Doppelgänger

Arthur Schnitzler und Sigmund Freud

Von Walter Müller-SeidelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Müller-Seidel

Vorbemerkung der Redaktion: Der Beitrag ist ein Teil der 1997 unter dem Titel „Arztbilder im Wandel. Zum literarischen Werk Schnitzlers“ im Verlag C.H. Beck veröffentlichten Ausarbeitung eines Vortrags, den Walter Müller-Seidel 1995 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat. Der Vortrag ist erneut zu Müller-Seidels 100. Geburtstag im Juli 2018 im Rahmen einer Edition seiner Aufsatzsammlung „Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945)“ erschienen. Die zunächst als Sonderausgaben von literaturkritik.de veröffentlichte Sammlung erscheint im November 2019 im Verlag LiteraturWissenschaft.de als Buch. In der dort seit 2006 erscheinenden Buch-Reihe „Psychoanalyse in der literarischen Moderne“  (Band 1 zur Wiener Moderne, S. 129-205)  sind  zahlreiche Dokumente zur Beziehung zwischen Schnitzler und Freud  abgedruckt. T.A.

Es kann nicht zweifelhaft sein, daß sich Arthur Schnitzler, der Verfasser der „Traumnovelle“, in die nächste Nähe Sigmund Freuds begeben hat.[1] Mit einer Art Gedankenspiel haben wir es zu tun, wenn man in Literaturgeschichte wie Medizin darüber streitet, wem Priorität in den Erkenntnissen gebührt, die Freud bald als Psychoanalyse bezeichnen wird; und einig ist man sich heute weithin darin, daß die These von der Vorwegnahme Freuds durch Schnitzler sich nicht bestätigt.[2] Wichtiger als eine Entscheidung hierüber ist die Beschreibung der historischen Konstellation, die darin beruht, daß verschiedene Ärzte unabhängig voneinander sich auf dem Wege zu denselben Einsichten befinden, weil bestimmte Probleme in ein und derselben Zeit spruchreif geworden sind. Beide, Schnitzler wie Freud, haben den größten Teil ihres Lebens in Wien verbracht.[3] Beide haben sie dieselben Schulen der Wiener Medizin durchlaufen, und gemeinsam hatten sie auch den Lehrer der Psychiatrie, Theodor Meynert, dem man gewiß nicht Unrecht tut, wenn man ihn einen Vertreter der älteren medizinischen Schulen nennt. Dennoch haben sich beide Nervenärzte, die sie waren, lange Zeit auffällig gemieden. Gegenseitig wahrgenommen hatte man sich durchaus: Schnitzler hatte 1887 Freuds Übersetzung von Charcots Vorlesungen über Hysterie in der „Internationalen klinischen Rundschau“ besprochen, und Freud hatte sich die Aufführung des Einakters „Paracelsus“ nicht entgehen lassen. Andererseits war Schnitzler Freuds säkulares Werk, die „Traumdeutung“, nicht entgangen, das er sehr bald nach seinem Erscheinen gelesen hat; und offensichtlich so intensiv, daß er davon träumt.[4] Es hat wiederholt Berührungen gegeben. Aber näher gekommen war man sich nicht. Das änderte sich mit Freuds 50. Geburtstag im Jahre 1906. Auf Schnitzlers Glückwünsche antwortet dieser mit einem denkwürdigen Brief. Er betrifft das Verhältnis zwischen Künstler und Gelehrtem, aber darüber hinaus ist es ein menschlich bewegendes Zeugnis, und Hochschätzung gegenüber dem Dichter verleugnet sich nicht; Freud schreibt: „Seit vielen Jahren bin ich mir der weitreichenden Übereinstimmung bewußt, die zwischen Ihren und meinen Auffassungen psychologischer und erotischer Probleme besteht […]. Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese oder jene geheime Kenntnis nehmen konnten, die ich mir durch mühselige Erforschung des Objektes erworben, und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert.