Das Rendezvous zwischen Enzyklopädie und Romanpoetik

Der Wolfenbütteler Tagungsband von Mathias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle versammelt mannigfaltige Perspektiven des ‚enzyklopädischen Erzählens‘ in vormodernen Fallbeispielen

Von Salvatore MartinelliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Salvatore Martinelli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Tagungsband ist das Resultat der Tagung einer internationalen Forschungsgruppe vom 14. bis 16. Oktober 2015 an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel. Er umfasst 23 Beiträge, eingebettet in fünf thematische Blöcke, die speziell Phänomene der narrativen Integration von enzyklopädischem Wissen thematisieren, wobei sich der untersuchte Zeitraum von 1400 bis 1700 erstreckt. Erklärtes Ziel des Bandes ist es, festzustellen, inwieweit ‚enzyklopädisches Erzählen‘ für Romanpoetik bedeutsam erscheint, darüber die strukturelle Spannung zwischen Listenförmigkeit sowie Systematizität auszuloten und die Integration respektive Übertragung in die Genrestruktur zu ergründen.

Die Herausgeber Mathias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle skizzieren eingangs die Bedeutung von Enzyklopädie und Romanpoetik dahingehend, dass beide Weltbilder konstituieren, sich jedoch in ihrem Wesen unterscheiden: Romane sind perspektivisch und ‚fiktional‘, Enzyklopädien sind aperspektivisch und ‚historisch‘. Anschließend erörtern sie den Tagungs- und Bandtitel und verweisen auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Adjektiv ‚enzyklopädisch‘ sowie dem substantivierten Verb ‚Erzählen‘ als zentrale Analysekategorien. Beide Begriffe unterscheiden sich, weisen jedoch auch Übereinstimmungen auf, welche Sammeln, Thesaurieren und Auflistung beinhalten. Ihre Schlussfolgerung ist, dass enzyklopädische Romane Wissen adaptieren, de- und rekontextualisieren und ihm neue Ordnung sowie Funktion innerhalb der Erzählung verleihen. Ausgehend von diesem Ansatz bestimmen sie ‚enzyklopädisches Erzählen‘ als „Form des Erzählens, die gelehrtes Wissen mit systematischer Tendenz integriert und diskursiviert“.

Der erste Schwerpunkt behandelt die Fragen, inwieweit ‚enzyklopädisches Erzählen‘ methodisch und theoretisch zu verstehen ist und wie Erscheinungsformen identifizierbar sowie auf makroepochaler Ebene unterscheidbar sind. In seinem Beitrag nimmt Jan-Dirk Müller eine Auseinandersetzung mit ‚enzyklopädischem Erzählen‘ vor, wobei konzeptionelle Aspekte, Typisierung sowie die Abgrenzung von Romanen im Mittelpunkt stehen. Seine Analyse des Faustbuches enthüllt einen Gegentypus, der keineswegs zur Wissensvermittlung, sondern zur Abschreckung des Rezipienten dient. Methodologisch-konzeptionell definiert Benjamin Gittel Ansätze fiktionaler und historischer Forschungsfragen. Er entwirft einen anachronistischen Ansatz ausgehend von zwei Fallstudien: Geschichtklitterung und Fortunatus. Diese repräsentieren gemeinsam eine frühneuzeitliche Praxis der Fiktionalität sui generis, bei der die No-Assertion view (scheinbar) keine Anwendung findet. Ausgehend von fünf Thesen widmet sich Christopher D. Johnson dem theoretischen Teilbereich des ‚enzyklopädischen Erzählens‘, indem er Perspektiven der Gattungsvielfalt, beispielsweise beim Atlas, Theatrum oder Roman, aufzeigt und Permeabilität sowie Abgrenzung diskutiert. Aus der Perspektive des Schriftstellers Joseph von Eichendorff untersucht Stephan Kraft das Genre des Barockromans anhand dessen Aussagen sowie Schriften, die im 19. Jahrhundert schrittweise einer rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung unterzogen wurden, einhergehend mit einer paradigmatischen Neuorganisation des Enzyklopädischen.

