Austausch der Herzen?

Der schwierige Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Nelly Sachs

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Briefwechseln zwischen Dichtern geht es oft um ein Gespräch in Gedichten. Das liegt in der Natur der Sache. Wie sehr aber die wechselseitige Biografie diesen Dialog über Lyrik durchkreuzt, steht auf einem anderen Blatt. Von Paul Celan und Ingeborg Bachmann wissen wir, dass ihre „Herzzeit“ eine graue war. Misstöne und Missverständnisse bestimmen auch den hier erstmals vollständig (Teile wurden schon 1984 von Ruth Dinesen und 1998 in der Werkbiografie von Lermen/Braun publiziert) veröffentlichten Briefwechsel zwischen Hilde Domin (1909–2006) und Nelly Sachs (1891–1970). Es ist eine Korrespondenz am Abhang, und vielleicht liegt es an der immer wieder beidseits  beschworenen heilenden Kraft des Wortes, dass am Ende niemand abgestürzt ist.

Der freundschaftliche Austausch beginnt mit dem Widmen von Gedichtbänden. Nelly Sachs schenkt der 18 Jahre Jüngeren am 14. Januar 1960 ihren Band Und Niemand weiß weiter (1957) mit den Worten „Für Hilde Domin/ die mir eine Rose als Stütze sandte/ wohnend beide in der Demut der Luft./ Nelly Sachs“; es folgte der Band Flucht und Verwandlung (1959) mit der Widmungszeile „Für Hilde – verschwistert von Anbeginn“. Kurz zuvor hatte diese der seit ihrer Flucht vor den Nazis in Schweden lebenden Dichterin ihren eigenen Band Nur eine Rose als Stütze (1959) geschickt, mit der Widmung: „Für Nelly Sachs/ wegen der ‚Heimat im Arm‘/ mit fernnahen Grüssen/ von Hilde Domin“.

Um die fernnahen Grüße war es dann doch nicht so gut bestellt. Die Korrespondenzpartnerinnen waren in der Tat einander nahe durch die Teilhabe an der jüdischen Schicksalsgemeinschaft, die dann aber doch im Exil keine mehr war, und durch die Sorge um den Wertbestand der deutschen Literatursprache. Doch nie haben sie sich gesehen, obwohl es Gelegenheiten dazu gab, zum Beispiel als Nelly Sachs nach Meersburg kam, um den Drostepreis (1965), und nach Frankfurt, um den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1965) zu empfangen. Hilde Domin warb um eine Begegnung, freundschaftlich, wenn auch nicht ganz uneigennützig, haderte sie doch mit dem deutschen Literaturbetrieb, der ihr Preise und Auszeichnungen lange Zeit vorenthielt. Übergriffig, so urteilen die Herausgeber des Briefwechsels, Nikola Herweg und Christoph Willmitzer, vielleicht auch ein Helfersyndrom aus gemeinsamer biografischer Erfahrung, war Domins Versuch, Nelly Sachs eine wenigstens zeitweilige Bleibe in Deutschland zu vermitteln. Sie und ihr Mann, Erwin Walter Palm, hätten Nelly Sachs ja „‚adoptiert‘“, heißt es am 31.12.1960 aus Madrid.

Das wollte die Dichterin in Stockholm nicht. Ihr war das Exil genug, dort empfing sie Besuche aus Deutschland, dort schrieb sie. Mit Deutschland verband sie die deutsche Sprache, die in ihren Gedichten einen mystisch-allegorischen Ton hat, ganz anders als Domins Lyrik, die den europäischen Nachkriegsrealismus auf eine einzigartige Weise mit surrealistischen Bildern verschränkte. Und so kam es wohl auch (wiederum eine Vermutung der Herausgeber), dass Nelly Sachs jedem ihrer deutschen Briefpartner das Gefühl der Einzigartigkeit und Priorität gab – riskant gegenüber jemandem, der so empfindlich und auch eifersüchtig war wie Hilde Domin.

Domins Vorwurf der Untreue, der die lange Periode des Schweigens vom Herbst 1962 bis zum Frühjahr 1965 einleitet, traf Nelly Sachs tief. Deren Briefe nach der Wiederaufnahme der Korrespondenz zeugen von dem tiefen Missverständnis, das die Dichterinnen fast entzweit hätte. In Briefen vom Januar und Februar 1967 wechselt Domin vom schwesterlichen „Du“ zurück ins „Sie“.

Hilde Domin ist die Werbende, manchmal sogar um Preise und Prestige Bettelnde, und Kämpfende in diesem Briefwechsel, Nelly Sachs ist, trotz ihrer schwachen physischen Konstitution und ihrer Verfolgungspanik, die Stärkere. Die Korrespondenz dokumentiert eine fernnahe Beziehung, einen „dissonanten Dialog“, der gewiss noch weiterer Untersuchungen bedarf.

Titelbild

Hilde Domin / Nelly Sachs: Briefwechsel.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nikola Herweg und Christoph Willmitzer.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2016.
127 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469249

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