Multikulturalismus statt Schmelztiegel

Kennzeichen und Erfolge der kanadischen Literatur im 21. Jahrhundert

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Trickster ist eine der zentralen Figuren in der Mythologie der First Nations, der indigenen Völker Kanadas, ein archetypischer Schelmengott, anarchisch, unkontrollierbar, und letztendlich unkategorisierbar. Durch das Werk von indigenen Autor*innen wie Thomas King hat er längst auch Eingang in die kanadische Gegenwartsliteratur gefunden, und erscheint dort als ein treffendes Symbol eben dieser Literatur. Kings Figur des Coyote, eine klassische Version des Tricksters, unterläuft alle Versuche, Identitäten festzuschreiben, die auf Konzepten wie Nationalität, Ethnie, Sexualität, Geschlecht, Religion oder sozialer Klasse beruhen. Letztendlich kann dies wiederum verstanden werden als Teil eines größeren Projektes, sich von überkommenen, starren Kategorien loszuschreiben. Der Autor fügt sich damit in eine Nationen übergreifende postmoderne Denkbewegung ein, die jedoch im kanadischen Kontext des späten 20. Jahrhunderts noch eine ganz eigene, spezifische Relevanz erhält. Das US-amerikanische Verständnis von nationaler Identitätsbildung seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 war zwar theoretisch inklusiv, aber weitgehend homogenisierend, mit dem zentralen Symbolbild des „Schmelztiegels“. Dies beinhaltete die grundsätzliche Möglichkeit für jeden, ein Amerikaner zu werden, und damit einen deutlichen Kontrast zu den herkunftsbestimmten Identitätskonzepten Europas, doch der Prozess betrachtete die Aufgabe eigener Identitäten – kulturell, sprachlich, religiös etc. – als notwendig für eine gelungene Assimilation. Demgegenüber setzte Kanada bereits wesentlich länger auf ein toleranteres Konzept von Vielfalt. Offiziell wurde diese Politik zum ersten Mal im Canadian Multiculturalism Act von 1971, der versuchte, die volle, gleichberechtigte Teilnahme an der kanadischen Gesellschaft von Menschen jeglicher Herkunft sowie das Zusammenspiel zwischen Menschen und Gemeinschaften verschiedenen Ursprungs zu fördern. Multikulturalismus statt Schmelztiegel, das heißt eben auch, dass Diversität akzeptiert werden muss.

In diesem Sinne evoziert Kings Roman Green Grass, Running Water wie auch eine Reihe anderer kanadischer Erzählungen verschiedene Aspekte der kanadischen Geschichte, Mythologie und Kultur, verweigert sich aber der Vorstellung, es gäbe eine einzelne, klar definierbare nationale Identität, und unterläuft eine solche Vorstellung mit den Mitteln der Parodie und Allegorie sowie durch die Darstellung von Identität als vorläufig und performativ. Das soll nicht heißen, dass die Suche nach einer kanadischen Identität – und damit verbunden nach einer Nationalliteratur, die diese Identität zum Ausdruck bringt – kein Thema für kanadische Autor*innen gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, bestimmt diese Frage doch im hohen Maße die gesamte kanadische Literaturgeschichte. Doch sie tut dies eben nicht notwendig in einer homogenisierenden oder mythologisierenden Weise. Die Autorin Margaret Atwood, die wie keine andere zu einem Symbol des (literarischen) Kanadas geworden ist, schrieb bereits 1995 in ihrem Buch Strange Things: The Malevolent North in Canadian Literature:

A great deal has been made, from time to time, of the search for ‘the Canadian identity’; sometimes we are told that this item is simply something we have mislaid, like the car keys, and might find down behind the sofa if we are only diligent enough, whereas at other times we have been told that the object in question doesn’t really exist and we are pursuing a phantom. Sometimes we are told that although we don’t have one of these ‘identities’, we ought to, because other countries do.

