Kind und/oder Karriere

Anna Enquist geht im Roman „Die Seilspringerin“ dieser für manche Frau existenziellen Frage nach

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für viele Frauen in westlichen Ländern ist es die Frage schlechthin geworden: Wie kann ich Berufskarriere und Mutterschaft vereinbaren? Will ich mich auf einen langjährigen Kampf einlassen, beide Rollen zu vereinbaren, oder muss ich mich für eine von beiden entscheiden? Und wenn Letzteres der Fall ist, für welche entscheide ich mich? Alice Augustus in Anna Enquists neuestem Roman Die Seilspringerin verspürt seit Längerem den großen Wunsch nach einem Kind. Und sie ist bereit, einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Sie fährt regelmäßig ins Krankenhaus, nachdem sie und ihr Mann Mark sich für das „Fertilitätsprozedere“ entschieden haben. Mit allen Zweifeln, die damit einhergehen. Doch ihr Ei lässt sich nicht befruchten von seinem Samen – jeder neue Versuch schlägt wieder fehl. Der Druck auf das Paar, aber vor allem auf sie, wächst monatlich. Alice fühlt sich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Mutter zu werden, und dem Drang, ihren Weg als berühmte und über die Niederlanden hinaus bekannte Komponistin fortzusetzen. Früh schon ist man in Musikerkreisen auf die junge begabte Frau gestoßen, ihre ersten Werke erregten in Fachkreisen Aufmerksamkeit, ja Bewunderung, sie wurde gefördert und lebte auf in dieser Welt. Zum vorläufigen Höhepunkt wird die Anfrage des Königlichen Symphonieorchesters Amsterdam, zu dessen hundertjährigem Jubiläum ein Werk zu komponieren. Wenn da nur nicht dieser immer lauter werdende Kinderwunsch wäre, könnte Alice glücklich sein.

Die Frage treibt sie um und führt sie zurück in die Kindheit mit Eltern, die sie nie geliebt haben dürften – so ist ihre Erinnerung –, zurück in die Zeit ihrer Ausbildung am Konservatorium, wo sie schon früh Anerkennung und Wertschätzung erfuhr. Dass die Eltern kein Verständnis für die Entscheidung ihrer Tochter, Musikerin zu werden, aufbringen konnten, beschäftigt sie bis in die Gegenwart. Die Beziehung zum vierzig Jahre älteren Dozenten und Musiker Duk van Dijk taucht aus der Tiefe auf, wie wenn es erst gestern gewesen wäre. Neu sind aber die Erinnerungen an die Schwangerschaft von damals, die große Freude auf das Kind und die sie zutiefst verletzende Entscheidung Duks, sie zu verlassen – weil er nicht wollte, dass sie an ihn gebunden bliebe. „Du hast ein Leben vor dir. Ich bin ein alter Mann, ich werde dich am Boden halten, während du eigentlich ausfliegen müsstest.“ Alice versuchte, seiner Überzeugung, er sei ein Klotz an ihrem Bein, zu widersprechen, doch es nützte nichts.

Es ist das erste Mal, dass sich Alice an diese frühe Schwangerschaft erinnert – sie war damals 25-jährig und verlor das Kind bald nach der Trennung. Auf die Frage, ob sie je schwanger gewesen sei, die einer der verschiedenen Fortpflanzungsärzte zu Beginn der Behandlung gestellt hatte, hatte sie damals mit Nein geantwortet. Es war eine ehrliche Antwort. Nun jedoch, gut zehn Jahre später und nach den erfolglosen Bemühungen, schwanger zu werden, stellt sie sich ihrer Geschichte, holt längst Verborgenes wieder hervor und sucht nach der Möglichkeit, das Unmögliche doch noch zu verwirklichen, nämlich Mutter und berühmte Komponistin zu sein. Am Ende des Romans stehen die Zeichen dafür gut.

Anna Enquist gehört zu den bedeutendsten niederländischen Autor:innen. Sie hat zahlreiche Romane geschrieben, in denen die Musik eine zentrale Rolle spielt. So auch in diesem vorläufig letzten, der im Original 2021 erschien, unter dem Titel Sloop, auf Deutsch „Abriss“. Denn die Zerstörung eines Hauses durch eine Abrisskugel spielt eine entscheidende Rolle: Auf dessen Hausmauer ist ein Mädchen, das seilspringt. Und zwar handelt es sich dabei um eine Bildhauerarbeit, nicht um ein aufgemaltes Bild. Die Zerstörung des Mädchens schildert Enquist gleich zu Beginn: „Dann stößt die Kugel mit Wucht gegen die rechte Schulter des Kindes. […] Kopf, Hände, das einen Bogen beschreibende Springseil. Das Mädchen ist wehrlos. Sie lässt sich angaffen und abreißen.“ Alice bleibt „wie versteinert am Computer sitzen. Ich könnte das mit Musik untermalen, denkt sie.“ Dass und wie sie es tun wird, erfahren die Leser:innen im Laufe des Romans. Die Seilspringerin wird auf diesem Hintergrund mehr als eine Geschichte einer Frau, die ein Kind will und nicht schwanger wird. Viel wichtiger wird die Frage, wie die Komponistin Alice Augustus ihren ganz eigenen Platz als Komponistin findet und dabei einzig ihren Überzeugungen und ihren Gefühlen folgt – und ihrem Vorbild, Mentor und Kollegen Joseph Haydn, der sie, ohne sich einzumischen, auf ihrem Weg begleitet. 

Titelbild

Anna Enquist: Die Seilspringerin. Roman.
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers.
Luchterhand Literaturverlag, München 2024.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877228

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