„Eine Ansammlung unglücklicher Zufälle“

In seinen „Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand“ brilliert Miron Białoszewski mit der Darstellung menschlichen Leidens in seiner ganzen erbarmungslosen Banalität

Von Veronika DyksRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veronika Dyks

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Krieg ist doch schließlich eine Ansammlung unglücklicher Zufälle, und ein Aufstand ist eine Explosion solcher Ansammlungen“. So räsoniert der 22-jährige Miron Białoszewski inmitten des Warschauer Aufstandes von 1944, während neben ihm die Bomben einschlagen. Oder kommt dieser Gedanke dem Autor und Erzähler erst während des Schreibens, 23 Jahre später? Erleben und Erinnern verschmelzen in diesem Buch, ringen miteinander zwischen Vergessen, Wahrheit und Mythos.

2014 erschien Miron Białoszewskis Pamiętnik z powstania warszawskiego in Polen erstmals in einer neuen, zensurbefreiten Auflage – ganze 44 Jahre nach der Erstveröffentlichung 1970 und 25 Jahre nach dem Fall der sozialistischen Volksrepublik Polen. Esther Kinsky, die schon die zensierte Fassung ins Deutsche übersetzte, ermöglicht auch jetzt wieder einer deutschen Leserschaft Zugang zu diesem Meilenstein der polnischen Nachkriegsliteratur.

Dabei sind es nur „Tatsächlein“ (poln.: fakciki), die Białoszewski in seinen Erinnerungen schildern will. Er weicht ab vom großen Heldenepos des Warschauer Aufstands, von diesem Tragödienstoff der polnischen Nachkriegsliteratur, und besinnt sich auf die Wahrheit – seine Wahrheit. Scheinbar belanglose Details aus dem Alltag eines Zivilisten während des zweimonatigen Aufstands werden zusammengeschnitten wie ein Film: das Anstehen für Suppe, das Versammeln zum Beten oder Zeitunglesen, der Verlust der Scham bei öffentlichen Latrinen, die Freude eines jungen Schriftstellers über den Fund von Papier. Aber auch: Leben in Luftschutzkellern, Bangen um die nächste Mahlzeit, Flucht aus den an die Deutschen verlorenen Stadtteilen, Verletzte, Tote, Zerstörung.

An einer Stelle zieht Białoszewski selbst den Vergleich zu Dantes Inferno, der nur allzu passend erscheint in der Hitze eines nicht enden wollenden Spätsommers und in dieser vertrauten Stadt, die immer fremder wird. Die Menschen flüchten sich unter die Erde und hoffen, von Bomben und Feuern verschont zu werden. Vom Warschau, wie sie es kennen, wird nach dem Aufstand nichts mehr übrig sein, fast alles wird zerstört. Vielleicht hangelt sich die Erzählung deshalb an altbekannten Orten und Straßennamen entlang; als wollte sich Białoszewski selbst Orientierung verschaffen in diesem höllischen Labyrinth, sich an ehemals Vertrautes klammern, um sich in der wachsenden Fremdheit der Heimatstadt nicht zu verlieren.

Die Vielzahl polnischer Straßen- und Stadtteilnamen mag den deutschen Leser ebenso verwirren wie das weitgehende Fehlen historischer Fakten und Kontexte (die durch Anmerkungen und ein Nachwort der Übersetzerin jedoch nachgeliefert werden). Stattdessen betont Białoszewski mehrmals, dass er nicht auf die Geschichte eingehen will – denn die sei bereits bekannt. Und das stimmt. Das polnische Publikum, dem die Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand gewidmet sind, kennt sie bereits: die tragische Heldengeschichte, die sich nahtlos in das Bild Polens als Held und Opfer zugleich, als Märtyrer-Nation, einfügt.

Ein Jahrhundert lang war Polen als eigenständige Nation von der Landkarte verschwunden. 20 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit wird Polen im 2. Weltkrieg von den Nazis besetzt. Der Aufstand des Warschauer Ghettos 1943 wird zerschlagen. Und schließlich erhebt sich die Jugend Warschaus am 1. August 1944 aus dem Untergrund, um mit gestohlenen und geschmuggelten Waffen für ihre Freiheit zu kämpfen, getragen von der Hoffnung auf baldige Unterstützung durch die Rote Armee. Vergebens. 63 Tage dauert es, bis die Warschauer kapitulieren und auch die letzten Gebiete abtreten müssen. Die Stadt wird zum Großteil zerstört, über zehntausend Aufständische und hunderttausende Zivilisten sterben.

