Eure Obsessionen, meine Zauberdinge, unsere Wertskandale

Johannes Endres Reader sammelt Fetischismustheorien vom 18. bis zum 21. Jahrhundert

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Menschen leben und umgeben sich mit Dingen, Pflanzen und Tieren seit der Menschwerdung, die mit Objektmanipulation einherging. Lange schon werden unsere Vorfahren ausgewählten Objekten eine besondere Bedeutung beigelegt, einen Nutzen zugemessen und gewissen Lieblingssachen vielleicht auch ein Eigenleben, eine Art von Handlungsmacht zugestanden haben. Seit dem 18. Jahrhundert jedoch gibt es darüber hinaus europäische Gelehrte, die Theorien entwickelten, welche den Umgang mit Dingen kritisch, theoretisierend und verurteilend beobachten: Fetischismustheorien. Im Kern drehen sich diese Konzeptionen des Fetischismus um einen beobachteten, durchschauten und kritisierten ‚Wertskandal‘ (so Hartmut Böhme): Ein jeweils Anderer schreibt einem Fetisch-Objekt irrtümlich einen hohen Wert und eine starke Wirkmacht zu, die ihm doch nur projektiv, nicht realiter zukomme.

Johannes Endres legt nun in seiner so knapp wie hilfreich kommentierten Edition Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart dar, wie viele wichtige Modernisierungstheorien, von Charles de Brosses Vernunfttheologie über Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Auguste Comte, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud bis hin zu Jean Baudrillard, Bruno Latour und postkolonialen Theoretikern wie Homi Bhabha mit diesem kritischen Konzept einer fälschlichen Bedeutungs- und Wertzuschreibung operierten. Fetischismustheorien waren zudem fundamentale Bausteine bei der Genese moderner Humanwissenschaften. Sie sind Teil der Fachgeschichten von Ethnologie, Religionswissenschaft und Soziologie. Sie waren wichtige Erklärungsansätze im Rahmen der (marxistischen) Wirtschafts- und Kunstwissenschaften, schließlich auch der Gender Studies, der Postcolonial Studies und der Kulturwissenschaften. Böse pointiert und überspitzt formuliert könnte man sagen: Eine eigene Fetischismustheorie ist ein womöglich unabdingbarer Fetisch für kritische Besserwisser. Doch lohnt – gerade im Kontext der seit geraumer Zeit anschwellenden Welle einer kulturwissenschaftlichen Ding-Forschung – die Auseinandersetzung mit den diversen Fetischtheorien, die Endres nun handlich verfügbar macht.

Am Anfang steht de Brosses Analyse der Fetischpraktiken als religiöse oder parareligiöse Handlungen. Seine Perspektive einer aufklärerisch religionskritischen Beobachtung und Theoriebildung ermöglichte die weite Verbreitung und Ausdehnung des Begriffsfelds; zuerst als transkulturelles Konzept, das die fremden Gesellschaften als fetischistische durchschaut. Mit der industriell generierten Explosion der Dingwelt im 19. Jahrhundert wurde Fetischismus vom interkulturellen Begriff zum intrakulturellen Analyse- und Kritikmodell. Enders Anthologie macht dies nachvollziehbar, indem sie zeigt, wie der Fetischbegriff ansatzweise schon in Kants Kritik dogmatischer Religionspraktiken, dann in Marx’ Verdikt gegen kapitalistische Warenwirtschaft und schließlich in Freuds Sexualtheorie irritierendes, abweichendes Verhalten von Menschen der eigenen Kultur enthüllt und denunziert.

Zwar erklärt Marcel Mauss 1907 die Fetischismustheorie für tot: denn sie sei nichts als das „Mißverständnis zwischen zwei Zivilisationen, der afrikanischen und der europäischen; sie gründet auf nichts anderem als auf einem blinden Gehorsam gegenüber den kolonialen Gepflogenheiten, den fränkischen Sprachen der Europäer der Westküste“ – womit er wohl den portugiesischen Wortursprung der Kolonisatoren des 17. Jahrhunderts meint. Feitiço bedeutete: Amulett, Zauber, künstlich, falsch, gemacht, nach dem lateinischen facticius. Doch verbreitete sich die grundlegende Denkfigur der Fetischismustheorien (Deinen Fetisch durchschaue ich kritisch als einen Wertskandal) seither via kritischer Theorie und Kulturwissenschaften verschiedener Couleur fröhlich weiter.

