Ein Turm der Stille

Hannah Dübgens zweiter Roman „Über Land“ ist ein nachdenkliches Buch über Fremdsein und Freundschaft

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bedeutet Fremde/Fremdsein, was macht „Heimat“ aus, wo fühlen sie sich zugehörig, die jungen, international mobilen und multikulturell bewanderten BewohnerInnen der globalisierten Welt, gibt es eine Identität und wenn ja, was ist das? Diese Fragen bewegten die 1977 geborene Autorin Hannah Dübgen bereits in ihrem Romandebüt Strom, in dem sie vier jungen Menschen aus verschiedenen Ländern um die halbe Welt folgte: einer deutschen Filmemacherin im Gazastreifen, einer japanischen Pianistin in Paris, einem amerikanischen Investmentbanker in Tokio und einem brasilianischen Zoologen in Tel Aviv. Auch in ihrem neuen Roman Über Land sind es ähnliche Fragen, die die Autorin und ihre ProtagonistInnen bewegen, noch existenzieller und dichter verwoben und auch unter anderen Vorzeichen als im vorangegangenen Buch.

In Berlin treffen die junge Chirurgin Stella und die 21-jährige Irakerin Amal aufeinander – im wörtlichen Sinn, Amal läuft Stella vors Fahrrad und flüchtet reflexhaft. Die ernsthafte, verantwortungsbewusste Clara lässt diese Begegnung nicht los, vor allem die überstürzte, panikartige Flucht Amals bewegt sie dazu, die junge Frau zu suchen und sich von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen. Ihre richtige Interpretation von Amals Fluchtbewegung führt sie schließlich zu einer Flüchtlingsunterkunft am Stadtrand, in der Amal lebt.

Aus dem zufälligen Zusammentreffen entwickelt sich schnell eine Freundschaft. Die Geschichten der beiden Frauen, Amals Flucht und ihr früheres Leben in Bagdad, Claras Beziehung zu ihrem Freund, dem Architekten Tarun, und Taruns ehrgeizig-utopisches Bauprojekt in der Nähe seiner Heimatstadt Kolkata sind Themen des Romans, in dem sich die Figuren langsam und bedachtsam entfalten. Über Land ist ein leises, nachdenkliches Buch, in dem nichts dramatisiert wird, auch wenn es von dramatischen Schicksalen und Erlebnissen erzählt. Die Themen Flucht und Geflüchtete werden nicht sensationsheischend oder als bloße Dekoration aufgegriffen. Das Leben in der Fremde, Fremdsein, wird vielfältig beleuchtet und auch gegen den Strich erzählt.

Während Amal das Fremdsein aus der Position der Abhängigkeit und des Wartens auf den Asylbescheid nach einer traumatisierenden Flucht erlebt, war es für Clara erst das Erleben der Fremdheit während einer Reise durch Nordafrika, das ihr zu der klaren Erkenntnis verholfen hat, Ärztin werden zu wollen, eine „Leidenschaft für das berauschende Gefühl […], sich in der Fremde frei und neu, selbstbestimmt entwerfen zu können“. Eine Leidenschaft, die sie mit Tarun teilt, auch wenn dieser dafür viel mehr kämpfen musste, als Sohn eines Schusters aus Kolkata, der nicht zuletzt dank seiner sportlichen Begabung zum Architekturstudium nach England gehen konnte und nun in einem renommierten Berliner Büro sein erstes eigenes Großprojekt leitet.

Wie in Strom gehören die ProtagonistInnen in Über Land zur akademischen Mittelschicht. Auch Amal, Tochter eines Chirurgen und einer Archäologin, ist Vertreterin einer Bildungselite, die durch Krieg und Flucht allerdings alle Privilegien verloren hat und darüber hinaus auch die Bewegungsfreiheit; so ist es Clara, die – einfach, weil sie es kann, mit ihrem deutschen Pass – an Amals Stelle nach Bagdad reist. Das klingt etwas konstruiert, so wie auch die Begegnung der beiden Frauen, vor allem Claras anschließende Suche, etwas konstruiert ist, aber es passt zum nachdenklichen Charakter der Figur, wie es überhaupt ein kluger, durchdachter, viele Informationen verarbeitender Roman ist, sehr reflektiert, wodurch die Figuren allerdings etwas distanziert bleiben. Wer sich darauf einlässt, erlebt die Lektüre vielleicht so, wie Tarun seinen „Turm“ verstanden wissen will, als einen Ort der Stille und des Innehaltens.

Titelbild

Hannah Dübgen: Über Land. Roman.
dtv Verlag, München 2016.
269 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783423280945

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