Kanadische Autor*innen haben sich also durchaus immer wieder und immer weiter an der Frage abgearbeitet, was das Kanadische ausmacht, und was kanadische Literatur sein könnte, aber sie tun dies von ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen aus, mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen, und kommen daher auf einen breiten Reichtum an Antworten. Dabei gibt es verschiedene größere Themenkomplexe, die sich in unterschiedlichen Phasen im Verlauf des letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart etabliert haben. Die Pluralität Kanadas ist gerade deshalb einzigartig, weil sie eine mehrfache ist, die sich grob in drei Bereiche aufgliedern lässt. Historisch gesehen am längsten wahrgenommen hat das moderne Kanada die Pluralität, die sich aus den beiden europäischen Kolonialisierungskulturen ergeben hat, der Britischen und der Französischen.

Ein Faktor, der bereits sehr früh in der Geschichte Kanadas allzu einfach homogenisierenden Tendenzen entgegenstand, ist daher die (mindestens) Zweisprachigkeit des Landes mit Englisch und Französisch. Auch auf dem Gebiet der späteren Vereinigten Staaten hatten eine Reihe europäischer Sprachen um die Vorherrschaft gerungen (so war etwa das erste dort gedruckte Buch in deutscher Sprache erschienen), doch Englisch setzte sich sehr bald durch und das Land vermeidet bis heute eine ganz offene Beschäftigung mit der Frage der offiziellen beziehungsweise der Amtssprache, obwohl oder gerade weil große Teile im Süden zunehmend de facto bilingual werden. Kanada hat im Gegensatz dazu seit dem späten 19. Jahrhundert auf politischer Ebene um diese Frage gerungen, was schließlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer offiziellen Zweisprachigkeit führte. Darüber hinaus ist mittlerweile Inuktitut die dritte Amtssprache im Territorium Nunavut, und in den Nordwest-Territorien besitzen zusätzlich neun Sprachen der Ureinwohner offiziellen Status. All dies schwächt die ausgrenzende Kristallisation eines Identitätsbegriffs um eine einzelne, dominante Sprache, wie sie sich erst jüngst in Brexit-England im Slogan „Speak English or Leave“ äußerte. Und es stärkt natürlich die Bandbreite einer Nationalliteratur, die sich all dieser Sprachen und ihres Ausdruckspotenzials bedienen kann.

Ein wesentlicher, aber eben auch sehr vielseitiger und problematischer Aspekt der Selbstdefinition von kanadischer Kultur und Literatur ist das Verhältnis zum dominanten Nachbarn im Süden, den Vereinigten Staaten von Amerika. Gerade die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern, die viel mehr als nur eine Sprache teilen, und der rege Austausch von Ideen und Personen machen eine Abgrenzung so notwendig wie problematisch. William Gibson wurde in Conway, South Carolina geboren und wuchs auch in den Staaten auf, emigrierte aber als junger Mann nach Kanada, um sich des Wehrdienstes in Vietnam zu entziehen. Seinen ersten Roman, Neuromancer (1984), der die Konzepte „cyberspace“ und „cyberpunk“ international popularisierte, schrieb und veröffentlichte er als kanadischer Staatsbürger.

Kanadische Gegenwartsautor*innen haben mehrfach durch ihre Erzählungen Archetypen geschaffen, die weltweit als Ausdruck eines historischen Moments oder einer ganzen Generation wahrgenommen wurden – allerdings zunächst häufig verstanden im Kontext der Vereinigten Staaten. 1991 prägte Douglas Coupland mit seinem gleichnamigen Roman den Begriff der Generation X und wurde zu einem ihrer wichtigsten Sprachrohre; seine Geschichte aber handelt von drei jungen Leuten, die ihren Lebensstil in Palm Springs, Kalifornien verwirklichen. Margaret Atwood lieferte 1984 mit ihrem Roman The Handmaid’s Tale die definitive dystopische Vision und Kritik patriarchalischer Machtstrukturen, aber sie siedelte das repressive Regime „Gilead“, inspiriert von einem Studienaufenthalt, in Cambridge, Massachusetts an. Man kann diese Entscheidung natürlich auch als einen subtilen Akt des quasi-postkolonialen „Zurückschreibens“ verstehen, der dem angeblich rein auf Freiheitsidealen aufgebauten Nachbarn eine tief verwurzelte Intoleranz vorwirft, die sich bis auf seine fundamentalchristlichen Ursprungsmythen zurückführen lassen.

