„Ich bin wie andere der Anziehung unterlegen, die von diesem großen und rätselhaften Manne ausgeht“

Der Themenschwerpunkt der Mai-Ausgabe von literaturkritik.de widmet sich Leonardo da Vinci

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Ist es ein Widerspruch, jemandem in literaturkritik.de einen Themenschwerpunkt zu widmen, der sein Leben lang bestrebt war, die Literatur zugunsten der Malerei abzuwerten, ja der das, was die Dichter schrieben, als „Lügengebilde“ oder „Hirngespinste“ abqualifizierte? Nein, ganz sicher nicht. Denn um die Aussagen Leonardo da Vincis, der am 2. Mai 1519 starb, adäquat einordnen zu können, muss man sich den Stellenwert der Literatur und der Malerei zur Zeit der Renaissance vor Augen halten. Die Dichtung war unangefochtenes Leitmedium der Epoche, die Malerei hingegen hatte lediglich eine untergeordnete Bedeutung. Wurde Petrarca geradezu kultisch verehrt, betrachtete man die Malerei nicht als Kunst, sondern geringschätzig als Handwerk. Kein Wunder also, dass dies Leonardo, den Augen-Menschen, wurmte, der in der Malerei, speziell natürlich in seiner eigenen, die „göttliche Harmonie“ verwirklicht sah. In Bildern könne das große Ganze mit einem Blick erfasst werden, während in der Dichtung alles nur Stück für Stück wiedergegeben werden könne. Ob man dies der Literatur, wie das Leonardo tut, tatsächlich als Nachteil anrechnen will, muss jeder selbst entscheiden. Ein Glück ist es jedenfalls für uns Nachgeborenen, dass sich Leonardo so leidenschaftlich der Malerei zugewandt hat und zwar nur wenige, dafür aber umso großartigere Gemälde hinterlassen hat, die auch 500 Jahre später noch immer zu Spekulationen und teils mutigen Interpretationen anregen, wie die Neuerscheinungen zu Leonardo zeigen.

Unter diesen finden sich nicht nur zahlreiche Biografien, die sich mit Leben und Werk des Renaissancekünstlers beschäftigen, sondern ebenso eine Neuauflage des 1903 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen Romans Leonardo da Vinci von Dmitri Mereschkowski, der Sigmund Freud „wenige Jahre später zu seiner Schrift Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910) inspirierte“, wie Galina Hristeva in ihrer Rezension schreibt. Freud allerdings – wen mag es erstaunen? – interessierte sich in seiner Studie weniger für die Gemälde Leonardos an sich, sondern er setzte sich vielmehr zum Ziel, die „Hemmungen in Leonardos Sexualleben und in seiner künstlerischen Tätigkeit“ zu erklären. Dass seine Schrift, die neben anderen in unserer Sonderausgabe zu Sigmund Freuds Werken zu finden ist, gewagt ist und Kritik an seiner Deutung Leonardos laut werden würde, hat Freud bereits beim Schreiben geahnt, gibt er doch unumwunden zu:

Sollte ich mit diesen Ausführungen auch bei Freunden und Kennern der Psychoanalyse das Urteil hervorrufen, daß ich bloß einen psychoanalytischen Roman geschrieben habe, so werde ich antworten, daß ich die Sicherheit dieser Ergebnisse gewiß nicht überschätze. Ich bin wie andere der Anziehung unterlegen, die von diesem großen und rätselhaften Manne ausgeht, in dessen Wesen man mächtige triebhafte Leidenschaften zu verspüren glaubt, die sich doch nur so merkwürdig gedämpft äußern können.

Neben dem Themenschwerpunkt zu Leonardo da Vinci enthält die Mai-Ausgabe zahlreiche Rezensionen zu Büchern über Theodor Fontane. Dessen 200. Geburtstag steht zwar erst im Dezember dieses Jahres an, doch die Vielzahl an Veröffentlichungen zum Jubiläum und deren Besprechungen – im Laufe des Monats werden noch weitere folgen – dulden keinen weiteren Aufschub.

Vielen Dank allen, die zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben und die unsere Zeitschrift unterstützen!

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Stefan Jäger