Ruhige Rastlosigkeit in launiger Langeweile

In ihrem Roman „Sisi“ entzaubert Karen Duve die österreichische Kaiserin

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauen im Alter von Karen Duve (Jahrgang 1961) sind mit dem romantisch verklärten Bild der österreichischen Kaiserin Elisabeth (1837–1898) aufgewachsen: mit schöner Regelmäßigkeit flimmerte zwischen den Jahren Ernst Marischkas Sissi-Trilogie (1955–1957) über die Bildschirme, in der Romy Schneider als junge Kaiserin ihrem Franz, Karlheinz Böhm, auf den ersten Blick in einer amour fou verfallen, inszeniert wurde. Als Ergänzung zu den Filmen fand sich mit etwas Glück im Bücherregal von Mutter, Tante oder Oma die Romanvorlage von Marie Blank-Eismann, mit der sich die Schwärmerei für Sisi und Romy gleichermaßen kultivieren ließ.

Nicht wenige Romane, Biografien und Filme später sowie passgenau zum Netflix-Start einer Sisi-Serie hat Karen Duve einen romanesken Ausschnitt aus dem Leben der Kaiserin entworfen, der die Zeit von März 1876 bis Weihnachten 1877 umfasst, der also bis zum 40. Geburtstag Elisabeths an Heiligabend 1876 voranschreitet und relativ genau ein Vierteljahr vor dem 185. Geburtstag erschienen ist.

Im März 1876 weilt Sisi in England, wo sie an einer Fuchsjagd teilnimmt und in Begleitung des berühmten Reiters Bay Middleton ihren außergewöhnlichen Mut beweist. Auf Geheiß ihres Mannes folgt sie einer Einladung Königin Victorias, reduziert den Besuch aber auf ein beleidigendes Minimum. An Ostern ist Sisi wieder in Wien, geht aber nicht zum Empfang der „Metternich-Pauline“, obwohl diese in der Hauptstadt als erste Gesellschaftsdame fungiert. Wenig später begibt sie sich erneut auf Reise, zuerst nach Ischl, dann nach Feldafing am Starnberger See, wo sie ihre Nichte Marie Louise Wallersee und deren Familie trifft. Marie Louise kommt kurzerhand mit auf das ungarische Landgut Gödöllö, wo sich auch Captain Middleton einfindet. Nach ausgedehnten Ritten mit dem englischen Verehrer reist Sisi nach Böhmen, mit ihr Marie Louise, die, so wie Sisi, reitbegeistert und -talentiert ist.

Das Reise- und Reitleben setzt sich 1877 fort, bis Sisi der Meinung ist, dass sie ihre Nichte verheiraten müsse. Die Wahl fällt auf Georg Larisch, einen schlesischen Grafen. Trotz beiderseitigem Desinteresse findet am 20. Oktober die Vermählung statt. An Weihnachten 1877 plant Sisi ihre nächste Reise nach England, zu der Marie Louise bereits eingeladen ist.

Die 48 kurzen, mit Subtiteln versehenen Kapitel bilden eine Sequenz von locker miteinander verknüpften Tableaus, die den oft monotonen Alltag der Kaiserin perfekt spiegeln. Parallel dazu thematisiert Duve immer wieder einmal das ab und an dramatische Geschehen rund um die Beziehung zwischen Kaiser Josef und seiner Geliebten Anna Heuduck. Aus den chronologisch vorwärts angeordneten Episoden ragen zudem einige Rückwendungen heraus, so etwa der Blick auf die Eheschließung von Gisela, Sisis ältester, noch lebender, Tochter.

Ein Plot im engeren Sinne gibt es nicht, eher ein groß angelegtes Standbild oder Sittengemälde, das in die Nähe von Duves vorherigem Roman, Fräulein Nettes kurzer Sommer, gerückt werden darf. Einerseits. Andererseits verzichtet Duve nun fast gänzlich auf das epische Präteritum. Sollte die Narration im Präsens den Versuch darstellen zu dynamisieren und zu aktualisieren, dann trifft das zweifelsohne auf die meisten Pferde- und Jagdszenen zu: Seinen Kick und ebenso weiterführende Appellstruktur bezieht Duves Text aus der iterativen Darstellung donnernd galoppierender und hetzjagender Vollblüter.