Das zweite Leitthema behandelt den Zeitraum des 15. Jahrhunderts. Tobias Bulang skizziert die umstrittenen Interpretationen des Romans Ring von Heinrich Wittenwiler, wobei die Verzahnung von Schwankmotiven und Wissensbereichen präzisiert wird. Er analysiert die narrative Rahmung mit dem Konzept der Textsortenrabulistik im Zusammenhang mit der Hybridisierung von Literaturgattung sowie dem Wissensdiskurs. Sebastian Speth befasst sich mit der Überlieferungsgeschichte diverser Fassungen des Herzog Ernst vom Mittelalter bis zur Neuzeit: Romanen, Prosa, Liedern etc., wobei Bezugsformen des ‚enzyklopädischen Erzählens‘ hinsichtlich Strategien (para-)erzählerischer Vermittlung identifiziert und untersucht werden. Im Zusammenhang der Übersetzung des französischen Textes Malagis ins Niederländisch-Deutsche widmet sich Bernd Bastert der Weiterentwicklung sowie Erweiterung des enzyklopädischen Wissens, indem er Passagen akzentuiert, die im Ausgangstext nicht vorhanden sind. Sannah Mattes erhellt die Wissensvermittlung in der Histori von dem grossen Alexander,die primär als Unterweisung im ‚richtigen Handeln‘ für vorbildliche Fürsten konzipiert ist – nicht nur politisch und religiös, sondern auch auf den Gebieten der Medizin sowie der Astrologie, was die Polyfunktionalität des Werks offenlegt. Schwerpunktmäßig konzentriert sich Christa Bertelsmeier-Kierst auf die deutsche Übersetzung der Feengeschichte Melusine durch Thüring von Ringoltingen, deren Faktualität durch Verflechtung enzyklopädischer, genealogischer und historisch-politischer Aspekte eine Aktualisierung des Wissens erfuhr.

Im nachfolgenden Abschnitt findet sich eine Auseinandersetzung mit dem Zeitraum des 16. Jahrhunderts. Prozesse des Wissenserwerbs bilden den Mittelpunkt von Marie-Sophie Masses Beitrag, der Tradierungen am Übergang zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit des Werkes lernung in Weiskunig eruiert und somit Charakteristika früher Prosaromane umreißt. Untersuchungsgegenstände Henrike Schwabs sind Funktionen der Bildwerke innerhalb der Amadis-Romanreihe sowie Verzahnung und Integration von Wissen in das Erzählschema. Gemeinsam entfalten sie ihre Kraft als Wissensinstrument, indem Erkenntnisse nicht nur gespeichert, sondern innerhalb der Überlieferungen auch aktualisierbar und erweiterbar sind. Dreh- und Angelpunkt des Beitrages von Elisabeth Wåghäll Nivre, der neue poetologische Forschungsergebnisse hervorbringt, bildet die Verwendung des Topoi ‚Stadt‘ als Analysemethode in Prosaromanen: Wenn Autoren über faktische Aufzählung sowie Nennung von Städtenamen hinausgehen und diese performativ belegen, erzeugen sie so neue Raumkonzepte. Ausgehend von der Übersetzungsgeschichte der Aithiopika vergleicht Stefan Seeber die deutsche Übersetzung Johannes Zschorns mit lateinischen, griechischen und französischen Paratexten. Ersichtlich wird, dass Zschorn im Sinne einer Komplexitätsreduktion des Originaltextes eine Mehrzahl enzyklopädisch-wissenschaftlicher Passagen tilgte. Michael Schilling befasst sich mit dem Genre der Tierepik anhand des Beispiels Rynke de vos – ein Bestseller, der mittels Methoden der Wissensrepräsentation (Referenzsysteme, Vorworte, Epiloge, Marginalien sowie Glossare) ein literarisches Gebilde durch gestaffelte Erzählebenen erzeugt. Grundanliegen von Matthias Dietrichs ist es, das Faustbuch in seinen Textebenen ‚intradiegetic‘, ‚extradiegetic‘ sowie ‚paradiegetic‘ zu diskutieren, die als Wechselspiel zwischen Inhalt und Form zum Ausdruck kommen, wobei sie Wissensinformationen hinterfragen und vermitteln.

