. Der bildungsbürgerliche Kreis setzte sich überwiegend aus literaturinteressierten Wissenschaftlern, Künstlern, Medizinern, Studierenden und Doktoranden zusammen. Anders als in Jüglers Roman wurden bei diesen Treffen keine politischen Aktionen organisiert, vielmehr lasen die Teilnehmer:innen als nicht realistisch-sozialistisch und somit als revisionistisch, dekadent, skeptisch, pessimistisch verunglimpfte Werke folgender Autoren: Dante, Shakespeare, Moritz, Büchner, Hölderlin, Heine, Morgenstern, Heinrich und Thomas Mann, Frisch, Stifter, Keller, Puschkin, Proust, Kafka, Trakl, Rilke, Canetti, Borges, Joseph Roth und Michail Bulgakow, dessen satirischer Roman Der Meister und Margarita in DDR als subversives Meisterwerk schlechthin galt. Aus der Riege der DDR-Autoren standen Johannes Bobrowski, Günter Kunert, Rainer Kunze, Volker Braun und Peter Hacks auf der Lektüreliste (für eine vollständige Lektüreliste vgl. Peter Bohleys Autobiographie Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte 2005). 1983 las Stefan Heym in der Studentengemeinde in Halle; die Gäste der Lesung wechselten dann in Bohleys Wohnung über und diskutierten dort weiter. Peter Bohley und andere Teilnehmer:innen waren wiederum auch in anderen Lesekreisen der Stadt zu Gast.

Auch in seinen Biochemie-Vorlesungen stellte Peter Bohley gelegentlich zu Beginn literarische Werke vor. In seinen Lebenserinnerungen zitiert er zwei Gedichte; seine Kommentare tragen einiges zum Verständnis zur Rezeption im Literaturland DDR bei. Zum einen kommentiert Bohley ein Gedicht von Peter Hacks(Lieder, Briefe, Gedichte. Verlag Neues Leben, Berlin 1974):

Mein Dörfchen

Mein Dörfchen, das heißt DDR,
Hier kennt jeder jeden.
Wenn sie in Rostock flüstern, Herr,
Hört Leipzig, was Sie reden.
Das Mädchen, das zu lieben lohnt,
Kennt auch ihr Freund genauer.
Es gibt nichts Neues unterm Mond,
Nicht dieserseits der Mauer.

Bohley vermerkt hierzu, das Gedicht habe er seinen Studenten bewusst vorenthalten, weil es sich zur allzu einfachen Identifikation aufgedrängt habe. Der Text erprobe das, was man im Westen später repressive Toleranz genannt habe – kritische, gleichwohl mit staatlicher Lizenz gedruckte Literatur. Ihm sei zu bewusst gewesen, dass sich durch solche Literatur am System der DDR nichts verändern würde, dass sie womöglich stabilisierend wirkte.

Wolfgang Emmerich bezeichnete die Gruppe von Autor:innen, die sich nicht so radikal dissidentisch wie Biermann äußerten, aber keineswegs auf Parteilinie waren, als Reformsozialisten. In seiner Rede zur Verleihung des Mörike-Preises tat Wolf Biermann 1991 die in die DDR hineingeborenen jüngeren, und damit aus seiner Sicht zu angepassten Kollegen als „spätdadaistische Gartenzwerge mit Bleistift und Pinsel“ im „Schrebergarten der Stasi“ ab. Ein solch harsches Urteil liegt Bohley fern, und wie man Hacks Position aus heutiger Sicht gerecht werden kann, sei an dieser Stelle dahingestellt. Das Beispiel zeigt jedoch eindrücklich, dass ostdeutschen Leser:innen die feinen Unterschiede dissidentischer Schreibpraktiken wahrnahmen und diskutierten. Die unangenehme und schwierige Frage nach der Beurteilung unterschiedlicher Grade von (Un-)Angepasstheit, die das Leben in der DDR einem jeden abverlangte, wird von Jügler und allen anderen Autor:innen, die sich mit DDR-Geschichte befassen, immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Keinesfalls jedoch ist diese Kernfrage des deutsch-deutschen Literaturstreits, die zugleich die Frage nach ostdeutscher Identität berührt, eine Erfindung der westdeutschen Germanistik.  

