Einzigartiger Fall der Fälle
Christian Morgensterns Gedicht „Der Werwolf“
Von Wolfgang Werth
Der Werwolf
Ein Werwolf eines Nachts entwich
von Weib und Kind und sich begab
an eines Dorfschullehrers Grab
und bat ihn: Bitte, beuge mich!
Der Dorfschulmeister stieg hinauf
auf seines Blechschilds Messingknauf
und sprach zum Wolf, der seine Pfoten
geduldig kreuzte vor dem Toten:
„Der Werwolf“ – sprach der gute Mann,
„des Weswolfs, Genitiv sodann,
dem Wemwolf, Dativ, wie man’s nennt,
den Wenwolf, – damit hat’s ein End.“
Dem Werwolf schmeichelten die Fälle,
er rollte seine Augenbälle.
Indessen, bat er, füge doch
zur Einzahl auch die Mehrzahl noch!
Der Dorfschulmeister aber mußte
gestehn, daß er von ihr nichts wußte.
Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar,
doch „Wer“ gäb’s nur im Singular.
Der Wolf erhob sich tränenblind –
er hatte ja doch Weib und Kind!!
Doch da er kein Gelehrter eben,
so schied er dankend und ergeben.
Beiwerkchen nannte der meist sehr ernsthafte Dichter seine poetischen Purzelbäume. Daß sie „ein bißchen geistige Leichtigkeit, Heiterkeit, Freiheit verbreiten, die Phantasie beleben, nur ein bißchen von der im Posthorn gefrorenen Musik der Seele wieder auftauen“ – derlei wünschte er sich von diesen Versen. Und sie tun es – zum Wohl immer neu nachwachsender Lesergenerationen und zum Neid geistreichelnder Nachahmer, denen das Geisterreich verschlossen bleibt, zu dem sich Christian Morgenstern scheinbar mühelos auf immer wieder anderen Wegen Zutritt verschaffte. Selbst einen bloß ulkigen Einfall, sogar ein eher albernes Wort-Spiel wußte er ins Wundersame und Wesentliche zu wenden. So auch den einzigartigen Fall der Fälle, den er unter dem Titel „Der Werwolf“ abgehandelt hat.
Als habe er die Arbeit seines Zeitgenossen Ferdinand de Saussure, des Genfer Sprachtheoretikers und Ahnherrn der Strukturalisten, vergnügt zur Kenntnis genommen, treibt der Dichter da ein Vexierspiel mit signifiant (dem Bezeichnenden) und signifié (dem Bezeichneten). Es geschieht in einem „Gruselett“, einem dem finsteren Titelhelden und dem heiteren Einfall gleicherweise angemessenen Schauerscherzo.
Vierfüßig kommen die jambischen Verse des balladesken Erzähl- und Dialoggedichts daher – vierfüßig wie der Werwolf selber. Und daß sie paarweise gereimt sind: Paßt es nicht zu dessen zwiespältig-zweieinigem Wesen? Tagsüber ist er ein unbescholtener Mann, nachts wird er – ob er will oder nicht – zur mörderischen Bestie in Wolfsgestalt. So jedenfalls wußte es der Volksglaube, der in Deutschland mit den Wölfen ausstarb.
Morgensterns Exemplar führt das Tagleben eines fürsorglichen Ehemannes und Vaters. Von seinem nächtlichen Treiben haben die Lieben daheim offenbar keine Ahnung. Denn wenn die Wolfsnatur über den Mann kommt, entweicht er von Weib und Kind, stiehlt sich also heimlich davon. Doch anders als herkömmliche Werwölfe bleibt das Un-Tier von Morgensterns Gnaden auch im Wolfsfell Mensch. Nicht mit üblem Vorsatz begibt es sich zum Gruselort Friedhof. Eine Art Heilsverlangen treibt diesen wohlgesitteten Werwolf, den Dorfschullehrer aus der Grabesruhe aufzuwecken. Geradezu demütig tut er sein verblüffendes Begehren kund: „Bitte beuge mich!“
Wäre der tote Pauker ein Pedant, er würde den Bittsteller erst einmal barsch zurechtweisen: „Drück dich gefälligst korrekt aus! Dich kann ich nicht beugen, wohl aber das Wort, mit dem man so einen wie dich bezeichnet. Es handelt sich um ein zusammengesetztes Hauptwort, bestehend aus dem Grundwort Wolf und dem Bestimmungswort Wer, das im Mittelhochdeutschen Mann bedeutet. Gebeugt wird nur das Grundwort. Also: Der Werwolf, des Werwolfs, dem Werwolf, den Werwolf. Das wär’s.“ Wäre es das – es wäre witzlos.