Zwei Beiträge befassen sich mit den Übergängen vom 16. ins 17. Jahrhundert. Die Zentrifugal- und Zentripetalanordnung beleuchtet Sylvia Brockstieger anhand vier Romanbeispielen über Gartenspaziergänge. Zum einen im Sinne einer nach außen gerichteten Entwicklung, zum anderen auf der Basis vorgestellter Befunde und daraus resultierender poetologischer Selbstvergewisserung. Mit einem Textvergleich zwischen Faustbuch und Beschreibung der Stadt Amsterdam verfolgt Jörg Wesche die Frage nach dem Zusammenspiel zwischen enzyklopädischen und vaganten Bezügen in chronikalen Stadtbeschreibungen.

Abschließend wird das 17. Jahrhundert in den Blick genommen. Uwe Maximilian Korn untersucht, inwieweit sich ‚enzyklopädisches Erzählen‘ im Ordnungsmodell der Texte von Johan Valentins Komödie Turbo und Mora philologica excussata widerspiegelt, die sich strukturell voneinander abgrenzen, wobei Aspekte der Religiosität einen wichtigen Platz einnehmen. Im Sinne enzyklopädischer Schreib- und Erfindungsprozesse präsentiert Monika Schmitz-Emans das Werk Der Grosse Schau-Platz von Georg Philipp Harsdörffer, das eine Kombinatorik aufweist, die konstitutiv für das proto- und postsystematische Format der Sammlung ist. Im Hinblick auf enzyklopädische Narrationstechnik beschäftigt sich Maximilian Bergengruen mit dem Werk Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen sowie dessen Erkenntnisstruktur und der Adaption des Wissens an die Kontingenzen des menschlichen Lebens. Auf Basis der Menippeischen Satire setzt sich Simon Zeisberg mit dem ebenfalls durch von Grimmelshausen verfassten Wunderbarlichen Vogel-Nest auseinander. Er situiert epistemologische Skepsis als wissenschaftliches Ordnungsprinzip, während das satirische Weltwissen des Simplicissimus auf erkenntnistheoretischer Verunsicherung beruht. Anhand des Fiktionsverständnisses von Eberhard Werner Happel, einem der ersten deutschsprachigen Berufsschriftsteller, erforscht Nicolaus Detering die Poetik und Struktur des ‚enzyklopädischen Erzählens‘ unter Berücksichtigung der Polarität zwischen Tugend und Sachverstand sowie Unterhaltung und Nützlichkeit. Zur Analyse des Affektdiskurses im Arminius-Roman identifiziert Christoph Deupmann enzyklopädische Mechanismen, die den Roman paratextuell sowie in eigenständigen Kategorien erschließen, die im funktional-situativen Handlungskontext der Romanfiguren in das Konfliktfeld eingebettet sind.

Der Sammelband gewährt faszinierende Einblicke zum ‚enzyklopädischen Erzählen‘. Die Einzelstudien knüpfen aneinander an, vermitteln fundierte wissenschaftliche Erörterungen, erarbeiten methodische Ansätze sowie Überlegungen, die nicht nur auf die Romanpoetik, sondern auf verschiedenste Quellen übertragbar sind. Ein Namenregister vervollständigt das Werk und unterstützt den Leser bei seiner Recherche. Mitunter fehlt allerdings ein Resümee einzelner Beiträge, wodurch ein inhaltlicher Überblick erschwert wird. Dies setzt sich dahingehend fort, dass keine Abschlusszusammenfassung sämtlicher Beiträge existiert und somit die Gelegenheit versäumt wurde, die Quintessenz der gewonnenen Erkenntnisse herauszuarbeiten. Dennoch ist es empfehlenswert, den vorliegenden Sammelband konsequent von Anfang bis Ende durchzuarbeiten, um dieses faszinierende Themengebiet in all seiner Komplexität erforschen zu können.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Mathias Herweg / Johannes Klaus Kipf / Dirk Werle (Hg.): Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik (1400–1700).
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2019.
408 Seiten, 62,00 EUR.
ISBN-13: 9783447111843

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