“ Freud fügt den Satz hinzu, der von Sympathie für den Briefpartner zeugt: „Es kränkt mich fast, daß ich fünfzig Jahre alt werden mußte, um etwas so Ehrenvolles zu erfahren.“[5] Zum 50. Geburtstag Schnitzlers im Mai 1912 kommt Freud auf diesen ihm offensichtlich wichtigen Gleichklang erneut zu sprechen. Er habe sich eingebildet, schreibt Freud, daß auf Schnitzlers wie auf sein eigenes Wirken „ein Reflex der thörichten und frevelhaften Geringschätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten“, gefallen sei.[6] Aber erst zehn Jahre später, anläßlich von Schnitzlers 60. Geburtstag, im Jahre 1922, teilt Freud dem jüngeren Kollegen und Schriftsteller mit, was ihn bislang gehindert habe, die Verbindung zu suchen. Es sei dies eine Art Doppelgängerscheu gewesen, also eine zu große Nähe, die er habe fürchten müssen. Es folgt die Charakteristik, die sicher zum Bedeutendsten gehört, was Zeitgenossen über Schnitzler je geschrieben haben: „Ihr Determinismus wie Ihre Skepsis – was die Leute Pessimismus heißen –, Ihr Ergriffensein von den Wahrheiten des Unbewußten, von der Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten, das Haften Ihrer Gedanken an der Polarität von Lieben und Sterben, das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit.“[7] Freuds Hochschätzung der Person Schnitzlers wie seines Werkes ist zweifellos aufrichtig. Aber gegenüber der Stellung des Dichters im Verhältnis zur Wissenschaft macht er andernorts zahlreiche Vorbehalte geltend. „Die Kunst ist fast immer harmlos und wohltätig, sie will nichts anderes sein als Illusion“, lesen wir in der 1933 veröffentlichten Vorlesung „Über eine Weltanschauung“.[8] Unfähig, der Realität unmittelbar gegenüberzustehen, flüchte der Künstler – und also auch der Schriftsteller – in ein Reich der Wunschbildungen, heißt es in der „Einführung in die Psychoanalyse“.[9] Am ehesten gegenüber der tradierten Wissenschaft haben die Dichter einiges voraus, werden sie Bundesgenossen des eigenen Verfahrens, „denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt“.[10] Aber das letzte Wort behält gleichwohl die Wissenschaft. Die Hierarchie der Werte bleibt auch für Freud unverändert. Wie der Physiologe Emil Du Bois-Reymond in seinem Vortrag „Culturgeschichte und Naturwissenschaft“ (1877) erkennt er der Wissenschaft, und damit auch der Medizin, Priorität gegenüber den Künsten zu, welche es auch seien. Wahrheit und Wirklichkeit sind für ihn nur in den Wissenschaften erreichbar: „Die Rätsel der Welt entschleiern sich unserer Forschung nur langsam, die Wissenschaft kann auf viele Fragen heute noch keine Antwort geben. Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum eine Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als – schwer deutbar – Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben, niemals Auskunft über die Fragen, deren Beantwortung der religiösen Lehre so leicht wird.“ So lesen wir es in der späteren Abhandlung „Die Zukunft einer Illusion“ (1927).[11] Freud hält es demzufolge für selbstverständlich, daß auch die Entdeckung und Erforschung des Unbewußten nur eine Sache der Wissenschaft – seiner Wissenschaft – sein konnte; er nimmt diese Entdeckung ganz selbstverständlich für sich in Anspruch: „Der Begriff des Unbewussten pochte schon seit langem um Aufnahme an die Pforten der Psychologie […], aber die Wissenschaft wusste ihn nicht zu verwenden. Die Psychoanalyse hat sich dieses Begriffs bemächtigt, ihn ernst genommen, ihn mit neuem Inhalt erfüllt.“[12]