Sie sei selbst Reiterin, so Karen Duve im Klappentext, und eigentlich habe sie ein Buch über Pferde schreiben wollen. Warum sie sich in den Recherchen zur pferdebegeisterten Sisi verloren hat, enthüllt die Autorin nicht. Fakt ist, dass sie eine Abundanz an Details auffächert, die sich zu einem glaubwürdigen Gesamtbild der legendären Gestalt addieren.

Elisabeth habe drei große Leidenschaften: „Pferde, ihre jüngste Tochter Valerie und die enorm langen Haare“. Beginnt man mit Letzteren, so sind diese als metonymisch für Sisis Physis zu sehen: Haare, die in ihrer wallenden Pracht um eine Taille herum, die „nicht von dieser Welt ist“, quasi ein Eigenleben führen. Sisis Fitness ist nicht nur dem Reiten zu schulden, sondern auch ihren Turnzimmern, die sie regelmäßig nutzt. Des Weiteren kommt im Roman ihre Diät zur Sprache: normale Mahlzeiten an manchen Tagen alternieren mit dem alleinigen Milchkonsum an anderen.

Sisis Regime mit sich selbst schlägt sich in ihrem sozialen Konnex, in ihrem Umspringen mit anderen, nieder. Während Franz Josef althergebrachten Ritualen, Zeremonien aus Wiederholungen in Endlosschleife, folgt, kreiert Sisi kurzerhand ihre eigenen Umgangsformen. Dabei dominiert zwar eine multipolare Spannungsbalance zwischen den Agierenden, so wie sie Norbert Elias für den Hof des Sonnenkönigs diagnostiziert hat, sind doch alle um das brillante Zentrum herum gruppiert. In diesem modernisiert Höfischen jedoch bleibt die Kaiserin selbst quicklebendig, entzieht sich allen Regeln und lässt sich selbst nicht verbiegen: sie attackiert offen jede Etikette, wehrt sich dagegen, eine „Anziehpuppe im Geschirr“ sein zu müssen, scheut aber nicht davor zurück, andere an die Kandare zu nehmen. Darüber hinaus geizt Sisi nicht mit wohl humorigen, im Kern aber bissigen und verunglimpfenden Kommentaren, so etwa zu Queen Victoria (dicke Frau, die mit ihren „Hofmumien“ Scones isst) oder der Fürstin Metternich („Seidenäffchen“ mit „Spitzen und Rüschen“, der sie am liebsten eine Orange zuwerfen würde).

Inmitten all dieser Capricen konstruiert Sisi ihre eigene soziale Maschinerie des Ver- und Enthüllens, des Manipulierens und Verschiebens von Personen. Pivotal in dieser Scharade ist die dauerpräsente und unermüdliche Hofdame Festetics, die Elisabeth treu ergeben ist, sie rundum bewundert, daneben Marie Louise Wallersee, die Sisi „dressiert“ und für ihre Zwecke einsetzt, indem sie sie z. B. ohne Skrupel auf einen nächtlichen Botenritt durch den Wald schickt und für die sie eine Ehe arrangiert. Weitere bedeutende Figuren sind Nikolaus Esterházy und Bay Middleton.

In Sisis sozialen Gepflogenheiten spiegelt sich ihr Hunger nach Freiheit und Lebendigkeit, ihre Rastlosigkeit und ihr Wunsch nach Nähe – alles, was sich paradoxerweise paart mit Distanz, Statik, Apathie, sie immer nur einen Wimpernschlag von pathologischer Melancholie entfernt sein lässt. Vor allem in den Momenten des Innehaltens kristallisiert sie sich zur plastischen Figur; der Text gewinnt an Dichte, wenn – thematisch gesehen – seine Protagonistin rastet, wenn die Detailflut in den analytischen Passagen zum Erliegen kommt und die eher neutrale Erzählstimme Mikro-Einblicke in Sisis Affektwelt gewährt. Die Kaiserin kämpfe nicht gern, sie gebe anderen gegenüber immer nach, sie leide an einer „Seelen-Indolenz“, stecke aber oft „in einer Gruft der Schwere und Verzweiflung“ und werde verzehrt von der Angst vor „Alter, Vergänglichkeit, Tod“. Sie beobachte akribisch sich selbst oder ihre Tochter Valerie, um die sich permanent sorge. Sehr nah fühle sie sich ihrem Cousin, König Ludwig II., obgleich sie sich in seiner Gesellschaft „nie ganz wohl“ fühle. Er ziehe sie an „mit seiner großen Traurigkeit“.

