Eine andere Geschichte
Über Karl Otten: Die Thronerhebung des Herzens
Von Michael Krüger
Karl Otten
Die Thronerhebung des Herzens
Schlage dein Herz auf, Bruder:
Das Buch der Morgenröte, Bruder
Der neuen Zeit, Bruder
Den Mantel der Furcht, Bruder
Das Auge der Erkenntnis, Bruder!
Dein Herz sieht Erleuchtung
Durch deine mordgesegneten Hände:
Blasse jammervolle wetzen sie vergebens
Den Schorf der Schande vom entweihten Leib.
Heilig! heilig! heilig!
Unaussprechliches, deine Schneeschwingen
Deinen Himmelsatem
Deine todrasselnde Brust –
Menschheit!
Der Dichter und Anarchist Karl Otten war 29 Jahre alt, als er in der Serie „Der Rote Hahn“ im Verlag der Aktion von Franz Pfempfert 1918 eine Broschüre mit Gedichten und Prosastücken unter dem Titel Die Thronerhebung des Herzens publizierte. Nach einem Text von Victor Hugo über Voltaire, der „senilen Impression“ über den „Mißbrauch des Todes“ von Hedwig Dohm und dem Vortrag „Der Fremde und der Bauer“ von Leo Tolstoi, war es der vierte Band in der Reihe, in der später auch Texte von Iwan Goll, Gottfried Benn („Diesterweg. Eine Novelle“) und Jakob van Hoddis („Weltende“) erschienen. Ab 1919 wurde die Reihe dann Texten von Lenin („Die nächsten Aufgaben der Sowjet-Macht“) und Lunatscharski geöffnet, um die Revolution in Rußland zu erklären (und zu empfehlen).
Auch Otten glaubte an die russische Revolution. Mit einem heute kaum erträglichen Pathos schrieb er in einer der späteren Auflagen der Menschheitsdämmerung: Sein Leben „sei verhüllt von Trauer über die Schmach, der das deutsche Proletariat durch eigene Schuld unterworfen ist: Das stärkste Hindernis auf dem Wege der Weltrevolution, ja, der erbittertste Saboteur der kommunistischen Idee zu sein.“ Otten bekennt, Rußland zu lieben, „und ich verlange von jedem revolutionären Dichter zunächst, daß er diese Liebe teile“. Und später: „… es gibt nur eins: Freiheit und Leben für alle Ewigkeit … Oder Tod – für alle Ewigkeit! Das Heil kommt von Osten.“
Die Thronerhebung des Herzens war also ein seltsamer, fremd anmutender Titel in dieser Reihe, die wie viele andere der Zeit um den Weltkrieg herum sich mit der unlösbaren Frage nach Ästhetik und politischem Engagement herumschlug. Es ging, wie Walter Hasenclever, einer der schriftstellernden Freunde Karl Ottens in dessen Aachener Schulzeit (ab 1907), die Absichten und Ziele des Expressionismus formulierte, darum: „Also: Forderung. Manifest. Appell. Anklage. Beschwörung. Ekstase. Kampf. Der Mensch schreit. Wir sind. Einander. Pathos.“
Wie paßt in dieses Szenario die Inthronisierung des Herzens, ein Programm, das man eher in gutbürgerlichen Kreisen vermuten würde? Nun hatte der Schüler Karl Otten in seiner Schulzeit gewiß viel über die Inthronisation, die Thronerhebung gehört, weil in Aachen seit Ende des ersten Jahrtausends und bis ins Jahr 1531 mehr als dreißig römisch-deutsche Könige auf dem Erzstuhl des ganzen Reiches („totius regni archisolium“) im Aachener Dom gekrönt worden waren. Doch keiner würde vermuten, daß ausgerechnet ein revolutionärer junger Dichter nach dem verlorenen Krieg sich ausgerechnet auf dieses historische Datum beziehen würde, um seiner politischen Gesinnung Ausdruck zu verleihen.
Warum gibt der Dichter seinem Band in der revolutionären Reihe der Aktion ausgerechnet diesen Titel? – In Aachen hatte der Schüler Karl Otten Kontakt zu dem katholischen Priester Carl Sonnenschein, der in seinem „Volksverein für das katholische Deutschland“ sozialreformerische Ideen verfolgte; er kann ihn nach dem Krieg in Berlin wiedergesehen haben, wo Sonnenschein eine Fülle von sozialen Projekten anschob und mit vielen Schriftstellern, u. a. mit Else Lasker-Schüler, zusammenarbeitete. Otten war also vielleicht nicht abgeneigt, im Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit auch die Möglichkeiten zu erwägen, die die Kirche anzubieten hatte. Und eben in dieser katholischen Kirche sorgte ab 1914 eine Bewegung für Aufmerksamkeit, die ganz ähnlich wie das Büchlein und das Gedicht von Karl Otten „Thronerhebung des heiligsten Herzen Jesu“ hieß und es sich zur Aufgabe machte, durch die „feierliche Weihe der Familien an dieses göttliche Herz“ Ordnung und Frieden in der Welt zu schaffen.