In solchen Fragen der Wertordnung ist Schnitzler nicht bereit, Freud zu folgen. Arzt und Dichter in Personalunion, nennt er den letzteren zuerst. Auch in der Entdeckung des Unbewußten sieht er ihn vorangehen, und neuere Forschung pflichtet ihm bei.[13] In einem der Aphorismen mit der Überschrift „Psychologische Literatur“ führt er aus: „Psychologie ist die Lehre von der – das Wissen um die Seele. Nach einer Epoche der Schalheit, des Pathos, des Bannertragens, der Phrasenherrschaft, der Feigheit und Bequemlichkeit in Hinsicht auf die dunklen Reiche der Seele entdeckten einige neuere Dichter, was die Großen aller Zeiten wußten: daß die Seele im Grunde kein so einfaches Ding sei. Und insbesondere, daß außer dem Bewußten allerlei Unbewußtes in der Seele nicht nur vorhanden, sondern auch wirksam sei.“ Zugleich wird die Bedeutung des Unbewußten eingeschränkt, im vorliegenden Aphorismus mit der Bemerkung: „Das Unbewußte fängt nicht sobald an, als man glaubt, oder manchmal aus Bequemlichkeit zu glauben vorgibt […].“[14] Und auch darin gehen die Wege auseinander, daß es für Freud in Fragen des Unbewußten nur eine Wahrheit gibt, die seinige, während es Schnitzler als Schriftsteller wie als Arzt mit Nietzsches Überzeugung zu halten scheint, daß es nicht die Wahrheit gibt, sondern nur Wahrheiten.[15] Freud setzt auf seine Lehre, Schnitzler geht jeder „alleinseligmachenden“ Methode aus dem Weg. Er denkt auf eine sehr moderne Art pluralistisch.[16] Als 1913 das Buch „Arthur Schnitzler als Psychologe“ erscheint, das den aus der Schule Freuds kommenden Theodor Reik zum Verfasser hat, äußert sich Schnitzler aus eben diesem Grund zurückhaltend und schreibt an einen Philosophen (Hans Henning), den das Buch empört hat: „Auch habe ich aus Gesprächen mit Reik […] die Überzeugung, (er selbst allerdings noch nicht) daß ihm später einmal die Freud’schen Deutungsmethoden […] nicht den einzigen und allein selig machenden Weg, sondern einen unter anderen bedeuten wird der in das Geheimnis dichterischen Schaffens, zuweilen aber auch daran vorbei in Vagheit oder Irrtum führt.“[17] Die Gleichzeitigkeit von Gedanken, ohne Verbindung derjenigen, die sie denken, ist mitunter frappierend. Ein Jahr zuvor hatte sich der Psychiater Eugen Bleuler ganz in diesem Sinn gegenüber Freud ausgesprochen und ihm geschrieben: „Es gibt einen Unterschied zwischen uns, auf den Sie aufmerksam zu machen ich beschlossen habe […]. Für Sie wurde es offensichtlich zum Ziel und Interesse Ihres ganzen Lebens, Ihre Theorie fest zu etablieren und Ihre Aufnahme zu sichern. […] Für mich ist die Theorie nur eine neue Wahrheit unter anderen Wahrheiten.“[18] Vor allem aber unterscheidet sich Schnitzler von Freud darin, daß er Psychisches zum Sozialen hin erweitert; und nicht ohne Grund hat man ihn den poetischen Soziologen der Wiener Moderne und der europäischen Welt des Fin de siècle genannt.[19] Gegenüber solchen Erweiterungen hat sich Freud eher gewehrt als geöffnet.[20] Als sein früherer Schüler, der Arzt und Psychoanalytiker Otto Gross, im Begriff war, eine neuartige Sozialpsychiatrie zu entwerfen, hat ihn Freud mit dem Bemerken gewarnt: „Wir sind Ärzte, und Ärzte wollen wir bleiben.“[21] An dieser Stelle, an der Psychisches in Soziales übergeht, nimmt Schnitzler die Auseinandersetzung mit Freud auf; und es ist ein durchaus selbständiger Gedankengang des Arztschriftstellers, über den in diesem Zusammenhang zu sprechen ist.

