Eine ebenso kluge wie gebildete Grenzgängerin

In Margarete Susmans „Gesammelten Schriften“ lässt sich eine Autorin entdecken, die auf vielen Gebieten zuhause war

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von 1872 bis 1966 lebende Literatin, Essayistin und Theoretikerin Margarete Susman ist heute zwar nicht eben vergessen, doch ist es vor allem ein einziges Werk, für das sie zumindest in kulturwissenschaftlichen und feministischen Kreisen noch immer bekannt ist: ihr Buch Frauen der Romantik aus dem Jahr 1929.

Dass sich das nun ändern könnte, ist den von Anke Gilleir und Barbara Hahn in fünf Bänden herausgegebenen Gesammelten Schriften der vielseitigen Autorin zu danken, die mehr als nur einen Einblick in das inhaltlich und formal mannigfaltige und weit mehr als ein halbes Jahrhundert andauernde Schaffen Susmans gewähren, in dessen Verlauf sie nicht weniger als achtzehn Bücher und annähernd zweihundert kurze Schriften unterschiedlichster Textsorten publizierte. Den Anfang machten die beiden Gedichtbände Mein Land (1901) und Neue Gedichte (1907). Mit Die Liebenden und den Liedern von Tod und Erlösung folgten 1917 und 1922 zwei weitere Lyrikbände. Doch war sie zu dieser Zeit nicht nur selbst im lyrischen Metier unterwegs; sie befasste sich auch theoretisch mit ihm, was sich 1910 in einer Abhandlung über Das Wesen der modernen Deutschen Lyrik niederschlug.

Dramen, Kurzgeschichten und Dialoge zählen ebenfalls zu ihrem Œuvre, vor allem aber nichtfiktionale Werke wie Essays, Studien, Rezensionen sowie theoretische und religionsphilosopische Arbeiten. Auf sie konzentriert sich die vorliegende Ausgabe, während Susmans fiktionale Schriften unberücksichtigt bleiben. Denn, so die Begründung der Herausgeberinnen, Susman habe sich „als Intellektuelle, nicht als Dichterin [verstanden]“. Da ihr eigentliches Genre der Essay gewesen sei, haben die Herausgeberinnen Susmans kurze Texte an den Anfang gestellt. Sie füllen die ersten beide Bände und sind nicht etwa in strikt chronologischer Reihenfolge aufgenommen. Vielmehr haben Gilleir und Hahn sie nach den vier „doch recht unterschiedlichen Darstellungsweisen“ der Autorin sortiert: „Gestalten“, „Gedankenkreise“, „Gespräche mit Büchern“ und „Nachworte“. Innerhalb dieser Rubriken erfolgt der Abdruck chronologisch.

Dies gilt auch für Susmans in die Bände drei bis fünf aufgenommene Bücher, wobei auffällt, dass ihr bekanntestes Werk Frauen der Romantik nicht entsprechend dem Erscheinungsjahr der Erstauflage 1929, sondern nach dem der letzten zu ihren Lebzeiten erschienenen, also der dritten Auflage des Jahres 1960 eingegliedert wurde, so dass es an vorletzter Stelle steht. Ihm folgt nur noch Susmans Autobiografie Ich habe viele Leben gelebt, in der sie nicht nur ihr Leben in Deutschland und ab 1933 im Schweizerischen Exil schildert, sondern ganz nebenbei auch kurze, auf Spinoza oder Kant fußende philosophische Überlegungen einfließen lässt und ihr Interesse an der damals aktuellen Literatur unter Beweis stellt, indem sie Ingeborg Bachmanns Kurzgeschichte Undine geht einer zwar kurzen, aber doch klarsichtigen Interpretation unterzieht.