Białoszewski richtet sich an ein Publikum, das die Warschauer Aufständischen als tragische Helden feiert. Literarische Darstellungen des Aufstands knüpfen an die polnischen Klassiker des 19. Jahrhunderts an, die von Unterdrückung, Erhebung und Heldentum erzählen. Der typische Verweis auf den polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz und seinen Konrad Wallenrod fehlt auch in den Erinnerungen nicht. Doch das gewählte Zitat weist in eine andere Richtung: „Genug der Rache“.

Białoszewski erzählt keine Geschichte von Rache, Kampf und Heldentum. Er erzählt eine Geschichte des Lebens und Sterbens im Krieg. Eine Geschichte des Wartens: auf das Ende des Aufstands, auf die nächste Bombe, auf einen Teller Suppe. Er verzichtet auf die literarische Mythisierung und nimmt eine Haltung absoluter Subjektivität ein, die berührt.

Denn das, was Białoszewski erzählt, ist eine Wahrheit ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Der Erzähler skizziert die Erlebnisse seines 22-jährigen Ichs unter dem Schleier der Erinnerung. Phrasen wie „Ich weiß noch“, „Ich erinnere mich“, „Ich erinnere daran“ balancieren das Erzählte zwischen subjektiver Nähe und zeitlicher Distanz. Das Sich-Erinnern nach langer Zeit ist nicht nur Gerüst, sondern auch Leitmotiv der Erinnerungen: Der Zweifel des Vergessens und Verwechselns schwebt beständig über allem, macht eine fehlerfreie und chronologische Erzählung unmöglich. Und doch muss man sich erinnern, darüber reden – darüber schreiben. Nicht nur das Ringen mit der Erinnerung prägt den Text, sondern auch das Ringen mit dem Schreiben selbst. Für Białoszewski ist der Aufstand nicht literarisch. Für ihn ist „Reden die einzige Art […], auf die man den Aufstand beschreiben kann“. Also redet er. In einfachster Sprache. Und doch auf eine besondere Art beinahe poetisch.

Es ist diese sprachliche Einfachheit, die Białoszewskis Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand solch eine Wirkungskraft verleiht. In einer vermeintlichen Mündlichkeit tritt die Sprache zurück und lässt die Intensität des Erzählten für sich sprechen. Beinahe ist man als Leser versucht, die Augen zu schließen, um der Stimme des Erzählers lauschen zu können. Dabei ist dieses Buch alles andere als leichte Lektüre. Es zieht den Leser mitten ins Geschehen, das mehr ist als eine bloße „Ansammlung unglücklicher Zufälle“. Ohne darauf abzuzielen, wirft es eine zeitlose Frage über den Menschen auf: Wie kann man es ertragen, wenn Tod, Leid und Krieg zum Alltag werden? Diese Frage beantwortet Białoszewski nicht. Er fragt nicht danach, wie er es damals geschafft hat. Er zeigt es dem Leser lieber. Und das „ohne künstliche Ausgefeiltheit, sondern einzig eben natürlich“. Dabei sind es diese Banalität und Schmucklosigkeit, die die Realität viel schrecklicher machen als jede Fiktion.

Vielleicht gelingt es einem, die Erinnerungen auf einen Hieb zu lesen – weil man so gefesselt ist vom Leid, das Menschen ertragen können, und weil es so beeindruckend erscheint, dass man selbst in der Ausweglosigkeit das Lachen nicht verliert. Doch vielleicht ergeht es einem auch anders. Vielleicht muss man das Buch immer wieder zur Seite legen, um das Gelesene zu verarbeiten. Um sich selbst wie auch den Menschen der Vergangenheit eine Pause zu erlauben: vom Krieg und vom Aufstand, der zum Alltag wird. Bevor man sich doch wieder von dieser unfassbar eindrücklichen Authentizität in den Bann ziehen lässt und weiterliest. Ganz egal, wie lange man dafür braucht: Dieses Buch muss man bis zum Ende lesen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Miron Białoszewski: Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand.
Übersetzt aus dem Polnischen von Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
345 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518225080

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