Das Gedächtnis der Literatur

Mit mehr als vierzig Jahren Verspätung erschien Tezer Özlüs Roman „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Variationen über Cesare Pavese“ in der Originalsprache Deutsch und beschert eine literarische Entdeckung

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich gestehe, es war ein zufälliger Griff in die Buchauslage, aber beim Durchblättern und beim hie und da Reinlesen blieb ich an diesem Text hängen, und wollte das Buch nicht mehr aus der Hand geben. Mit dem Lesen wuchs das Staunen – ein Staunen in vielerlei Hinsicht. Ich gestehe ebenso, dass ich im ersten Moment glaubte, dieser Roman sei gerade erst geschrieben worden, um aber rasch zu erkennen, nein, geschrieben wurde er bereits vor mehr als vierzig Jahren – und die Autorin lebt schon lange nicht mehr. Sie starb 1986 und viel zu jung. Sie war da gerade erst 42 Jahre alt.

Dass dieser Roman auf diese Weise „jung“ geblieben ist, ist ein Aspekt unter all dem Verblüffenden des Textes. Wer war diese Tezer Özlü, und warum erscheint erst heute ihr Roman? Geschrieben wurde „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ auf Deutsch, aber erschienen ist der Roman damals nur in türkischer Übersetzung. Sie erhielt dafür 1982 den Literaturpreis der Universitätsstadt Marburg und des Landkreises Marburg-Biedenkopf.

Geboren wurde Tezer Özlü 1943 in Anatolien. Sie besuchte später in Istanbul das St. Georgs-Kolleg, eine österreichische Bildungseinrichtung. Sie ist zwanzig, als sie als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig wird, um Werke von Italo Svevo, Franz Kafka und Cesare Pavese ins Türkische zu übersetzen. Als DAAD-Stipendiatin kam sie Anfang der 1980er Jahre nach Berlin und hier schrieb sie den besagten Roman. Es war nicht ihr erster, denn zuvor war bereits 1980 „Çocukluğun Soğuk Geceleri“ erschienen (1985 in deutscher Übersetzung „Die kalten Nächte der Kindheit“). Es ist ein autofiktionaler Text, der die politischen, kulturellen und religiösen Widersprüche in der Biografie einer jungen türkischen Frau kritisch reflektiert. Am Ende geht es um ein selbstbestimmtes Leben.

Auch in dem hier zu besprechenden Roman ist das ein essentielles Motiv – ein freies Leben. Die Erzählerin, die in West-Berlin lebt und schließlich durch ein damals noch in Ost und West geteiltes Europa mit all seinen dadurch verursachten Seltsamkeiten reist, besitzt nicht nur einen wachen Blick für soziale Schieflagen und Lebenslügen, sondern eine ebenso sinnliche Wahrnehmung für Orte und Stimmungen und eine geradezu wortwörtlich zu nennende leidenschaftliche Hingabe an das, was sie liebt – und das ist immer wieder die Literatur und jene, die sie erschaffen.

Dass sie dabei gewissermaßen dem Tod hinterherreist, indem sie Kafkas Grab in Prag, Svevos Grab und Wohnhaus in Triest und Paveses Hotelzimmer in Turin aufsucht, wo jener sich das Leben nahm, erzeugt eine seltsame Spannung, weil sich die Beziehungen der Erzählerin zu den Toten mit ausgesprochen lustvoll erlebten Beziehungen zu Lebenden vermischen – Männer sind es hier wie dort. Dennoch heißt es an einer Stelle, die Kluft zwischen ihr und den Menschen auf der Straße und wo auch immer werde immer tiefer.

Und während sie in Berlin Storkwinkel wohnt, einer Straße unweit des Halensees gelegen, und unentwegt Pavese liest, der schon zu ihr gehörte, als sie noch am Bosporus lebte, und dabei in den eigenen, gerade entstehenden Text immer wieder Pavese-Zitate einfügt, heißt es plötzlich: „Keine Stadt lässt so viel an Leben, keine Stadt lässt so viel an den Tod denken wie Berlin.“ Wo es so viel Anregung zum Leben gebe, „dort vergrößert sich auch der Tod“. Die Stadt erscheine ihr ungeheuerlich, eine verkleinerte Welt mit West, Ost und der Türkei dazwischen. Die Stadt ist – wohlgemerkt – noch geteilt, und sie will sie nun verlassen: „Ich konnte keine alten Frauen und keine einkaufenden türkischen Gastarbeiter mehr sehen.“