Daß Freud zwischen Es, Überich und Ich unterscheidet, findet nicht Schnitzlers Zustimmung. Er wendet ein: „Die neuere Psychologie ist mehr auf Metaphern bedacht als auf psychische Realitäten. Die Trennung in Ich, Überich und Es ist geistreich, aber künstlich. Eine solche Trennung gibt es in Wirklichkeit nicht. Ein Ich ist überhaupt nicht vorhanden ohne Überich und Es. Es ist, wie wenn man von einem Ding ohne Eigenschaften sprechen wollte.“[22] Schnitzler schlägt eine andere Einteilung vor: eine solche in Bewußtsein, Mittelbewußtsein und Unterbewußtsein; und um vieles wichtiger als das Unterbewußte (oder das Vorbewußte wie bei Freud) ist ihm das, was er Mittelbewußtsein nennt; auch vom Halbbewußten ist gelegentlich die Rede. Er findet diesen Bereich des Psychischen unterschätzt und führt aus: „Das Mittelbewußtsein wird überhaupt im Ganzen zu wenig beachtet. Es ist das ungeheuerste Gebiet des Seelen- und Geisteslebens; von da aus steigen die Elemente ununterbrochen ins Bewußte auf oder sinken ins Unbewußte hinab. Das Mittelbewußtsein steht ununterbrochen zur Verfügung. Auf seine Fülle, seine Reaktionsfähigkeit kommt es vor allem an.“[23] Für den Schriftsteller Arthur Schnitzler erweist sich die Einführung dieses Mittelbewußtseins als überaus hilfreich. Mit diesem Begriff wird ein Sachverhalt benannt, der ethische Bezüge einschließt. Wo es um Unbewußtes im Sinne der modernen Psychologie oder Psychiatrie geht, ist Schuldlosigkeit vorauszusetzen. Sie kann gegebenenfalls Zurechnungsfähigkeit außer Kraft setzen, wenn wir es mit kranken Verbrechern zu tun haben. Das Mittelbewußtsein oder das Halbbewußte im Sinne Schnitzlers sind von anderer Art. Hier liegt ein Nichtwissen dessen vor, was man wissen kann; und Verantwortung erledigt sich keineswegs. Mit diesen Begriffen leuchtet Schnitzler in eine Bewußtseinswelt hinein, die in der Literatur der Weimarer Republik wiederholt thematisiert wird, sofern ihre Nachkriegsromane Bewußtseinszustände der Vorkriegszeit behandeln. Das vorwaltende Interesse übersteigt das Interesse am individuellen Unbewußten. Es geht über in ein Interesse an der Sozialgeschichte des halbbewußten Daseins. Die öffentliche Seele, die Heinrich Mann mit dem Motto seines Romans „Der Untertan“ beruft, erweist sich mit diesem Mittelbewußtsein als verwandt, wenn nicht identisch. Diese öffentliche Seele ist keine wache Seele; weit mehr hat man es mit einem Zustand des Schlafwandlertums oder des Dahindämmerns zu tun:

„So lebten wir in Dämmerung dahin
Und unser Leben hätte keinen Sinn …“

läßt Hofmannsthal eine Figur seines lyrischen Dramas „Der Tod des Tizian“ sagen.[24] „Dämmerseele“ heißt eine Erzählung von Arthur Schnitzler, die 1902 erscheint und mit verändertem Titel 1907 in den Novellenband eingeht, der nun die bezeichnende Überschrift „Dämmerseelen“ erhält.[25] Ein Beispiel dieses dargestellten Mittelbewußtseins im dichterischen Werk ist die herrliche Erzählung „Die Toten schweigen“ (1897). Die junge Frau eines Professors, die ihre außerehelichen Beziehungen in einem traumartigen Zustand durchlebt hat, wird sich ihres Tuns erst bewußt, nachdem der Geliebte tödlich verunglückt ist. Der Ehemann kommt ihr in therapeutischer Absicht entgegen, so daß es gegen Ende der Erzählung heißt: „Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird“ (I, 312). Selbstgespräch, innerer Monolog und erlebte Rede stehen hier weit mehr im Dienst des Halbbewußten als des ganz und gar Unbewußten. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, ist dieser Zustand des Halbbewußten mit dem vergleichbar, was die neuere Geschichtswissenschaft als Mentalitätengeschichte erforscht. „Die Ebene der Mentalitätengeschichte“, so der französische Historiker Jacques Le Goff, „ist die des Alltäglichen und des Automatischen, dessen, was den individuellen Subjekten der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht […].“[26] Das Kollektive dieser Bewußtseinszustände ist nicht das kollektive Unbewußte im Sinne C. G. Jungs, sondern ein Kollektives anderer Art. Eine andere, nicht auf individuelle, sondern historische Psychologie zielende Definition solcher Mentalitäten sei angeführt: „Mentalitäten sind kollektive, kognitiv-affektive Deutungs-, Erlebens- und Handlungsmuster, Eigenschaften weniger eines Individuums als der Gruppe und der Zeit, der es angehört. Diese Muster sind den Zeitgenossen nicht notwendig bewußt; sie entstehen als Konstrukte erst im analytischen Zugriff des Historikers.“[27] Es hat durchaus seinen Sinn, daß sich für dieses Mittelbewußtsein der Arzt und Schriftsteller Schnitzler gleichermaßen interessiert; die Arztkritik in seinem literarischen Werk erhält von hier aus ihre Begründung. Sie gilt Ärzten immer erneut, die so sehr in der Gesellschaft und ihren Mentalitäten aufgehen, daß ihr ärztliches Ethos Schaden nimmt.