Duves differenziertes Porträt von der Kaiserin oszilliert zwischen Schattierungen vorwitziger Lebendigkeit und Nuancen reservierter Indifferenz. Sisi entsteht weder als die romantisch Liebende ihrer Jugend noch als die schicksalsgeschlagene Frau späterer Jahre. Im Abseits jeder Etikettierung paaren sich in ihr eher oberflächliche Geschäftigkeit mit einer Tiefe des Empfindens, die das Vulkanisch-Explosive ihres Charakters konterkariert und gleichzeitig potenziert.

Mit sich selbst im Reinen ist Sisi dann, wenn sie sich mit Tieren umgibt, insbesondere wenn sie auf einem Pferd sitzt, denn „ihre große Traurigkeit pausiert, sowie sie einen der Lippizanerhengste reitet. Das Lebensfeuer der Tiere springt auf sie über“. In der Wiener Hofreitschule oder auch im Zirkus in Gödöllö, wo Flick und Flock, Sisis eigene Schimmel so domptiert werden, dass sie den Eindruck erwecken, sich zu umarmen oder miteinander zu tanzen, offenbaren sich höchste Disziplin und Konzentration aller Beteiligten. In diesen Szenen gelingt es Duve, die Faszination einer Einheit von Mensch und Tier authentisch in realistischer Schreibweise zu vermitteln. Gegenstand und Abbildung konkurrieren nicht mit der intendierten Aussage.

Ganz anders bei den unzähligen und unsäglichen Parforce-Jagden, Cub Huntings und ähnlichem, bei denen sich die Kaiserin ebenfalls höchst lebendig fühlt. Gerade in Extremmomenten, für die es sich, so wie sie beteuert, zu sterben lohne, verschmilzt sie mit ihrem Pferd. Im waghalsigen Jagdgalopp stoppt sie selbst dann nicht, als die Hunde die Fährte verloren haben und sich vor und hinter einem Gatter sammeln. Sisi und Middleton springen mitten in die Meute hinein, in Kauf nehmend, dass Tiere verletzt werden. Duves Narration erreicht dabei einen Paroxysmus des Unpersönlichen und Distanzierten, alle Komponenten aus Flauberts berühmter Trias der „impersonnalité“, „impassibilité“, „impartialité“ geben sich ein Stelldichein. Die heterodiegetische, neutral-distanzierte Erzählstimme, die sich gern lakonischer Parataxe bedient, bleibt vordergründig unparteilich, bietet aber ein Schlupfloch für die Autorin, aus dem heraus das bloße Zeigen zum Appell mutiert, zur Aufforderung möglicherweise, vergangene Missstände und Quälereien auf aktuell Vergleichbares zu beziehen.

Manchmal weicht der narrative Minimalismus einem fulminanten Vokabelfeuerwerk, aus dem sich visuelle Sinfonien des Grauens ergeben, die unmittelbar aufwühlen, z. B. bei der „Treibjagd am Traunstein“: Kaiser Franz Josef ist mit Gästen, mit seinem Sohn Rudolf und einigen Jagdhelfern in felsigem Gelände unterwegs. Von klein auf sei Rudolf ans Jagen gewöhnt worden. Er sei „glücklich“, wenn er „töten“ könne und seine „beständige Lust am Vernichten schöner, lebensfroher Geschöpfe“ habe „über die Jahre ungewöhnliche Ausmaße angenommen“. So antizipiert und erklärt Karen Duve post festum einen der berühmtesten Doppelsuizide der Weltgeschichte.

Die neutrale, mitunter gar indifferente Erzählstimme mag ein bisschen abweisend sein, äußert sich jedoch in tiefgründiger Analyse und Feinsinnigkeit, die sich beim Lesen erst allmählich enthüllt. Wenn man anfänglich nicht so warm werden will mit dem Text, er sich streckenweise zäh und widerständig gibt, dann sollte man erst recht durchhalten. Wenn man sich auf die Lektüre einlässt und Duves unnachahmlichen Stil auf sich wirken lässt, hat man gute Chancen, das existenzielle Grundrauschen einer Kaiserin wahrzunehmen.

Titelbild

Karen Duve: Sisi.
Roman.
Galiani Verlag, Berlin 2022.
416 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783869712109

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