Ein Filmplakat weist ihr gewissermaßen den Weg, denn darauf steht das Wort „Schienen“. Sie liebe dieses Wort, es bedeute Freiheit und Bewegung. „Nicht anpassen müssen. Schienen sind eine Art Unendlichkeit. Eine irdische.“ Vom Berliner Ostbahnhof aus begibt sie sich auf die Reise, fährt nach Prag, wohnt im Hotel Ambassador und besucht Kafka, um im Hotelrestaurant festzustellen: „In dem Silberbesteck, den Möbeln, den weißen Tischdecken steckt die Zauberzeit Kafkas.“

Von Prag geht es nach Wien, aber sie ist froh, nichts von dieser Stadt wahrgenommen zu haben und reist sogleich weiter nach Zagreb. Höllische Zahnschmerzen bringen sie dazu, sich von Schmerztabletten und Antibiotika zu ernähren. Und Liebesschmerzen werden noch hinzukommen. Sie lernt unterwegs Männer kennen und geht mit ihnen ins Bett. „Ich komme mir wie eine Prostituierte vor, die ich bewunderte und respektierte.“ Bei all dem geht es um Freiheit: „Ich lasse mich nicht mehr einsperren. Ich bin in meinem eigenen Ich endlos eingesperrt. Das reicht mir.“ Die vielen Männer habe sie auch aus Angst, „mit meiner Grenzenlosigkeit alleine anzukommen“, deshalb brauchte sie „die Grenzen eines beliebigen Menschen“. Und eben deshalb, nehme sie sich jeden Tag eine neue Liebe.

Die nächste Station ihrer Ruhelosigkeit ist Triest, dem einstigen Lebensort von Italo Svevo. Während sich Italien im Fußballfieber der gewonnenen Weltmeisterschaft befindet, die Nachrichten außerdem vom Falkland-Konflikt berichten und wieder von einem Krieg Israels gegen Palästina, besucht die Erzählerin die 84jährige Tochter Svevos, jene Letizia Schmitz, die trotz ihres hohen Alters sehr schön sei. Sie habe noch Joyce gekannt, der ihr Englisch beigebracht habe. Was die Erzählerin mit Svevo verbindet, das ist dessen Pessimismus, den sie als ihren eigentlichen Antrieb ausmacht:

Mut geben mir nur die Toten. Die Toten, in deren Beschreibungen ich lebe. Die Toten, die als Einzige aus dieser verdammten Welt eine liebenswerte machen. Die Toten, die alles gegeben haben, was die Welt braucht.

Und um dem noch eine Spitze zu geben, lesen wir:

Immer sind es unbekannte Menschen, die uns mehr lieben als Menschen, nach denen wir streben. Warum lässt man das Leben nicht unter Unbekannten weitergehen, ohne jede Erwartung, jede Last und ohne jene kurzen Augenblicke, die man sich als Glück einbildet. Das angenehmste Gefühl ist die Gefühllosigkeit, mit der man die ganze Welt und alle Menschen umarmen kann.

Die letzte Station ist Turin, wo die Suche nach dem Selbstmord endet. Sie findet den Ort im Hotel Roma, Zimmer 305, wo Cesare Pavese aus dem Leben schied. „Das Zimmer ist ein Sarg.“ Hier fragt sie sich, woher sie komme und gibt darauf diese Antwort: „Ich komme von den Gräbern meiner literarischen Welt.“ Dennoch wünscht sie sich damit aufzuhören, in der Literatur zu leben, weil das Leben doch lebendiger sei, um am Ende immer wieder aufs Neue zu erkennen, weiter in der Literatur zu leben. Ja, dieser Roman ist Literatur über Literatur, tiefgründig, wild, verliebt, von einer Sinnlichkeit, die den Schmerz nicht scheut. Özlü zeigt, wie man förmlich und unablässig in Gedanken leben kann und wie daraus lauter Wirklichkeitsfragmente entstehen. Nicht unerwähnt sei das Nachwort von Emine Sevgi Özdamar, die mit Tezer Özlü befreundet war und mit ihr sehr persönliche und ebenso politische Erinnerungen teilt.

Titelbild

Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes. Variationen über Cesare Pavese.
Mit einem Nachwort von Emine Sevgi Özdamar.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
208 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225585

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