Eine eigenständige Lyrik-Stimme vor dem Ersten Weltkrieg

Zum 100. Todestag von Gerrit Engelke

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, schickte auch das Deutsche Reich seine jungen Männer an die Front. Vor Begeisterung gerieten viele in einen nationalistischen Taumel, sie träumten nicht nur von Deutschlands Aufstieg zur Weltmacht sondern auch von der inneren Harmonisierung der inneren gesellschaftlichen Spannungen. Der Krieg wurde als kulturrevolutionäres Ereignis gefeiert – als ein „reinigendes Gewitter“. Der kriegsbegeisterten Stimmung konnten sich anfangs selbst überraschend viele Lyriker nicht entziehen, darunter auch zahlreiche Avantgarde-Poeten. Zuvor hatten sie in Gedichten noch Schreckens- und Untergangsvisionen beschworen, die Isolation und Entfremdung des Individuums angeprangert, waren gewissermaßen die Seismographen des drohenden Krieges; nun beteiligten sie sich an der „poetischen Mobilmachung“, so der Literaturkritiker und Dramatiker Julius Bab (1880-1955). Überwältigt von der allgemeinen Euphorie meldeten sie sich als Kriegsfreiwillige aus Pflichtgefühl, Vaterlandsliebe oder „Schicksalsbereitschaft“.

Diesen „Hurra-Patriotismus für Gott, Kaiser und Vaterland“ mussten einige expressionistische Lyriker bereits in den ersten Kriegsmonaten mit dem Leben bezahlen: Alfred Lichtenstein (25. September), Ernst Wilhelm Lotz (26. September), Ernst Stadler (30. Oktober) oder Georg Trakl (4. November). Die industrialisierten Materialschlachten und das Massensterben in den Schützengräben führten jedoch bald zu Ernüchterung und Traumatisierung. Trotzdem mussten noch viele junge Künstler bis 1918 das sinnlose Abschlachten hautnah miterleben oder mit dem Leben bezahlen.

Fast vier Jahre hatte auch der Dichter Gerrit Engelke in den Schützengräben gelegen. Den Waffenstillstand vom 11. November 1918 sollte er jedoch nicht mehr erleben. Kurz vor Kriegsende geriet er schwer verwundet in Kriegsgefangenschaft. Zwei Tage später, am 13. Oktober, starb er an seinen Kriegsverletzungen.

Am 21.Oktober 1890 wurde der Sohn eines Textilwarenhändlers in Hannover geboren. Häufige Umzüge bestimmten das Familienleben. Nach anhaltenden Ehestreitigkeiten wanderte der Vater nach Amerika aus – Gerrit war gerade einmal elf Jahre alt. 1910 folgten auch noch die Mutter und die jüngere Schwester Margarethe dem Vater in die Neue Welt. Frühzeitig musste der Junge, der als verschlossen und scheu galt, für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen. Nach der Schule absolvierte Engelke zunächst eine Malerlehre, die er 1908 mit der Gehilfenprüfung abschloss. Anschließend war er als Geselle bei verschiedenen Firmen tätig, aber auch häufig von längeren Phasen der Saisonarbeitslosigkeit betroffen. Ständig litt er unter Geldmangel. Die Eltern schickten zwar gelegentlich Geld, das er aber nur über den älteren Stiefbruder Otto erhielt. Dieser hatte nach der Übersiedlung der Eltern das Textilgeschäft übernommen. Zurückgezogen und fast ohne Familie, wohnte Engelke meist zur Untermiete. Einzig mit seinem ehemaligen Schulkamerad August Deppe (†1917) und dem dänischen Studenten Martin Guldbrandsen (1883-1976), den er bei gemeinsamen Malerarbeiten kennenlernt hatte, pflegte er jahrelang einen intensiven Kontakt.

