Retterin und spätere Ehefrau des großen russischen Schriftstellers

Die Erinnerungen von Anna Grigorjewna Dostojewskaja und die gemeinsame Korrespondenz sind zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewski erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühjahr 1864 hatte Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881) mit seinem Bruder Michail (1820–1864) die Zeitschrift Epocha gegründet. Als sein Bruder ein Vierteljahr später überraschend verstarb, geriet das Projekt unter Druck und Dostojewski musste die Zeitschrift im Juni 1865 aus Geldmangel einstellen. Bereits hochverschuldet sah er keinen anderen Ausweg, als neue Schulden zu machen. Das geschah meist in der Form, dass er seine noch ungeschriebenen Bücher verpfändete. Auf der Suche nach einem Verleger, der ihm einen Vorschuss gewährte, geriet er an den ehemaligen Musikalienhändler F. Stellowski. Ihm rang er die Zusage von 3.000 Rubel ab – mit der Bedingung: bis spätestens 1. November 1866 einen neuen Roman im Umfang von zehn Druckseiten zu liefern. Bei Nichtlieferung war der skrupellose Stellowski berechtigt, alle Werke Dostojewskis, auch die künftigen, ohne Honorar an den Autor zu veröffentlichen. Ein Knebelvertrag. Außerdem befand sich Dostojewski gerade in einer Lebenskrise; neben seinem Bruder war im April 1864 auch seine erste Frau Maria Dmitrijewna (1824–1864) verstorben. 

Unbeirrt reiste Dostojewski jedoch Ende Juli 1865 mit dem Geld Stellowskis nach Deutschland, wo er sich in Wiesbaden wieder seiner Spielsucht überließ. Ende September nach St. Petersburg zurückgekehrt arbeitete er zunächst an seinem Roman Schuld und Sühne (später auch unter dem Titel Verbrechen und Strafe), der als Feuilletonroman in der Monatszeitschrift Russki Westnik erschien. Die Frist für den Abgabetermin des geforderten Manuskripts rückte immer näher. Kurz vor Ultimo nahm sich Dostojewski eine Stenografin, die junge Anna Grigorjewna Snitkina (1846–1918), der er jeden Tag mehrere Stunden diktierte. Zu Hause übertrug sie dann das Stenogramm und brachte den Text am folgenden Tag mit. Gemeinsam gelang das scheinbar Unmögliche: vom 4. bis 29. Oktober 1866 entstand der später so berühmte Roman Der Spieler. In letzter Minute wollte Stellowski den Schriftsteller noch überlisten; er hatte St. Petersburg kurzfristig verlassen und seinen Mitarbeitern die Annahme des Manuskriptes verboten. Doch Dostojewski lieferte das bei einem Polizeioffizier des Verwaltungsbezirks ab, selbstverständlich gegen eine Empfangsbestätigung durch eine Amtsperson. Die junge Snitkina hatte Dostojewski damit vor einem finanziellen Desaster bewahrt. Vielleicht ist der Roman das einzige Beispiel oder zumindest einer der wenigen Fälle in der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts, wo die Stenografie maßgeblich zum Entstehen eines Kunstwerkes beigetragen hat.

Aus der kurzen erfolgreichen Zusammenarbeit sollte bald eine liebevolle Verbindung werden. Bereits am 15. Februar 1867 heiratete der fünfundvierzigjährige Dostojewski die zwanzigjährige Anna Grigorjewna, die ihm als ebenbürtige Partnerin bis an sein Lebensende Halt geben sollte. Sie wurde nicht nur die Mutter seiner vier Kinder, von denen allerdings zwei früh starben, sondern sie gestaltete auch sein schriftstellerisches Leben aktiv mit als erste Zuhörerin, Kritikerin und schließlich als umsichtige Geschäftsfrau und Verwalterin seines Werkes. Dreißig Jahre nach Dostojewskis Tod, zwischen 1911 und 1916, schrieb sie ihre Vospominanija (dt. Erinnerungen), die 1976 erstmals in einer Übersetzung von Brigitta Schröder in deutscher Sprache im Verlag Rütten & Loening erschienen. Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers hat der Aufbau Verlag diese Übertragung, versehen mit einigen historischen Abbildungen, unter dem Titel Mein Leben mit Fjodor Dostojewski neu herausgebracht, basierend auf der ungekürzten russischen Neuausgabe 2015 im Moskauer Verlag Boslen.

