Etwas, was man Leben nennen könnte

Zum Tod von František Listopad (1921–2017)

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Während des nationalsozialistischen Protektorats hatte František Listopad nur mit Mühe und Not überleben können. Freunde hatten ihn, der 1921 als Jiří Synek in einer Prager böhmisch-jüdischen Intellektuellenfamilie geboren wurde, im Untergrund versteckt. Mehrere Angehörige seiner Familie kamen im Konzentrationslager ums Leben.

Unmittelbar nach Kriegsende gründete er im Mai 1945 voller Enthusiasmus zusammen mit Gleichgesinnten die Zeitung Mladá fronta (Junge Front) und schloss sich der jungen Künstlergruppe um dieses Blatt an. Es folgten erste eigenständige Veröffentlichungen von Gedicht- und Prosabänden. 1947 wurde Listopad als offizieller Korrespondent seines Landes nach Paris abgeordnet. Als 1948 nach dem Februarumsturz die kommunistische Partei die Herrschaft in seiner Heimat übernahm, kehrte er nicht mehr in die Tschechoslowakei zurück.

Das Schicksal hatte František Listopad in den 1950er Jahren nach Portugal verschlagen. Zuerst in Porto und ab 1962 in Lissabon lebend, arbeitete er zunächst als Journalist beim Fernsehen und war bald darauf als Universitätsprofessor tätig. In späteren Jahren wurde er Direktor der Theater- und Filmhochschule in Lissabon und wirkte zudem in mehreren europäischen Ländern als Dramaturg. Auf tschechischen Bühnen konnte er erst nach der „Samtenen Revolution“ vom November 1989 wieder arbeiten.

Obwohl sich Listopad nicht im eigentlichen Sinne als Schriftsteller begriff, hatte er Zeit seines Lebens Gedichte, Prosa und Essays entweder auf Portugiesisch unter dem Pseudonym Jorge Listopad oder in kleinen tschechischen Exilverlagen veröffentlicht.

Der renommierte Übersetzer Eduard Schreiber (Radonitzer), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem deutschsprachigen Lesepublikum längst überfällige Stimmen tschechischer Dichter nahezubringen, hat sich in besonderer Weise um die Vermittlung des Werkes von František Listopad verdient gemacht.

In gewohnt sorgfältiger Herausgeber- und Übersetzertätigkeit liegen vorzüglich übersetzte Essays aber auch Gedichte vor: Kaninchen (2007), Jahrmarkt. Böhmen (2008), Tristan oder der Tod des Intellektuellen (2010), Die Erde ist Kohlen und Zitronen (2014) sowie Engelstufen (2016).

Die mitteleuropäische Herkunft wie auch die existentiellen Bedrohungen durch totalitäre Regime beschäftigten Listopad Zeit seines Lebens und schärften seine Wahrnehmung. Womöglich liegt hier der Schlüssel zu seinen nicht immer in einfacher Weise zugänglichen Gedichten und Prosa. Das Motiv des Suchens eines lebenslänglichen Emigranten nach verlorenen Orten lässt sich in diesen Textgeweben durchaus nachweisen, wie folgendes Beispiel beweist:

Auch zeigt sich, das Leben ist anderswo. Aber wenn nicht anderswo, wo dann überhaupt. Unsere persönliche Erfahrung sagt uns, daß weder hinter heruntergelassenen Jalousien, die nur von außen vielversprechend sind, noch hinter hell erleuchteten Fenstern im sechsten Stock, weder hinter Gartenzäunen, noch hinter endlos langen Fabrikblöcken etwas ist, was man Leben nennen könnte.

Erst nach dem Ende des „real existierenden Sozialismus“ konnte Listopad wieder die Tschechoslowakei besuchen und dort auch mit Erfolg seine Bücher veröffentlichen. Bereits 1986 hatte er für sein Werk den angesehenen, aber seinerzeit inoffiziellen Jaroslav-Seifert-Preis der Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77 erhalten. Im heutigen Tschechien wird seine Gesamtausgabe vorbereitet.

Am 1. Oktober 2017 verstarb der Schriftsteller, Regisseur und Übersetzer František Listopad im Alter von 95 Jahren in Lissabon.