Die Initiative zu dieser Frömmigkeitsbewegung ging von dem peruanischen Pater Mateo Crawley-Boevey aus, der in dem französischen Wallfahrtsort Paray-le-Monial auf wunderbare Weise von einer tödlichen Krankheit geheilt worden war und sich aus Dankbarkeit zu diesem „Kreuzzug der Liebe“ inspirieren ließ. Im Mai 1915 hatten sich der Bewegung bereits drei Millionen Familien auf der ganzen Welt angeschlossen, u. a. der später, 1921, von militanten Rechten ermordete Leiter der Waffenstillstandskommission von 1918, Matthias Erzberger; bis heute gibt es Rundbriefe an die katholische Jugendbewegung, in denen zur Errichtung eines „sozialen Königtums“ aufgerufen wird: „Es lebe Christus, der König!“
Als das Büchlein Thronerhebung des Herzens 1918 erschien, hatte Otten schon einige schlimme Erfahrungen mit der Staatsmacht machen müssen. Den anarchistischen Pazifisten hatte man interniert und als sogenannten Arbeitssoldaten in Trier rekrutiert; und nachdem man die Gedichte – immerhin! – gelesen hatte, wurde er noch im Erscheinungsjahr zu einer Festungshaft in Koblenz verurteilt. Anders als viele andere seiner Kollegen, die bei Ausbruch des Krieges zunächst an einer „poetischen Mobilmachung“ beteiligt waren, hatte der Pazifist im allgemeinen Kriegsrausch keine guten Karten. Auch das könnte ein Grund sein, sich der „ewigen“ Sicherheiten zu vergewissern – wie ja überhaupt in der poetischen Produktion des Weltkriegs der Rückgriff auf christliche Symbole deutlich wird (s. Otto Herpel: Die Frömmigkeit der deutschen Kriegslyrik, Giessen 1917).
Welcher „Bruder“ in den Anrufungen der ersten fünf Zeilen des Gedichts gemeint ist, weiß ich nicht. Ist es der Bruder Mensch aus „Alle Menschen werden Brüder“ oder der französische Bruder, dem Otten im Sinne der französischen Revolution „fraternité“ anbietet? Bezieht sich das Buch der Morgenröte auf Nietzsches Morgenröthe, das ihr Autor selbst zu seinen „jasagenden“ Schriften zählte? Ist das Auge der Erkenntnis nur ein poetisches Füllsel? – Ich fürchte, Otten hat bei dieser Aufzählung dessen, was der Bruder aufschlagen soll, all das zusammengerafft, was gerade im Schwange war, konventionelle, gut gemeinte Ratschläge. Was heißt: Der Mantel der Furcht? Kann man ihn aufschlagen, wie man das Auge der Erkenntnis aufschlagen kann?
Der zweite Vers wird noch tollkühner, um nicht zu sagen: expressionistischer. Denn wie genau das Herz durch die blassen, jammervollen, mordgesegneten Hände hindurch, die gerade dabei sind, den Schorf der Schande vom entweihten Leib zu wetzen, Erleuchtung sieht (oder erfährt? oder der Erleuchtung teilhaftig wird?), kann auf rationale Art kaum erklärt werden. Und daß die Menschheit einerseits mit einer todrasselnden Brust, andererseits mit einem Himmelsatem, Schneeschwingen und Unaussprechlichem charakterisiert wird, ist auch merkwürdig und führt eher zu Kopfschütteln als zu einer Epiphanie.
Hat Kurt Pinthus dieses Gedicht gerade deshalb ausgesucht, um die Aporien des Poetischen in der Zeit des Ersten Weltkrieges zu zeigen? Denn Karl Otten hat sein Gedicht unter den erbärmlichen Bedingungen von „Schutzhaft“, Gefängnis und Fron als Arbeitssoldat geschrieben, als ein Verdächtiger, wie er schrieb, „dessen Leben an einem Faden hing“. Es bleibt in der politischen Perspektive ein zwiespältiges poetisches Zeugnis einer schlimmen Zeit, ein ungenau und mit wenig Inspiration gebautes Gefäß der Not – es wundert nicht, daß es ziemlich in Vergessenheit geraten ist.
Wenn man es jedoch in einer (wenn auch vielleicht vom Autor nicht bewußt intendierten) christlichen Perspektive liest, dann fallen all die politischen Kraftmeiereien – „Das Heil kommt von Osten!“ – und Bekenntnisse zusammen, und übrig bleibt ein einsamer Mensch, der unter schwierigsten Bedingungen die großen Worte sammelt, um daraus eine Abwehrmauer gegen die Barbarei der Zeit zu errichten – ganz ähnlich, wie es die Frömmler der Thronerhebung des heiligsten Herzens Jesu getan haben.
In der Zeitschrift Der Zweemann, die in Hannover erschien und Mitarbeiter hatte wie Kurt Schwitters, Mynona oder Klabund, stand im November 1919 eine winzige, dennoch sehr aufschlußreiche Rezension der Thronerhebung, die folgendermaßen lautete: „Ein zeitlich bedingtes Manifest. Dafür als aktivistische Tat groß, Ruhm und bleibend. Ob für Intensität und Extensität der Wirkung Kunst als Magd brauchbar, steht dahin. Dabei ist manches wirkliche Kunst und echte Dichtung.“
Pfemfert dagegen, der revolutionäre Agitator und Herausgeber der Aktion, später über seine Autoren: „Sie waren froh, ihre Verslein von mir gewertet und gedruckt zu wissen, ihre Novellen, ihre kleinen eitlen Nichtigkeiten.“ Und schließlich Walter Benjamin in seiner scharfen Abrechnung mit Erich Kästners Gedichten „Linke Melancholie“, in: Die Gesellschaft, 1937: „Der Expressionismus stellte die revolutionäre Geste, den gesteilten Arm, die geballte Faust als Papiermaché aus.“
Aber das ist eine andere Geschichte …
Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, Nr. 92, Februar 2019. Für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung danken wir Michael Krüger und dem Herausgeber der Zeitschrift Norbert Wehr.