Eine Frau ihrer Klasse

Dank Annie Ernaux wurde ich Schriftsteller. Ihr Literaturnobelpreis ist eine Auszeichnung für die Arbeiterklasse

Von Christian BaronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Baron

Natürlich gehöre auch ich zu jenen, die bis 2017 nie etwas von der Trägerin des Literaturnobelpreises 2022 gelesen hatten. Damals war ich Redakteur der Tageszeitung Neues Deutschland. Die Literaturchefin (und heutige Freitag-Autorin) Irmtraud Gutschke gab mir dieses Buch mit dem weißen Umschlag. Der Titel: Die Jahre. Die Autorin: Annie Ernaux. Nach kurzem Blättern entschied ich, es nicht zu rezensieren. Es gab keine Gattungsbezeichnung. Den Namen der Autorin kannte ich nur, weil Didier Eribon sie in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Memoir Rückkehr nach Reimsals Vorbild nennt. Auf den Gedanken, dass es sich bei Die Jahre genau darum handelt, also ein zwischen Literatur und Sachbuch anzusiedelndes Memoir, kam ich nicht. Was viel darüber aussagt, dass mich bei einer Frau abschreckte, was bei Eribon kein Problem für mich gewesen war: nicht zu wissen, worauf ich mich einließ.

Was für ein Buch!

Wofür ich Irmtraud im Rückblick dankbar bin, ist ihre Hartnäckigkeit. Wenn ich es nicht besprechen wolle, sollte ich es wenigstens überfliegen, sagte sie – und ließ das Buch auf meinem Schreibtisch liegen. Dort blieb es wochen-, ach was: monatelang, ehe ich es eines schönen Feierabends doch mitnahm. Sofort begann ich zu lesen – und erlebte einen literarischen Urknall. Wie selten zuvor mutierte ich zum Klischee eines „Büchermenschen“, den Roger Willemsen mal beschrieben hat als jemand, der „im Stehen, Sitzen, Liegen liest, der seine Brut vernachlässigt, seine Haltestelle verpasst, der innerlich überbevölkert lebt“. In der ersten Person Plural verbindet die 1940 geborene und in der Normandie aufgewachsene Ernaux in Die Jahre ihr Leben als Arbeiterkind mit der Zeitgeschichte und erzeugt einen steckerziehenden Beitrag zum kollektiven Gedächtnis ihrer Generation. Was für ein Buch!

Ich wollte mehr. Brauchte mehr. Mehr feministische Klassenliteratur, mehr politische Erinnerungskunst, mehr Annie Ernaux. Glücklicherweise ging es vielen so. Umso besser, dass Suhrkamp ankündigte, ihr Werk neu übersetzt zu veröffentlichen. Es folgten Erinnerung eines Mädchens (2018), Der PlatzEine Frau (beide 2019), Die Scham (2020), Das Ereignis (2021) und in diesen Tagen Das andere Mädchen. Je tiefer ich in diesen Kosmos eintauchte, umso bewundernswerter fand ich nicht nur, dass da eine Autorin über die Arbeiterklasse schreibt, sondern auch, wie sie schreibt. Ihr Verfahren charakterisiert sie so: „Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht spannend oder berührend schreiben wollen.“ Das entpuppt sich als literarischer Trick; denn diese Nüchternheit ist es, die beim Lesen fesselt und berührt.

Mit jedem Werk seziert Ernaux einen Aspekt ihrer Biografie. Sie ist eine „Ethnologin ihrer selbst“, wie sie sich einmal bezeichnete. In Der Platz (1984) schildert sie das Leben ihres Vaters, in dessen Körper sich die Spuren seiner sozialen Stellung eingebrannt haben. In Eine Frau (1987) porträtiert Ernaux ihre Mutter, die sich immer die Hände wusch, ehe sie ein Buch anfasste. In ihren anderen Büchern konfrontiert Ernaux das Publikum mit Traumata wie einer Vergewaltigung, einem Schwangerschaftsabbruch oder der posthumen Begegnung mit der älteren Schwester. Der Stil ist auf das Nötigste beschränkt. Dadurch entstehen Sätze, die verborgene Wahrheiten aufdecken: „Beim Sprechen immer vorsichtig sein, unsagbare Angst vor dem falschen Wort, was genauso schlimm wäre wie in der Öffentlichkeit einen fahren lassen“, oder: „Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.“

Nun ist mein Schulfranzösisch leider miserabel, was mich auf die deutschen Fassungen zurückwarf. Im Internet sah ich, dass die bei uns lange Zeit vergriffenen Bücher von Ernaux auf Deutsch in den achtziger Jahren unter dem Label „Frauenliteratur“ vertrieben wurden. Heute, da ich einen guten Teil ihres Werkes dank der Übersetzungsarbeit von Sonja Finck (siehe auch der Freitag 46/2017) kenne, sagt dieser Umstand für mich viel aus über die Ignoranz der Klassenfrage. Wer – wie Ernaux – nicht nur voller Empathie und mit einer feministischen Haltung über Armut schreibt, sondern das auch noch in einer zugänglichen Sprache tut, schafft es nicht ins Feuilleton. Oder besser: schaffte es nicht dorthin. Denn inzwischen hat sich etwas getan.