Endres gliedert seine auf gut 450 Seiten ausgebreiteten Theorie-Funde in sechs Kapitel, die jeweils drei bis fünf wichtige Aufsätze oder Buchauszüge enthalten, wobei durchaus überraschende Autorenzusammenstellungen generiert werde: Nach „Ethnographie und Anthropologie“ (hier folgen Nietzsche und Wilhelm Wundt auf de Brosses) geht es über „Religionsphilosophie und Religionsgeschichte“ zu „Gesellschaftstheorie und Warenökonomie“, hier finden sich Marx, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Das Kapitel „Psychoanalyse und Gender-Theorie“ konfrontiert die Diskursgründer des 19. Jahrhunderts Richard von Krafft-Ebing und Freud mit den Einsprüchen der Gender-Theoretikerinnen des 21. Jahrhunderts Julika Funk und Elfi Bettinger. Unter „Ästhetik und Semiotik“ kommt Freuds bekannte Gradiva-Deutung zum Abdruck zwischen Texten von Novalis, Gilles Deleuze und Baudrillard. Das gute, selbstreflexive Ende versammelt die Texte von Jean Pouillon, Bhabha, Latour und Böhme, unter der Überschrift „Epistemologie und Diskursgeschichte“. Dieser historisierende Ansatz entspricht gewiss auch der Perspektive Endres, der damit den von Jean-Bertrand Pontalis 1972 auch bei Suhrkamp auf deutsch publizierten Fetischismus-Reader Objekte des Fetischismus fortschreibt und überbietet.

Gerade im Überfluss der Dinge werden manche Objekte zu besonderen. Endres Theorien-Reader macht nun klar, dass seit 250 Jahren, seit die industrielle Revolution die Massenproduktion von Waren technisch ermöglichte und vereinfachte, nicht nur Dinge in hoher Zahl produziert wurden, auch Überlegungen über das Wesen der Dinge und den Umgang mit ihnen florierten seither. Die Vielfalt der Fetischismustheorien wird bei Endres gerade in ihrer Zusammenschau lesbar als so varianten- wie geistreiche Verdächtigung des falschen Umgangs mit Dingen. Denn mit Distanz betrachtet sieht man schließlich, dass der Fetisch der anderen womöglich kaum anders funktioniert als die ganz eigenen Obsessionen, etwa unsere Fixierung auf bestimmte Dinge, unser Begehren nach spezifischen Objekten. Mein Lieblingsding (Handy, Auto, Parfum) funktioniert Deinem Fetisch (Lack, Leder oder Computerspiel) mithin weitgehend analog. 

Jeder Fetisch funktioniert gemäß einem Transferprotokoll; Robert Stoller durchschaute den Fetisch als „eine Geschichte, die sich als Gegenstand maskiert“. Im Anschluss an Stollers theoriegeschichtlich eher späte Einsicht könnte man die These aufstellen, dass von den Beschreibungen fetischistischer Praktiken bis zu theoretischen Erklärungen des Fetischismus, die meist als psycho- oder ontogenetische Entwicklungsgeschichten dieser Wert- und Agency-Illusionen auftreten, der Diskurs über Fetische und Fetischismus weitgehend aus Narrationen besteht.

Im 18. Jahrhundert ließ das Grundmuster der Fetischnarrative einen europäischen Beobachter die irrigen, dingverhafteten, emotionsgetriebenen Wertzuschreibungen der Fetischdienste und Fetischängste fremder Völker als eine niedrige Stufe dieser noch nicht zu Abstraktion und Monotheismus gelangten Primitiven durchschauen. Im 19. Jahrhundert wendete Marx (erstmals 1842 in einem Beitrag für die Rheinische Zeitung) den fetischismuskritischen Blick zurück aufs eigene Volk und denunzierte etwa die Vorliebe der Rheinländer fürs Holz sowie die Obsession der Europäer fürs Gold als fetischistische Praktiken, bevor er (epochemachend 1867 in Das Kapital im Fetischismuskapitel) die Verkennung gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und sozialer Wertstiftung im heimischen Kult um Warenfetische decouvrierte. Auch Freuds psychoanalytische Erzählung von der Bedeutung und Genese des sexuellen Fetischismus verortet die Verkehrung begehrter Sexualziele nicht mehr in der Fremde, bei den „Primitiven“, sondern in der eigenen Gesellschaft; hier freilich bei gewissermaßen nicht voll entwickelten Persönlichkeiten, die ihre Kastrationsangst und die Anerkennung sexueller Differenz nicht bewältigt haben und deswegen auf Fetische statt Genitalien fixiert sind.