Eröffnet wird der erste Band der vorliegenden Ausgabe mit Susmans zahlreichen Portraits damals (und oft auch heute noch) bekannter Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Bereichen wie etwa Literatur, Politik, Wissenschaft und Religion. Unter ihnen der konservative Lyriker Stefan George und die jüdische Feministin Bertha Pappenheim, der Anarchist Gustav Landauer und der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig. Der Marburger Neukantianer Hermann Cohen und der Soziologe Georg Simmel werden in einem beiden gewidmeten Text als „Pole jüdischen Lebens“ vor- und einander gegenübergestellt. Ins Auge fällt, dass viele der Porträtierten jüdischen Glaubens waren, wenn auch nicht immer praktizierende. Einige werden gar mit zwei Essays und überdies in weiteren Texten gewürdigt. Unter ihnen Rahel Varnhagen und Martin Buber. Auch etlichen anderen der im ersten Teil Porträtierten und ihren Werken wendet sich Susman im Laufe ihrer Jahrzehnte langen Arbeit immer wieder zu. So befasst sie sich in weiteren Texten etwa mit Pappenheims Gebeten oder Franz Rosenzweigs Werk Die Schrift und Luther. Überhaupt zählen religiöse bzw. religionsphilosophische Fragen zu den Themen, mit denen sie sich immer wieder auseinandersetzt. Dies gilt auch für die teuflisch/göttliche Wette um Hiob, der sie sich nicht nur mehrfach zuwendet, sondern sie in dem Buch Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes in den Kontext von Zionismus und Judenverfolgung stellt.

Nimmt die Religion unter den behandelten Themen eine herausragende Stellung ein, so unter den von ihr behandelten (literarischen) Textsorten die Lyrik, mit der sie sich ebenfalls immer wieder befasste.

Es sind vor allem die kurzen Texte, die zeigen, wie vielfältig Susman interessiert und unterwegs war. So widmete sie sich dem esoterischen Charakter der heutigen Kunst ebenso wie dem Tun und Erleiden des Krieges, dem Unterschied zwischen Einzelmoral und Staatsmoral, dem Expressionismus und der Bibel oder dem neue[n] deutsche[n] Pressegesetz sowie wiederholt Werken der ihr persönlich bekannten Dichter Karl Wolfskehl und Stefan George.

In einem der Essays beleuchtet sie die Bedeutung der Revolutionen für Menschen jüdischen Glaubens und in einem anderen für Frauen. Dass letztere sich, wie Susman moniert, bis dahin wenig für Politik interessiert hätten, erklärt sie in dem 1918 verfassten Text Die Revolution und die Frau, sei zwar verständlich, da sie „keine Stimme“ in „politischen Fragen“ hatten. Allerdings könne dies allein ihre „unpolitische Haltung“ nicht erklären, gebe es doch andere Länder, in denen es auch nicht besser um die Lage der Frauen bestellt, diese jedoch hochaktiv seien. Als Beispiele nennt sie die englischen Suffragetten, die Frauen der Französischen Revolution und die „bis zum Märtyrertum politischen Russinnen“. In Deutschland hätten die Frauen abgesehen von „verschwindend wenigen Ausnahmen“ nicht einmal „das Bedürfnis“, „in den öffentlichen Fragen mitzureden“.

Damit tut sie der deutschen Frauenbewegung um 1900 allerdings etwas unrecht, war diese doch nicht nur in Sachen Frauenstimmrecht hochaktiv. So engagierten sich nicht eben wenige Frauen in den beiden Flügeln der sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung. Immerhin waren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehr als eine halbe Million Feministinnen in ihrem Dachverband, dem Bund deutscher Frauenvereine organisiert.

Persönlichkeiten aus der Frauenbewegung widmet sich Suseman eher selten, und wenn doch, dann oft nur am Rande. So wird die österreichische Feministin Rosa Mayreder zwar als „geistig so hochstehende, so ungewöhnliche und verehrungswürdige […] Verfasserin der Kritik der Weiblichkeit gewürdigt, doch geschieht dies in einer Sammelrezension lyrischer Werke, in der Susman Mayreders Aschmedai’s Sonette an den Menschen dafür kritisiert, dass sie „nur in Versen ausgesprochene Gefühle und Ansichten“ enthielten, die sich aber nie zu einem „als Ganzes geborenes Gedicht fügen“. Allein mit Bertha Pappenheim befasst sich Susman näher, dies allerdings weniger in deren Eigenschaft als Frauenrechtlerin, sondern vielmehr als Jüdin. Dass sie den deutschen Frauen nahezu in toto vorhält, vor dem Ersten Weltkrieg unpolitisch gewesen zu sein, mag auch damit zusammenhängen, dass sie selbst erst durch das Völkerschlachten des Krieges politisiert wurde, wie man in den 1960er Jahren, dem Jahrzehnt ihres Todes, gesagt hätte, und deren Aktivitäten vor und während des Krieges darum nicht im rechten Maße wahrnahm. Denn tatsächlich engagierten sich gerade die Frauen des radikalen Flügels um Anita Aupsburg und Lida Gustava Heymann mit all ihrer Kraft gegen den Krieg, in dem auch der Kampf der Frauenrechtlerinnen um das Frauenstimmrecht nicht zum Erliegen kam.