Vor allem ist der Antisemitismus ein diesem Mittelbewußtsein zuzuordnendes Phänomen. Er ist ein zentrales Problem im Denken Schnitzlers. Das ist vielfach bezeugt, sicher am eindringlichsten in einer Notiz zu seiner aus dem Nachlaß veröffentlichten Autobiographie. „In diesen Blättern“, heißt es hier, „wird viel von Judentum und Antisemitismus die Rede sein, mehr als manchem geschmackvoll, notwendig und gerecht erscheinen dürfte. Aber zu der Zeit, in der man diese Blätter möglicherweise lesen wird, wird man sich, so hoffe ich wenigstens, kaum mehr einen rechten Begriff zu bilden vermögen, was für eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als politisch und sozial, zur Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam. Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, daß er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger.“[28] Das ist ein bewegender Text, mit dem der Verfasser dieser Sätze vor der Geschichte recht behält, was die Gefahren des Antisemitismus angeht; das Ausmaß dieser Gefahren hat er nicht vorausgesehen, auch wohl nicht voraussehen können. Aber Antisemitismus und seine Gefahren waren nicht nur ein zentrales Problem seines Denkens. Er hat ihn auch persönlich zu spüren bekommen.

Anmerkungen

[1] Der Gedankenaustausch, der Briefwechsel und die gegenseitigen Besuche beider Ärzte halten sich in Grenzen; sie sind leicht überschaubar. In den Jahren zwischen 1900 und 1903 wohnten beide in Wien nahe beieinander: Freud in der Berggasse, Schnitzler in der Frankengasse. Näher gekommen sind sie sich in dieser Zeit nicht. Die herausragenden Ereignisse in den persönlichen Beziehungen sind Geburtstagsbriefe: Freuds Antwort auf Schnitzlers Brief zu dessen 50. Geburtstag (1912), Freuds Brief zu Schnitzlers 60. (1922) und eine zu vermutende Antwort Schnitzlers, die wir nicht besitzen. In demselben Jahr, im August 1922, kam es zu einem Besuch Schnitzlers bei Freud in Berchtesgaden. Ob Schnitzler an der Sitzung bei Freud am 5.3.1913 teilgenommen hat, geht aus dem Tagebuch von Lou Andreas-Salome, das Schnitzlers Namen nennt, eindeutig nicht hervor. (Lou Andreas-Salome: In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13. Aus dem Nachlaß hg. von Ernst Pfeiffer. München 1965, S. 74 ff.). Das Schrifttum über die Beziehungen beider ist nicht uferlos, aber umfangreich. Es auch nur in Auswahl anzuführen, ist hier nicht der Ort. Stattdessen sei auf die grundlegende Studie von Michael Worbs verwiesen, auf sein Buch „Nervenkunst“. Dort auch das Kapitel: Arthur Schnitzler – Sigmund Freud: Doppelgänger? (S. 179-258). Aufs Ganze gesehen: Es war eine gegenseitige Hochschätzung auf Distanz.