Doch der Werwolf ist genau an den Richtigen geraten: An einen guten Geist nämlich, der es besser weiß – einen Geist vom Geiste Morgensterns. Er beugt beide Wortteile, und „Wer“ beugt er wie das Fragefürwort, das seiner Form nach ebenfalls männlich ist. Zweifach verstößt er gegen die grammatische Regel, doch wer könnte bezweifeln, daß sein „biologischer Ansatz“ der zwiespältigen Natur des Werwolfs gerecht wird.
Sehr augenfällig zeigt sich der so Unterrichtete von den Fällen geschmeichelt. Den Eindruck eines Gebeugten macht er jedoch nicht. Wie denn auch: Im wörtlichen Sinn ist seine Bitte unerfüllt geblieben. Erst als er „die Mehrzahl noch“ verlangt, widerfährt ihm, was er eingangs, ohne es eigentlich zu wollen, erbeten hatte. Jetzt wird er gebeugt. Der Schulmeister beugt ihn, den zu singulärem Dasein verdammten Wenwolf, unter den bitteren Bescheid, daß es den Plural nicht gibt, in dem er sich mit Weib und Kind (die ja gar keine Werwölfe sind) vereint zu sehen wünscht. „Tränenblind“ – deutlicher, als er es selber sagen könnte, sagt dieses Wort, wie sehr der Arme leidet. Und doch vergißt er nicht, sich „dankend und ergeben“ zu verabschieden.
Ein überaus anschauliches nächtliches Rührstück, aus nichts als Wörtern gemacht. Der Werwolf und der tote Schulmeister: Sie sind ebenso „nichtexistent im Eigen-Sinn bürgerlicher Konvention“ wie das Nasobém, der Glockenwurm und all die anderen Wortwesen, die aus der „Leier“ des Christian Morgenstern „ans Licht“ getreten sind – so, als wären sie vorher schon dagewesen, unerkannt, in der Sprache verborgen. In der Sprache, die für diesen Dichter und Menschen das Medium war, durch das andere Welten sich mitteilen und wirksam werden können. Nicht nur die Welt der Phantasie. Auch die des Okkulten, des Übersinnlichen. Das erklärt wohl auch, warum sich der „Nonsense“-Dichter in seinen letzten Jahren Rudolf Steiners „Erkenntnissen der höheren Welten“ öffnete. Morgenstern brauchte keine stichhaltigen Beweise für deren Existenz. Er glaubte seinem „Guru“ aufs Wort.
Hinweise der Redaktion
Das Gedicht Morgensterns wurde in dieser Fassung unter anderem abgedruckt in Christian Morgenstern: Sphinx-Geburten. Gedichte. Ausgewählt von Vera Hauschild. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1999. Die Interpretation von Wolfgang Werth ist zuerst am 14. Oktober 2000 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Rahmen der von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Reihe „Frankfurter Anthologie“ erschienen und danach u.a. in: Frankfurter Anthologie. Vierundzwanzigster Band. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. S. 91-95. Wir danken Wolfgang Werth für die Genehmigung zur erneuten Veröffentlichung, um die wir ihn an seinem 80. Geburtstag im November 2017 gebeten haben. Wolfgang Werth erhielt für seine Beiträge zur „Frankfurter Anthologie“ im Jahr 2000 den „Preis der Frankfurter Anthologie“.
Die erneute Veröffentlichung gehört zu der Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.