Der Literaturbetrieb mag kein Markt wie jeder andere sein. Doch bleibt er ein Markt. Wer oder was bei den Verkaufszahlen dauerhaft schwächelt, erhält eher früher als später keinen neuen Buchvertrag. Seit Eribons erwähntes Memoir 2016 ein Überraschungserfolg geworden war, steht die Tür endlich wieder offen zu jenen „ungelüfteten Stuben“, als deren literarischer Erforscher sich der Schriftsteller Hans Fallada einmal bezeichnet hat. Seitdem sehen Verlage, Redaktionen und Agenturen genauer hin, wenn es um die soziale Klasse geht. Gäbe es Vorbilder wie Ernaux nicht, wäre auch mein Memoir Ein Mann seiner Klasse weder geschrieben noch publiziert worden.

Literatur über „die da unten“

Der Sprachstil und das Verfahren im Werk der Annie Ernaux unterscheiden sich von meiner Herangehensweise. Sie schreibt, wie sie selbst einmal sagte, „im Imparfait, in einer fortgeschrittenen Vergangenheit, die die Gegenwart verschlingt“. Ich bevorzuge die unmittelbare Nähe. Doch war Ernaux mir die wichtigste Inspirationsquelle. Weil ihre Bücher zeigen, dass es in Ordnung ist, „Ich“ zu sagen. Weil Ernaux beweist, dass in der Literatur meist jene Geschichten am besten sind, die man einander nicht bei einem netten Abendessen berichten würde. Weil sie demonstriert, wie wichtig die Parteinahme für diejenigen ist, die unsichtbar gemacht werden.

Das setzt sich fort, wenn sie als Intellektuelle auftritt. Derzeit wird skandalisiert, dass Ernaux mehrere Briefe mitgezeichnet hat, die von der Boykott-Kampagne BDS initiiert wurden. Sie bezeichnete Israel als „Apartheidsstaat“. Das mag aus deutscher Sicht überzogen klingen, fügt sich aber ein in ihre Perspektive als Stimme der Unterdrückten. Dass Ernaux sich nicht im selben Maße gegen Islamismus einsetzt, ist bedauerlich, aber auch seit Jahren bekannt. Nun tun die Feuilletonmenschen so, als hätten sie es gerade erst entdeckt. Das nährt den Verdacht, es komme ihnen gerade recht, nicht weiter über das zentrale Thema der Autorin reden zu müssen: die Soziale Frage, die sich nun einmal nicht in wohlfeilen Debatten um eine Diskriminierungsform namens Klassismus erschöpft.

Wer mehr Literatur von und über „die da unten“ verlangt, aber sofort in Schnappatmung gerät, wenn die Haltung einer Autorin wie Annie Ernaux nicht exakt in das Gesinnungsbild des linksliberalen Gutbürgertums passt, erscheint unglaubwürdig. Während Wohlstandskinder mit einem Urvertrauen in die parlamentarische Demokratie auf einen linken Populisten wie Jean-Luc Mélenchon mit Abscheu blicken, kann das Arbeiterkind Annie Ernaux die kontroversen Seiten eines solchen Politikers als Teil einer Strategie erkennen, den Stummgeschalteten mitten im autoritären Kapitalismus endlich Gehör zu verschaffen.

Im Interview mit der Zeit sprach Ernaux sich 2018 für die Unterstützung der Gelbwesten aus, die in den deutschen Medien mit allen Vorurteilen über „die bildungsferne Unterschicht“ bedacht werden. Unter anderem sagte Ernaux: „Ich finde es sehr einleuchtend, wenn die Gelbwesten sagen, ihr kümmert euch ums Ende der Welt, aber nicht ums Ende des Monats, an dem uns das Geld ausgeht.“ Zu militanten Aktionen auf den Champs-Élysées sagte sie, dort werde kein Pullover unter 500 Euro angeboten: „Wenn man so lange nicht gehört wird, ist offensichtliche Gewalt vielleicht nicht gerade gerechtfertigt, aber verständlich.“

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux ist also nicht nur eine Würdigung einer der größten Gegenwartsautorinnen in Europa. Es ist auch eine Auszeichnung für die Arbeiterklasse. Die Begründung der Schwedischen Akademie lässt daran keinen Zweifel: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt.“ Dieses Lob für eine meiner literarischen Hausgöttinnen ermutigt auch mich, weiterzumachen mit dem Schreiben, literarisch „unten“ und politisch kontrovers zu bleiben. Ganz im Sinne einer Annie Ernaux, deren literarischen Rang ich nie erreichen kann, der nachzueifern aber wichtig bleibt.

Dieser Text ist zuerst in der Wochenzeitung der Freitag erschienen.