Die Mitte des 20. Jahrhunderts sah die Bestrebungen, eine Vorstellung von kanadischer Literatur überhaupt erst einmal zu konzeptualisieren und zu institutionalisieren, zunächst in Abgrenzung vom südlichen Nachbarn. Dies betraf sowohl die Seite der Literaturproduktion als auch der Literaturrezeption. Schulen und Universitäten bemühten sich seit den 1960er Jahren um die Aufnahme kanadischer Autor*innen in die Lehrpläne. Gleichzeitig wurde die staatliche Förderung für Literatur erhöht. Doch obwohl dies durchaus zu einem beachtlichen Anwachsen der kanadischen Verlags- und Literaturszene führte, war die Dominanz US-amerikanischer und auch britischer Literatur nicht leicht zu überwinden. Noch 2002 stellte ein vom Canada Council for the Arts angefertigter Bericht fest, dass nur wenige Studierende in der Lage waren zehn kanadische Autor*innen zu nennen.

Rückblickend kann man sagen, dass dies vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass bis weit ins 20. Jahrhundert ein zentraler und eben auch genuin kanadischer Bereich der Gesellschaft, Kultur, und damit auch Literatur systematisch ausgegrenzt wurde: die indigene Bevölkerung. Erst seit sich in den 1970er Jahren eine offizielle Politik des Multikulturalismus etablierte, gelang es indigenen Stimmen, im politischen und kulturellen Diskurs zunehmend gehört zu werden. Mittlerweile haben diese Stimmen aber ein größeres Gewicht erhalten und tragen ebenfalls wesentlich zur Komplexität der Vorstellung von kanadischer Identität und kanadischer Literatur bei. Autoren wie Thomas King und Drew Hayden Taylor, aber auch Autorinnen wie Aviaq Johnston und Lee Maracle und viele mehr haben nationale wie internationale Anerkennung und vor allem auch Leser gefunden.

Historisch gesehen in den Fokus gerückt ist schließlich die Erkenntnis, dass sich die Einwanderungskultur Kanadas nicht nur aus dem „alten Europa“ speist, sondern von überall aus der Welt, von Südasien über Sri Lanka und Afrika bis zur Karibik. Das moderne Kanada ist als Einwanderungsland entstanden, und es bleibt ein Einwanderungsland. Doch auch hier gilt, dass die literarische Repräsentation der gesellschaftlichen Wirklichkeit sehr lange hinterherhinkte, sodass man erst in den letzten Jahrzehnten davon sprechen kann, dass die Vorstellung von kanadischer Literatur ganz selbstverständlich auch die Erfahrungen nicht-europäischer Einwanderer sowie nicht als „weiß“ wahrgenommener Kanadier umfasst, und dass diese Erfahrungen ihren Ausdruck erhalten.

Erst mit dem Zusammenspiel verschiedener postkolonialer europäischer Kulturen, den überaus reichen und diversen Kulturen der verschiedenen indigenen Völker, der Inuit und der Métis (Nachkommen von Cree und Europäern) und der fortgesetzten Einwanderung von überall aus der Welt, ergibt sich wirklich die einzigartige Vielfältigkeit, derer sich Kanada heute rühmen kann.