In seiner Freizeit widmete sich der junge Engelke eifrig der Malerei und Literatur. Trotz knapper Kasse soll er einen Bücherschatz von rund 400 Büchern zusammengetragen haben, darunter auch einige kostspielige Ausgaben. In einer finanziellen Notlage musste er allerdings einen Teil seiner Bibliothek wieder verkaufen. Schon während seiner Anstreicherlehre hatte Engelke Abendkurse der Kunstgewerbeschule Hannover besucht und für seine Zeichnungen und Aquarelle auch zwei Preise erhalten, sodass er lange zwischen seinen künstlerischen und literarischen Neigungen schwankte. Nach einer Zeit des Tastens wandte er sich schließlich verstärkt der Dichtung zu. Erste Gedichte entstanden, die bis heute jedoch weitgehend unveröffentlicht geblieben sind. Daher wird häufig angenommen, dass seine lyrische Tätigkeit erst mit den sogenannten Großstadtgedichten 1912 einsetzte.

Um die Großstadt sinkt die Welt in Schlaf.
Felder gilben, Wälder ächzen überall.
Wie Blätter fallen draußen alle Tage,
Vom Zeitwind weggeweht.

Die Stadt weiß nichts vom bunten Aufschrei der Natur,
Vom letzten aufgepeitschten Blätterwirbel,
Die Stadt hört nicht von Berg und Stoppelflur
Den trauergroßen, herben Schlafgesang.

Ob Ebene und Wald in welkes Sterben fallen,
Ob draußen tost Vergänglichkeit,
Im Stadtberg brüllen Straßen, Hämmer hallen:
Die Lärmstadt dampft in Unrast ohne Zeit.

Hier wurden die Themen Industrialisierung und Urbanisierung aufgegriffen, gekennzeichnet von Lärm und Unrast. Den Takt der Stadt und seiner Bewohner bestimmt nicht mehr die Natur, sondern der Lärm der Maschinen. Dagegen beschrieb Engelke in Die Rede des Dichters vom Berge in archaischer Zarathustra-Ausdrucksweise seine dichterische Mission:

Ich bin das Sprachrohr und die Lärmtrompete,
Der brunstgequälte Künder aller Dinge:
Von Mensch- und Muschelkeim bis Nacht und Lethe,
Vom Kabelschacht bis hoch zur Vogelschwinge.
   Ich bin ein Greis und bin ein Kind,
Der Zukunft ahnungvoller Seher –
Und doch im Allesrausche blind,
Bin Priester und bin Leierdreher.
Ich stapfe hoch im Gipfelfirn
Und will die Welt in Worte zwingen –
Muß wieder beugen meine Stirn
Und muß im Hof zur Orgel singen.

Im März 1913 besuchte Engelke den Schriftsteller Richard Dehmel (1863-1920) in Hamburg-Blankenese, den er um „literarische“ Unterstützung bat. Dehmel hatte ein Jahr zuvor mit anderen namhaften Schriftstellern die Kleist-Stiftung e.V. (später Kleist-Preis) zur Förderung junger Talente ins Leben gerufen. Die Begegnung sollte für Engelkes weiteren literarischen Werdegang entscheidend werden. In den folgenden Jahren weilte er noch öfters bei Dehmel, dessen fundierte Kritik er außerordentlich schätzte. Durch die Vermittlung von Dehmel druckte der expressionistische Dichter Paul Zech (1881-1946) im Juli- und Dezember-Heft in seiner gerade gegründeten Zeitschrift Das neue Pathos einige Gedichte von Engelke ab. Es kam sogar zu einer kurzen Zusammenarbeit zwischen Zech und Engelke, die jedoch ein Jahr später abbrach.

Anfang des Jahres beschäftigte sich Engelke mit der Vorbereitung eines ersten Gedichtbandes Dampforgel und Singstimme. Über Dehmel bekam er Kontakt mit den „Werkleuten auf Haus Nyland“, einer Gruppe junger Dichter um den Schriftsteller und Verleger Jakob Kneip (1881-1958), die eine Erneuerung der Literatur anstrebte. In der Hauszeitschrift Quadriga des Künstlerbundes wurden die 24 Gedichte schließlich abgedruckt – allerdings ohne Nennung des Autors. Der Hannoversche Courier und der Hannoversche Anzeiger druckten ebenfalls in unregelmäßigen Abständen Gedichte und kleinere Prosatexte ab. Als das Kestner-Museum Hannover rund siebzig seiner Bilder erwarb, konnte Engelke einige Reisen unternehmen. So besuchte er seinen Freund Martin Guldbrandsen in Dänemark (natürlich mit einem mehrtägigen Zwischenstopp in Hamburg bei Dehmel). Während des mehrmonatigen Sommeraufenthaltes begann Engelke mit der Niederschrift seines ersten und einzigen Romans Don Juan, der eine Hommage an seinen Lieblingsdichter, den dänischen Schriftsteller Jens Peter Jacobsen (1847-1885), werden sollte. Durch den Ausbruch des Weltkrieges blieb das Projekt allerdings ein Fragment von vierzig handgeschriebenen Seiten.