Ebenso unheroisch wie differenziert nimmt sich Bohleys Einschätzung des politischen Veränderungspotenzials des eigenen Lesezirkels aus. In seinem Erinnerungsbuch beurteilt er die Treffen als parteikritisch, aber „eigentlich für die DDR ungefährlich“ und „harmlos“. Ungeachtet dessen geriet sein Lesekreis als Treffpunkt zur Verbreitung „negativen“ Gedankenguts, regimekritischer Haltungen, nicht sozialistisch-realistischer Bildungserlebnisse und somit als Keimzelle staatsfeindlicher Gruppenbildung, ins Visier der Staatsicherheit. Ähnlich wie in Jüglers Roman wurde auch für den Bohley-Kreis eigens ein Operativer Vorgang (OV „Ring“) installiert, dessen Ziel die Ermittlung scheinbarer konspirativer Aktivitäten und strafbarer Handlungen, sowie langfristig die Paralysierung und Zersetzung der Gesprächsrunde durch Überwachung und Unterwanderung des Kreises durch IMs. Anders als im Roman gelingt dies der Staatsicherheit jedoch nicht, da sich niemand aus Bohleys Lesekreis als Spitzel anwerben ließ. Die Sprache der zweitausendseitigen Stasi-Akte zum OV beim Lesekreis Bohley stimmt jedoch mitunter wörtlich mit der fiktiven Akte im Roman überein.

Anstelle von Peter Hacks las Bohley den Studierenden das von Volker Braun übersetzte Sonnett 66 von Shakespeare vor, denn aus seiner Sicht spiegelte es die Stimmung unter ostdeutschen Intellektuellen ab Mitte der 1970er Jahren wider:

Müde alle dessen, will ich meine Ruhe.
Statt anzusehen, wie Leitung betteln geht,
Und Dürftigkeit sich trimmt zu Festtagsschmuck
Und Selbstvertraun nicht zu sich selber steht
Und Ehrenspangen schamlos mißplatziert
Und Jugendgradheit rasch verkommen muß
Und wahres Können in den Dreck geschmiert.
Und Stärke absackt in den Machtgenuß
Und Kunst von hohen Stellen stumm gemacht
Und Dummheit (amtlich) kontrolliert den Geist
Und bloße Wahrheit als naiv verlacht
Und der Geführte folgt der Führung dreist:
All dessen müde, wünscht ich, daß ich weg wär.
Nur fänd ich, ging ich, keine Liebe mehr.

Es ist anzunehmen, dass das Identifikationspotenzial des Gedichts für Bohley und Andere nicht nur im Wiedererkennen der eigenen Melancholie und Agonie lag, sondern auch im bitter-resignativen Ton, im Eingeständnis der eigenen Ohnmacht des Handelns. Die letzten Zeilen des Gedichts lesen sich zudem wie ein Kommentar zum zentralen Motiv der Verlassenheit in Jüglers Roman: Es geht um die Angst, bei Ausreise in den Westen die engsten Bindungen zu Freunden und Familienmitgliedern zu verlieren. Nicht selten hätten die Ausreisewilligen ihre alten Eltern zurücklassen müssen; sie mussten damit rechnen, sie womöglich nie wieder zu sehen. Tatsächlich litten viele DDR-Bürger, die während der großen Ausreisewelle Mitte der 1980er Jahre hinter der Mauer geblieben waren, unter dem Verlust enger Bezugspersonen. Für den Roman lässt sich ein solcher Zusammenhang erahnen: Thomas Wagner, dessen Lesekreis wesentlich ‚staatsfeindlicher‘ agiert als das realhistorische Vorbild (Bohley-Lesekreis), erwähnt zwar einmal knapp die Möglichkeit einer Flucht in den Westen, doch der Sohn glaubt in Anbetracht des Umzugs in die neue Wohnung nicht, dass der Vater es damit wirklich ernst meinte. Der Grund ist einfach: Alte Bäume wollen nicht mehr verpflanzt werden. Wäre Thomas Wagner mit dem Sohn geflohen oder ausgereist, hätte er seine alleinstehende Mutter in Halle-Ammendorf zurücklassen müssen. Als er 1994 verschwindet, hinterlässt er ihr zumindest seinen Sohn, ihren Enkel.