Dostojewskajas Erinnerungen, verfasst im Alter von siebzig Jahren, gründen sich hauptsächlich auf ihre „geheimen“ stenografischen Tagebücher und Aufzeichnungen, die sie über viele Jahrzehnte geführt hatte, sowie die von ihr sorgfältig bewahrte Korrespondenz mit ihrem Mann. Die Erinnerungen und Briefe von Freunden und Zeitgenossen fanden ebenfalls Berücksichtigung. In neun umfangreichen Kapiteln resümierte Dostojewskaja ihr Leben. Beginnend mit ihrer Kindheit und Jugend in St. Petersburg, wo sie als Tochter eines ukrainischen Beamten das deutschsprachige St. Annen-Gymnasium (was dem Paar später bei ihren Deutschland-Aufenthalten sehr nützlich sein sollte) sowie das erste Mädchengymnasium der Stadt und später pädagogische Kurse besuchte. Außerdem belegte sie kostenlose Stenografiekurse.

Einzelne Episoden aus ihrem Leben verdichtete Dostojewskaja zu kleinen Erzählungen, so etwa Dostojewskis Werbung, einige Auslandsaufenthalte (z. B. in Dresden), die Schilderung des Todes der ersten Tochter Sonja und die Erschütterung beim Tod ihres Mannes.

Als das Ende gekommen war, ließen meine Kinder und ich unserer Verzweiflung freien Lauf: Wir weinten, schluchzten, sagten irgendetwas, küssten Gesicht und Hände des noch warmen lieben Entschlafenen; all das habe ich dunkel in Erinnerung, klar erkannte ich nur eines, dass mit diesem Augenblick mein von grenzenlosem Glück erfülltes persönliches Leben endete und ich auf ewig seelisch verwaist war.

Anna überlebte ihren Mann um nahezu vierzig Jahre. In dieser Zeit widmete sie sich ganz der Veröffentlichung seiner Arbeiten. Sie heiratete nie wieder und bemerkte dazu ironisch: „Wen sonst könnte ich nach Dostojewskij denn heiraten? Tolstoi vielleicht?“ Bereits wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes nahm sie die Gesamtausgabe seines Werkes in Angriff, die nach zwei Jahren abgeschlossen war. Der letzte Band, der eine Biografie und die Briefe Dostojewskis enthielt, erschien im November 1883. Bereits Anfang 1884 war die erste Gesamtausgabe (6000 Exemplare) verkauft. So erschienen bis 1890 noch drei weitere Ausgaben.

Dostojewskajas detaillierte Erinnerungen gehören zu den zuverlässigsten Aufzeichnungen über den Schriftsteller. Eine weitere wichtige Quelle ist der Briefwechsel der Ehepartner, der unter dem Titel ich denke immer nur an dich zum Dostojewski-Jubiläum ebenfalls im Aufbau Verlag erschienen ist. Textgrundlage der Neuerscheinung einschließlich der Anmerkungen ist der 1979 im Moskauer Verlag Nauka erschienene Band Perepiska, der 1982 bei Rütten & Loening erstmals in deutscher Sprache erschien. Der Briefwechsel gewährt nicht nur intime Einblicke in die Künstlerehe sondern auch in die Entstehung der Werke Dostojewskis, die während der 14 Ehejahre entstanden waren. Seine Frau hatte sich sogar in die Herausgabe seiner Bücher im Selbstverlag und ihren Vertrieb eingearbeitet.

Bereits in seinem ersten Brief schlug Dostojewski einen liebenswürdigen, ja leidenschaftlichen Ton an: „Du bist meine ganze Zukunft – Hoffnung und Glaube und Glück und Seligkeit – alles.“ Es sollte trotz des Altersunterschieds von 24 Jahren eine gleichberechtigte und geistesverwandte Partnerschaft werden. Die Briefe, die bewusst auf Stilisierung verzichten, verraten aber auch Dostojewskis Eifersucht, seine Spielsucht und seinen labilen Gesundheitszustand (epileptische Anfälle). Nach der Lektüre von Dostojewskis Briefen äußerte der französische Schriftsteller André Gide einst: „Man ist darauf gefasst, einem Gott zu begegnen und findet einen Menschen.“

Titelbild

Anna Dostojewskaja: Mein Leben mit Fjodor Dostojewski. Erinnerungen.
Aus dem Russischen von Brigitta Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2021.
565 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039295

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Titelbild

Anna Dostojewskaja / Fjodor Dostojewski: Ich denke immer nur an Dich. Eine Liebe in Briefen.
Aus dem Russischen von Brigitta Schröder.
Aufbau Verlag, Berlin 2021.
333 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351039288

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