Erst am 19. Oktober 1914 kehrte Engelke nach Deutschland zurück, wo er sich nach einigem Zögern freiwillig zum Militärdienst meldete. Während der Infanterie-Ausbildung in Flensburg entstand das Pamphlet Eine neue Kunstwelt nach dem Kriege, das im März 1915 in der Zeitschrift März erschien. Im April wurde Engelke dann nach Flandern an die Front versetzt. Zuvor hatte er noch veranlasst, dass seine sämtlichen Manuskripte aus Dänemark zur Aufbewahrung an Kneipp gesandt wurden. Engelke nahm an den Gefechten bei Langemarck, Ypern und an der Somme teil; Ende 1916 war er sogar an der russischen Front eingesetzt.

Zwischen den Fronteinsätzen blieb nur wenig Zeit zum Schreiben, allein in zahlreichen Briefen an Freunde schilderte er seine Erlebnisse und Eindrücke. Dennoch gab es immer wieder literarische Pläne – u.a. gemeinsam mit Jakob Kneip und dem Arbeiterdichter Heinrich Lersch (1889-1936) sowie dem Verlag der Westdeutschen Arbeiterzeitung eine Buchreihe und eine Zeitschrift herauszugeben. Das Vorhaben scheiterte allerdings. Wie aus seinen Feldbriefen hervorging, hatte Engelke an der Front stets eine Ausgabe des Lyrikbandes Grashalme von Walt Whitman (1819-1892) bei sich und so ist in dem Gedicht Buch des Krieges, das während eines Lazarettaufenthaltes entstand, der Einfluss des amerikanischen Dichters abzulesen. Engelke verarbeitete dabei das Schicksal seines vermissten Jugendfreundes August Deppe.

Mein Freund du, gebrochenes Auge nun,
Gebrochener Blick wie der des erschossenen Hasen
Oder verächtlichen, kalten Verräters –
Zwölf Jahre gemeinsam sprang uns der Zeitwind entgegen,
Schweigsam teilten wir Bücher und Brot,
Teilten im Schulhaus die Bänke,
Des Lebenshindranges rauschende Not,
Einigen Sinnes Erkennung und Lehre,
Freund, dein Auge ist tot.

Doch des gewaltigen Friedens unzählbare, selige Glanzlegionen,
Wenn ehern und klirrend sie über dein Grabfeld marschieren,
Wirst du erschauernd einst hören,
So horche und harre darauf.

Diesen „gewaltigen Frieden“ sollte Gerrit Engelke nicht erleben. Im Februar 1918 hatte er sich noch mit Annie-Mai Siegfried, einer entfernten und verwitweten Verwandten Kneips, verlobt und beide schmiedeten bereits Pläne für eine gemeinsame Zukunft nach dem Krieg. Im April wurde er jedoch wieder an die französische Front eingezogen, wo er bei einem Rückzug am 11. Oktober am linken Oberschenkel schwer verwundet wurde. Zwei Tage später starb er an den Folgen der Schussverletzung in einem britischen Lazarett im Alter von nicht einmal 28 Jahren. Auf einem Soldatenfriedhof an der französischen Kanalküste fand er seine letzte Ruhe.

Gerrit Engelke hat ein schmales literarisches Werk hinterlassen – vor allem, Gedichte, die vorrangig in den zwei, drei Vorkriegsjahren entstand. Neben dem Romanfragment Don Juan noch die Erzählung Die Festung (1914). Im Mittelpunkt der kurzen Geschichte steht zwar die Erstürmung einer französischen Festung, aber in der Gestalt des Medizinstudenten Marks schilderte Engelke auch den inneren Zwiespalt zwischen Soldatenpflicht und Pazifismus.