Mit der Frauenbewegung und ihren Kritikern wie Otto Weininger respektive mit der, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts oft hieß, ‚Frauenfrage’ befasst sich Susman auch in einer späteren Publikation. Acht Jahre nach Erscheinen ihrer Schrift Die Revolution und die Frauen griff sie Das Frauenproblem in der gegenwärtigen Welt erneut auf. Diesmal warf sie die Frage auf, ob Männer nicht „weit besser von der Frau zu reden [verstehen] als die Frau selbst“ und die „europäische Dichtung“ der Männer nicht „unendlich Wahreres und Tieferes über die Frau enthüllt [hat] als die gesamte Frauenbewegung“, die „eine der tiefsten und tragischsten Bewegungen in der Geschichte der europäischen Menschheit“ sei. „Im letzten und tiefsten Sinne“ wäre die Frauenbewegung „erst erfüllt, wenn sie sich selbst aufhöbe […] und damit unsere Welt neu im Göttlichen zu gründen vermöchte“, lautet ihr heute befremdlich klingendes Fazit.

Stärker als ihr Interesse an der Frauenemanzipation war allerdings dasjenige an den sozialistischen Bestrebungen ihrer Zeit, namentlich den anarchistischen. Die Werke des Russen Pjotr Alexejewitsch Kropotkin beschäftigten sie besonders. Aber auch der Individualanarchist John Henry Mackay war ihr nicht unbekannt. Mit Gustav Landauer, einem der prominentesten deutschen Anarchisten des frühen 20. Jahrhunderts, war sie sogar befreundet. Doch befasste sich Susman auch mit anderen Strömungen des Sozialismus. So publizierte sie ebenso über den Arbeiterführer Ferdinand Lassalle wie über die Begründer des sich als wissenschaftlich verstehenden Sozialismus, was sich in kleineren Veröffentlichungen über Karl Marx, Friedrich Engels und Rosa Luxemburg niederschlug.

Allem anderen voran aber galt das Interesse der vielfältigen Denkerin religiösen und religionsphilosophischen Fragen des Christen- und des Judentums, mit denen sie sich immer wieder auseinandersetzte. Wovon neben zahlreicheren kleineren Schriften wie Der Krieg und das Wort Gottes, Mensch und Religion oder Judentum und Kultur nicht zuletzt ihr Hiobs-Buch und ihre Deutung biblischer Gestalten zeugen.

Ein besonderes Lob verdient die von Anke Gilleir und Barbara Hahn geleistete editorische Arbeit. Denn sie haben die einzelnen Schriften mit kenntnisreichen und informativen Anmerkungen versehen und einen Anhang erstellt, der darüber hinaus wichtige Informationen zu Leben und Werk Susmans sowie eine Bibliografie der Publikationen von Susman und ein Register enthält.

Die nichtfiktionalen Schriften der zwar nicht studierten (Frauen waren in Deutschland noch bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht zum Studium zugelassen), dafür aber umso klügeren Religionsphilosophin, Kulturtheoretikerin und Essayistin Margarete Susman wieder zugänglich gemacht zu haben, ist ein nicht geringes Verdienst, das sich Anke Gilleir und Barbara Hahn auf die Fahnen schreiben können. Es sei ihnen gedankt.

Titelbild

Margarete Susman: Gesammelte Schriften.
Herausgegeben von Anke Gilleir und Barbara Hahn. Mit einem Nachwort der Herausgeberinnen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022.
5 Bände, 2900 Seiten, 128,00 EUR.
ISBN-13: 9783835352964

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