Die in Gärten und Privatwohnungen abgehaltenen bildungsbürgerlichen Lesezirkel boten den Teilnehmerinnen eine geistige Oase, ein grenzenloses Reich der Imagination, einen Freiraum zu intellektueller und ästhetischer Gegenwehr, die sich jedoch meist auf Symbolik beschränkte. Durch den Zugang zu nonkonformen Denk- und Sichtweisen boten die Zirkel eine freundschaftlich geteilte Erschließung und Diskussion von nicht-sozialistischen Welten und damit Sinnkonstruktionen, die immer schon außerhalb der Mauern des kleinen Landes lagen. Dies trifft auch für den Lesezirkel des Romans zu. Es fällt allerdings auf, dass Jügler, bei aller Konkretheit der Topographie, hinsichtlich des sozialen Milieus, dem seine Protagonisten entstammen, wenig Informationen bietet. Über die den Sozialismus prägende ‚Werktätigkeit‘ der Wagners erfährt man fast nichts. In der Stasi-Akte ist als Beruf des Vaters zweideutig „Maler“ vermerkt; nach der Wende vertreibt er Farben und Lacke, was einen künstlerischen Beruf zumindest nicht ausschließt. Über die Mutter erfährt man lediglich, dass sie im Schichtdienst arbeitet, was eher für eine Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft spricht. Der engste Freund der konspirativen Gruppe ist „Graphiker“, andererseits wohnen die Wagners eben nicht, wie für Künstler üblicher, im Uni-Viertel der Stadt, sondern in Halles Süden, dem Arbeiterviertel, was wiederum für Zugehörigkeit zur den so genannten Werktätigen in der Produktion spricht. Allerdings gilt zu bedenken, dass beispielsweise auch Werner Bräunig bis zu seinem Tod in einem Plattenbau in Halle-Neustadt lebte. Bräunig galt zunächst als vorbildhafter schreibender Arbeiter, auf den die berühmte Losung des Bitterfelder Weges, „Greif zur Feder, Kumpel“, zurückgeht. In den 1960er Jahren geriet er wegen seines kritischen Romans Rummelplatz ins Visier der Parteiführung und verlor seine Stelle als Dozent am Literaturinstitut in Leipzig. Auch Bräunig, dessen Roman zu DDR-Zeit nicht veröffentlicht wurde, könnte Jügler als Vorbild für seine Geschichte des verhinderten Schriftstellers Wagner gedient haben.

Den Regimekritiker Bohley wollte die Staatsmacht endgültig mundtot machen. Der Wissenschaftler sollte „aus dem Hochschulbereich herausgelöst“, seine Karriere zerstört werden; fast alle Mitarbeiterinnen seiner Arbeitsgruppe an der MLU wurden entlassen und die Forschungsmittel gestrichen. Bohleys Familie und Geschwister – alle 6 Brüder waren Dissidenten – und auch seine Schwägerin, die bedeutende Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, wurden von der Staatssicherheit schikaniert. 1983 erhielt er wegen einer parteikritischen Bemerkung in einer Vorlesung umfassendes Lehrverbot, was einem Berufsverbot gleichkam. Von weiteren Repressionen und einer Haftstrafe blieb er verschont, weil er, wie er in seiner Biographie betont, aufgrund seiner Bekanntheit in Halle, seiner internationalen Reputation als Wissenschaftler und vermutlich auch aufgrund privater Kontakte zu dem Regimekritiker Robert Havemann sowie zu Inge und Walter Jens, im Licht der Öffentlichkeit stand und damit weniger angreifbar war als weniger privilegierte Dissidenten. Bohley stellte einen Ausreiseantrag und verließ 1984 mit seiner Familie die DDR. In der Annahme, dass Regimekritiker wie Bohley der DDR mehr schadeten als nutzten, trieb das Regime die massenhafte Abwanderung seiner Boheme und ‚Intelligenzia‘ ab Mitte der 1980er Jahre voran und schaufelte sich auf diese Weise ihr eigenes Grab. Bohley ging nach Tübingen, wo er einen Lehrstuhl für Biochemie innehatte und seinen Lesezirkel im eigenen, idyllischen Garten fortführte; zu den Besuchern zählten unter anderem die Germanisten und Literaturkritiker Karl Corino und Rolf Vollmann.