Geschrei, Geschrei, Siegesjubel! Wer dachte da wohl an die unzähligen Opfer der Sieger? an die Toten, die mitgesiegt hatten? – die Verlustlisten kamen ja immer viel später heraus.

Zu Lebzeiten wurden nur einige Gedichte und wenige Prosatexte von Engelke gedruckt, erst 1921 (Jena, Diederichs) erschien mit Rhythmus des neuen Europa (Hg. Jakob Kneip) eine erste Sammlung seiner Gedichte, die Engelke noch weitgehend selbst zusammengestellt und dafür auch den Titel gewählt hatte. Hier äußerte er in einigen Gedichten seine Vorstellungen nicht nur von einer Erneuerung Europas, sondern auch vom Zusammenleben der Menschen:

Menschen, Menschen alle, streckt die Hände
Ueber Meere, Wälder in die Welt zur Einigkeit!
Daß sich Herz zu Herzen sende:
Neue Zeit!

Menschen! Alle! drängt zur Herzbereitschaft!
Drängt zur Krönung Euer und der Erde!
Einiggroße Menschheitsfreunde, Welt- und Gottgemeinschaft
Werde!

Im Berliner Arbeiterjugend-Verlag folgte 1927 mit Gesang der Welt (Hg. Walther G. Oschilewski) eine Sammlung seiner Gedichte, Tagebuchblätter und Briefe. Der Band Vermächtnis (1937, List, Leipzig) versammelte schließlich neben den schon bekannten Texten alle hinterlassenen Dichtungen. Der Herausgeber Kneip beleuchtete dabei in seinem Vorwort auch Engelkes Zusammenarbeit mit den „Werkleuten auf Haus Nyland“. Diesem Künstlerkreis ist es allerdings zu „verdanken“, dass Engelke frühzeitig als „Arbeiterdichter“ „abgestempelt“ wurde. Eine Bezeichnung, mit der er selbst nicht einverstanden war, die man aber noch heute in Literaturgeschichten und Lexika findet. Julius Bab sah in ihm „das erste literarische Genie, das aus dem Proletariat hervorgegangen ist“. Engelke hat zwar einige Arbeiterlieder (z.B. Lied der Kohlenhäuer oder Die Fabrik) geschaffen, diesen fehlte aber der politische Ton. Auch die sozialen Probleme der damaligen Arbeiterschaft fanden darin kaum ihren Niederschlag. Die Einordnung als „expressionistischer Dichter“ ist ebenfalls nur die halbe Wahrheit, vielmehr ist Engelke eine eigenständige Stimme, ja eine der sprachgewaltigsten Stimmen in der vielschichtigen Lyrik der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Nach 1945 erschien mit Rhythmus des neuen Europa (1960, List, München) noch einmal das Gesamtwerk. Danach – und das immerhin seit fast sechs Jahrzehnten – sucht man Engelke vergebens in den Verlagsprogrammen. Bereits 1956 stellte der Hamburger Germanist und Philologe Karl Ludwig Schneider (1919-1981) in einem ZEIT-Artikel fest: „Wenn Engelke heute zu den vergessenen Dichtern zählt, so handelt es sich in diesem Fall wohl kaum um jenes produktive Vergessen, mit dem Unwesentliches ausgeschieden wird, sondern eher um eine bedenkliche Schwäche unseres literarischen Erinnerungsvermögens.“

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Anerkennung verdient jedoch der Begleitkatalog zu der Ausstellung Gottheit. Zeit. Und Ich (Verlag August Lax Hildesheim), die vom 19. Oktober bis zum 30. November 1990 in der Niedersächsischen Landesbibliothek zum 100. Geburtstag mit dem Leben und Werk des hannoverschen Dichters bekannt machte. Zwischen 1979 und 2005 verlieh die Stadt Hannover alle zwei Jahre den Gerrit-Engelke-Preis zur Förderung zeitgenössischer Autoren. Die ersten Preisträger (1979) waren Günter Herburger und Günter Wallraff (1979), letzter Preisträger war der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss. Die Stadtbibliothek Hannover, die mit dem Gerrit-Engelke-Archiv den Nachlass verwaltet, erinnert mit Vorträgen, Lesungen und einer Ausstellung an den 100. Todestag des Dichters und dessen Bedeutung für die heutige Zeit.