[2] Sie geht zurück auf Frederick Beharriell: Schnitzler’s Anticipation of Freud’s Dream Theory. In: Monatshefte 15 (1953), S. 81-89. Gegen diese These haben u. a. Stellung genommen: Bernd Urban: Arthur Schnitzler und Sigmund Freud: Aus den Anfängen des „Doppelgängers“. Zur Differenzierung dichterischer Intuition und Umgebung der frühen Hysterieforschung. In: GRM N.F. 24 (1974), S. 211. – Michael Worbs: Nervenkunst, S. 209. – Achim Aurnhammer: Schnitzlers „Die Nächste [1899]“. Intertextualität und Psychologisierung des Erzählens im Jungen Wien. In: GRM. N.F. 44 (1994), S. 37.

[3] Wenn Frederick Beharriell in einer späteren Arbeit bemerkt, „daß Schnitzlers Schriften schon vor 1894 alle die Überzeugungen und Erkenntnisse aufweisen, die in seinen späteren Werken als offensichtlich von Freud beeinflußt“ gelten, so wird damit eher die Auffassung von der Gleichzeitigkeit eines je voneinander unabhängigen Denkens bestätigt als die frühere These der Antizipation wiederholt (Schnitzler: Freuds Doppelgänger. In: Literatur und Kritik 2 [1967], H. 19, S. 548).

[4] Tagebuch 1893-1902. Hg. von Werner Welzig. Wien 1989, S. 325 (Aufzeichnung vom 26.3.1900).

[5] Sigmund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler. In: Die Neue Rundschau 66 (1955). S. 95.

[6] Ebda., S. 95-96, vgl. über die Beziehungen beider Autoren: Herbert I. Kupper und Hilda S. Rollman-Branch: Freud and Schnitzlcr – (Doppelgänger). In: Journal of the American Psychoanalytic Association 7 (1959), S. 109-126.

[7] Ebda., S. 96-97.

[8] Über eine Weltanschauung. In: Sigmund Freud: Werke in chronologischer Reihenfolge. Hg. von Anna Freud u. a. London 1940 ff. Bd. XV, S. 173.

[9] GW XI, S. 390 f.

[10] GW VII, S. 33. – Hierzu wiederum Michael Worbs: Nervenkunst, S. 90 ff., der die ambivalente Stellung Freuds im Verhältnis von Wissenschaft und Literatur vorzüglich charakterisiert.

[11] GW XIV, S. 354.

[12] GW XVII, S. 147.

[13] Vor allem auf das grundlegende Werk von Horst Thomé ist zu verweisen, das Wahrnehmungen und Darstellungen des Unbewußten in der erzählenden Literatur vor Freud an zahlreichen Texten aufzeigt: Autonomes Ich und „Inneres Ausland“.

[14] Aphorismen, S. 454-455. Ähnlich in einer Tagebuch-Notiz aus dem Jahre 1915: „[…] (ich gestehe dem Unbewußten nicht so große Macht zu, – die Erklärer, besonders die Psychoanalytiker biegen zu rasch in diese Gasse) […].“ (Tagebuch 1913-1916, S. 179; Aufzeichnung vom 9.3.1915).

[15] Vgl. Nietzsche: „Es giebt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen: und folglich giebt es vielerlei ,Wahrheiten‘, und folglich giebt es keine Wahrheit.“ (In: F. N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/ Berlin/ New York 1980. Bd. 11, S. 498); = KSA.

[16] Vgl. die bezeichnende Wendung im Hinblick auf sein Drama „Professor Bernhardi“ im Brief an den Historiker Richard Charmatz vom 4.1.1913: „Denn ich empfinde es als meinen Beruf Menschen zu gestalten und habe nichts zu beweisen als die Vielfältigkeit der Welt“ (Briefe 1913-1931, S. 2). Über den Pluralismus, wie ihn Schnitzler in seinem Roman „Der Weg ins Freie“ dargestellt hat, vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siède. München 1994, S. 12.