IV

Abschließend einige Anmerkungen zur Literarizität von Jüglers Roman. Die eingangs von mir chronologisch rekapitulierte Abfolge der Ereignisse ist das Ergebnis meiner Zusammenschau; der Text dagegen gibt die Geschichte nicht chronologisch wieder, vielmehr enthüllt der Ich-Erzähler das Geschehen erst nach und nach in geschickt montierten Vor- und Rückblenden. Die Erinnerungen sind durchgängig an die eingeschränkte Perspektive von Johannes – im jeweiligen Lebensalter – gebunden. Durch die Wahl dieser unvollständigen und damit im narratologischen Sinne unzuverlässigen Erzählweise beschränkt sich beispielsweise die Erinnerung an jenen letzten Tag im Jahr 1994, den Vater und Sohn im Kleingarten verbringen, auf die kindliche Wahrnehmung des Ich-Erzählers, der nicht ahnt, dass es die letzten Stunden sein werden. Aus der konsequenten Perspektivierung und den daraus resultierenden Wissenslücken, die vom Leser zu füllen sind, generiert sich die emotionale Wirkung der Geschichte und ihr Spannungsbogen. Dass der charmante, väterliche Wolfgang das Manuskript des Vaters beim Umzug verschwinden lässt, erschließt sich den Leser:innen einzig aus dem Wort „Maßnahme“ auf einem Foto vom Umzug, das sich in der Stasi-Akte findet. Zwar präsentiert der Ich-Erzähler die recherchierten Fakten, aber die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen und deren emotional-psychische Bedeutung zu erfassen, überlässt Jügler den Leser:innen. Der Erzähler legt Spuren, die sich erst beim zweiten Lesen als Indizien für den Hergang der Geschichte, beispielsweise die Täterschaft des Freundes, entpuppen. Auf diese Weise gelingt es Jügler, eine anspruchsvolle Ordnung historischer Fakten zu etablieren, die zugleich als Ergebnis von autotherapeutischer Ordnungsarbeit des Erzählers gedeutet werden kann. Das Buch ist erkennbar das Ergebnis einer heilenden Rekonstruktion, ja Sinnkonstruktion, verborgener und verschwiegener Bruchstücke von lückenhafter Lebensgeschichte. Jener Moment des „Jetzt, da ich dies alles aufschreibe“ (Anfang Kap. 21) markiert einen emotionalen wie reflexiven Wendepunkt im Leben des Protagonisten. Worin dieser besteht, spricht der Erzähler jedoch nicht aus. Eine Reflexion des Inneren, die sprachliche Formulierung von Einsichten in die Psyche und Gefühle des Protagonisten wird konsequent verweigert – derlei Schlüsse überlässt Jügler den Leser:innen und in dieser Lücke liegt die Stärke der Erzählung, die dadurch von jeglicher Rührseligkeit freibleibt. Dennoch lässt der Roman Einiges zu wünschen übrig: Die Oberflächenmarker ostdeutscher Kulturgeschichte muss man zwar dankenswerterweise mit der Lupe suchen, so wird nur ein einziges Mal ein Trabant erwähnt. Gleichwohl wirkt beispielsweise der Verzicht auf Alltagssprache stellenweise künstlich. Dass der Erzähler „Großmutter“ und nicht „Oma“ sagt, wirkt wenig glaubhaft. Über diese Großmutter, aber auch über die Mutter und die Norwegerin Inger erfahren die Leser zu wenig; hier fehlen prägnante Details, so dass diese Teile des Romans ‚underwritten‘ wirken.

Ungeachtet dieser Schwächen hat Jügler mit Die Verlassenen ein bemerkenswertes Buch vorgelegt. Einmal sagt Johannes, der Vater habe immer vom Schreiben gesprochen. Der Roman Die Verlassenen ist der Roman, den die Figur Johannes an Stelle des Vaters, an Stelle von dessen verlorenem Buch und wohl auch für den verlorenen Vater geschrieben hat. Ein Buch im Buch, in dem die Lebensgeschichte von Vater und Sohn verschmolzen ist, und deren Leben zugleich für die folgende Generation – Johannes Sohn Jasper – bewahrt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman.
Penguin Verlag, München 2022.
350 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783328108641

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