Selbstverständlich sind die Entwicklungen hin zu einem inklusiven, multikulturellen Land frei von Vorurteilen oder struktureller Benachteiligung weder in irgendeiner Weise abgeschlossen, noch haben sie sich ohne Reibungen, Widersprüche, Rückschläge oder Probleme ergeben. Bereits die Frage nach der Mehrsprachigkeit und dem Verhältnis zwischen dem frankophonen und dem anglophonen Teil haben immer wieder zu Gewalt und auch Hass geführt, die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung ist noch nicht einmal vollständig aufgearbeitet, von ihrer Beseitigung oder gar Wiedergutmachung ganz zu schweigen. Die letzten Internate für die kulturelle Assimilierung autochthoner Kinder, in denen diese gewaltsam von ihren Eltern getrennt waren, wurden erst 1996 abgeschafft. Und Rassismus gehört auch heute noch zur Alltagserfahrung vieler Menschen in Kanada. Dass aber überhaupt Fortschritte gemacht wurden auf diesem Weg, ist eben nicht zuletzt auf die Stimmen derjenigen – häufig wütend, unnachgiebig, kämpferisch, aber auch durchaus hoffnungsvoll – zurückzuführen, die ihn begleitet oder ihn überhaupt erst für eine breitere Bevölkerung sichtbar gemacht haben. Und die Literatur ist dabei nun einmal ein wichtiges, wenn nicht sogar das zentrale Ausdrucksmittel. Wenn sich also Kanada auf der Frankfurter Buchmesse unter dem Motto „Singular Plurality“ präsentiert, dann beschreibt dies durchaus korrekt sowohl die Tatsache, dass Kanada unweigerlich durch seine Vielfältigkeit geprägt ist, als auch dass sein Weg, damit umzugehen, anders ist als der anderer Länder; um aber zu erfahren, wie es um die Wirklichkeit hinter diesem utopischen Anspruch steht, was tatsächlich bereits erreicht ist und wo es nach wie vor fehlt, dafür muss man die kanadische Literatur der Gegenwart lesen und den Geschichten und Gedichten lauschen, die aus allen Winkeln dieses unendlich großen Landes berichten und aus allen Bereichen dieser wahrhaft vielfältigen Gesellschaft.

Ein vielleicht überraschendes Ergebnis eines solchen Lauschens ist die Erkenntnis, dass kanadische Literatur der Gegenwart Weltliteratur ist, eine Literatur von globalem Format und weltweiter Wirkung, prestigeträchtig ausgezeichnet, hochaktuell und kontrovers. In der Tat liegt der Erfolg der kanadischen Literatur im 21. Jahrhundert nicht zuletzt in ihrer transnationalen und multikulturellen Ausrichtung. Kanadische Themen der Gegenwart sind auch gleichzeitig globale Themen, von Bürgerrechten über Geschichtsrevisionismus, von Erinnerung und Trauma über Postkolonialismus und Postmoderne bis zu Migration und Diaspora, von der Erhaltung der Umwelt über die Erhaltung indigener Kultur bis zur Frage nach zeitgemäßen Gesellschaftsformen, gerade auch angesichts des technischen Fortschritts und der mit ihm einhergehenden globalen Biopolitik.

Ein ganzes Land durch seine Literatur zu erfahren ist ein unheimlich bereicherndes Erlebnis, eine magische Fernreise vom Lesesessel aus, die uns zu einer großen Anzahl von spannenden Menschen bringt und uns an ihrem mal komischen und mal tragischen Leben teilhaben lässt, die Landschaften und Kulturen von der fernsten Vergangenheit bis in die aktuelle Gegenwart hinein vor unserem geistigen Auge erstehen lässt – aber es ist auch eine ungeheure Herausforderung angesichts des unüberschaubaren Reichtums an Texten und Autor*innen.

Hinweise der Redaktion: Der Beitrag übernimmt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags einen Teil der „Einführung“ zu dem von Sebastian Domsch herausgegebenen Band „Kanadische Gegenwartsliteratur“, erschienen Anfang September 2020 in der edition text + kritik des Richard Boorberg Verlags. Der Band enthält Beiträge über Margaret Atwood (von Mechthild Stüber / Reingard M. Nischik), Dionne Brand (von Kirsten A. Sandrock), Leonard Cohen (von Jan Wiele), Douglas Coupland (von Alexander Greiffenstern), Esi Edugyan (von Sebastian Domsch), Sheila Heti (von Martin Holtz), Thomas King (von Bodo Kartelmeyer), Ann-Marie MacDonald (von Kirsten A. Sandrock), Alice Munro (von Stephanie Heimgartner), Michael Ondaatje (von Annick Hilger / Anne Haeming) und Michael Ondaatje (von Annick Hilger / Anne Haeming). Der Band lässt sich, so Sebastian Domsch in seiner Einführung, „in gewisser Weise wie ein Reiseführer verstehen, wenn auch keiner, der Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.“ Er bietet einen „Über- und Einblick, der Orientierung verschaffen, Lust zum Lesen machen, aber auch Anreiz zum Nachdenken und Kritisieren liefern soll.“

Titelbild

Sebastian Domsch (Hg.): Kanadische Gegenwartsliteratur.
edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag, München 2020.
215 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783967074079

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