[17] Brief vom 2.4.1914 (Briefe 1913-1931, S. 38). Deutlich distanziert äußert sich Schnitzler in einem Brief an den Verfasser des in Frage stehenden Buches (vom 31.12.1913), wenn es hier heißt: „Über mein Unbewußtes, mein halb Bewußtes wollen wir lieber sagen –, weiß ich aber immer noch mehr als Sie, und nach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege […] als die Psychoanalytiker sich träumen (und traumdeuten) lassen“ (Ebda., S. 36). – Vgl. zur Korrespondenz mit Reik auch: Vier unveröffentlichte Briefe Schnitzlers an den Psychoanalytiker Theodor Reik, hg. von Bernd Urban. In: Modern Austrian Literature 8 (1975), S. 236-247.

[18] Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe der Biographie von Ronald W. Clark: Sigmund Freud. Frankfurt am Main 1983, S. 333. Vgl. auch: Freud – Bleuler Correspondence. In: Archives of General Psychiatry 12 (1965), S. 5.

[19] So Claudio Magris: Arthur Schnitzler und das Karussell der Triebe. In: Schnitzler in neuer Sicht, S. 76.

[20] Gewiß zutreffend stellt Martin Swales, ein großer Kenner Schnitzlers und Verfasser eines Buches über ihn, fest: „Und was auch immer Freud geleistet hat, er war kein Sozialkritiker“ (in: Literatur und Kritik 17 (1982), Heft 161/2, S. 58).

[21] Mitgeteilt von Emanuel Hurwitz in seiner Schrift: Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung. Zürich 1979, S. 85. Freud habe dies im Anschluß an den Vortrag „Kulturelle Perspektiven der Wissenschaft“ gesagt, den Gross 1908 auf dem Internationalen Kongreß der Psychoanalytiker gehalten hat.

[22] Über Psychoanalyse. Hg. von Reinhard Urbach. In: Protokolle 2 (1976), S. 277-284.

[23] Ebda., S. 283. Die „wichtige Rolle“ des Mittelbewußtseins betont auch Claudio Magris in dem von Hartmut Scheible hg. Band „Schnitzler in neuer Sicht“, dort S. 74; ebenso Horst Thomé: Kernlosigkeit und Pose. Zur Rekonstruktion von Schnitzlers Psychologie. In: Text & Kontext. Sonderreihe. Bd. 20 (1984), S. 62-87. Hier heißt es S. 77: „Schnitzlers Interesse gilt dem zugänglicheren Bereich des Mittelbewußtseins, für das auch der Terminus der ,Halbbewußten‘ […] erscheint. Aus ihm entwickelt er eine Kritik an der Psychoanalyse, die nicht so sehr der Metapsychologie als der therapeutischen Technik gilt.“

[24] Hugo von Hofinannsthal: Gedichte und lyrische Dramen. Frankfurt 1952, S. 198.

[25] Die Erzählung erscheint 1902 als Erstabdruck in der „Neuen Freien Presse“, mit dem Titel „Die Fremde“ 1907 in dem Erzählband „Dämmerseelen“. So auch innerhalb der „Gesammelten Werke“ in Bd. I der „Erzählenden Schriften“, dort S. 551- 559.

[26] Jacques Le Goff: Eine mehrdeutige Geschichte. In: Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse. Hg. von Ulrich Raulff. Berlin 1989, S. 21.

[27] Michael Sonntag: Historische Psychologie. Zur Methodologie einer Produktionsgeschichte des Psychischen. In: Annäherungsversuche. Hg. von Bedrich Loewenstein. Pfaffenweiler 1992, S. 40.

[28] Jugend in Wien, S. 328. – Zur Judenfrage im Denken Schnitzlers vgl. Egon Schwarz: Arthur Schnitzler und das Judentum. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Ts. 1985, S. 67-83. Hier auch die Bemerkung, daß mehr die psychologische als die soziale Seite interessiert habe; ferner Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein/Ts. 1981. Auch auf den Beitrag „Im Bewußtseinszimmer“ von Hartmut Scheible ist hinzuweisen. In: Text & Kontext (1982), S. 220-288.