Allemal also beruht die Kategorisierung der Fetische als solcher, ebenso wie die Deutung dieser verdrehten Objektbeziehungen, auf Narrativen. Hinzu kommt die Rahmung dieser einzelnen Fetischgeschichten in eine größere Theorieerzählung „normaler“ Religions-, Gesellschafts-, oder Individualentwicklung (die in Endres Textausschnitten wohl nicht immer nachvollziehbar wird): vom magischen, emotionalen Fetischdienst zum aufgeklärten, rationalen, selbstbewussten Umgang mit den Dingen. Letztlich operieren auch noch die selbstreflexiven wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen (etwa von Latour oder Böhme) in weiten Teilen narrativ. Ihr Narrativ lautet in etwa so: Ein gleichsam polymorph-perverser Fetisch-Kult für alle möglichen Dinge, die animistische Zuschreibung von Agency an Objekte könnte doch alltäglicher, unproblematischer und zudem politisch oder zivilisatorisch harmloser sein, als es die vermeintlich so aufgeklärten (anti-fetischistischen) Monotheismen oder Rationalismen und die klaren Subjekt-Objekt-Trennungen vorschreiben wollten.

Auf der Basis der von Endres umsichtig zusammengetragenen Theorietexte lässt sich nun diskursgeschichtlich analysieren, welche Sujetfügungen und welche erzählerischen Mittel die Theorien des Fetischismus jeweils einsetzen. Wer sieht was, wer sagt was, wer tut was und wer weiß was? Welche Emotionen werden den Fetischisten zugeschrieben und welche Emotionalisierungsstrategien verwendet wiederum das theoretische Narrativ? Dieser wertvolle Sammelband ist mithin ein neuer Super-Fetisch für Ding- und Kulturtheoretiker, denn er ermöglicht einen Überblick sowie Analysen zu historischen und heutigen Theorien über korrekte oder pathologische Objektbeziehungen. Den Horizont solcher Streifzüge durchs historische Diskursgeflecht der Zauberdinge markieren Probleme unserer Konsumgesellschaft: Fragen der Konsumethik, des ökologischen Umgangs mit Dingen und der natürlichen Umwelt sowie der Beziehungen der eigenen Gesellschaft zu anderen Gesellschaften.

Im Hinblick auf den Fetischismus der eigenen Konsumgesellschaft lassen sich angelehnt an die hier versammelten Theorietexte Zeichenpraktiken und Narrationen des Marketings und der Werbung analysieren. Denn gerade diese erzählen permanent Geschichten von Waren-Dingen und von Menschen, die Dingen agency zuschreiben. Diese heute in ihrer Wirkmacht kaum zu überschätzenden Dingagenturen drohen bei falschem Umgang mit den Dingen mit Unglück, und sie versprechen bei richtigem Kauf- und Dingverhalten Glück, Stolz und Liebe. Wolfgang Ullrichs kunsthistorische wie konsumanalytischen Essays und Studien weisen seit geraumer Zeit in diese Richtung.

Endres Textsammlung ist zweifellos sehr geeignet für wissenschaftsgeschichtlich fundierte Seminarprogramme in vielen Sozial-, Kultur- oder Humanwissenschaften. Beim weiterdenkenden Studium der einzelnen Texte könnte man etwa folgende Fragen verfolgen, um die historische Verortung und kulturelle Projektionsarbeit der stets aufklärerisch gemeinten und stets mit eigenen blinden Flecken ausgestatten Fetischismustheoretiker zu befragen: Wer weiß und wer spricht im jeweiligen Fetischismusnarrativ? Welche Ursprungsgeschichten und welche Entwicklungsplots verwenden Fetischismustheorien? Welche Emotionen und Empathien werden den Fetischisten zugeschrieben, welche dem Fetischtheoretiker? Welche Gegenbegriffe zum Fetisch werden aufgeführt und wie funktioniert das implizierte aufgeklärte Gegenmodell zum Fetischismus? Welche Institutionen und Institutionsnarrative (zum Beispiel Riten, Priester, Organisationen) stützen den Fetischismus?

Eine letzte der vielen sich beim Lesen dieser ungemein anregenden Textsammlung aufdrängenden, akuten und aktualisierenden Fragen lautet: Kann man Nationalismus an sich oder zumindest Programme wie Buy American als Fetischismus begreifen? Und nach welchen Regeln des projektiven Dingumgangs operiert diese magische Auf- und Überbewertung des eigenen Landes, der eigenen Bräuche und Produkte? Nicht allzu viele Theorie-Bücher geben einem so viel zu denken und provozieren so viele Fragen an unsere Gegenwart. Endres hat eine prächtige, anregende Beute eingebracht beim Jagen und Sammeln von Fetischtheorien aus vier Jahrhunderten.

Titelbild

Johannes Endres (Hg.): Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
478 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518297612

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