Wo ich jetzt bin

Bernardine Evaristo schreibt in „Mädchen, Frau etc.“ über womanistische Leben

Von Monique GrüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monique Grüter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„sie hörte zu, während alle diskutierten, was es hieß, eine schwarze Frau zu sein“

Dass es darauf keine eindeutige Antwort geben kann, schildert Bernardine Evaristo eindrucksvoll in ihrem 2021 auf Deutsch erschienenen Roman Mädchen, Frau etc. (engl. Original: Girl, Women, Other, 2019). Evaristo belebt in diesem Roman, der mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, zwölf Stimmen – zwölf weiblich definierte Subjektpositionen unterschiedlicher Generationen.

In vier Kapiteln lernen Lesende jeweils drei Frauen kennen, die miteinander in direkten Beziehungen stehen: als Mutter und Tochter, als Kolleginnen, Freundinnen. Zunächst wirken die unterschiedlichen Figuren recht zusammenhangslos, jede Geschichte, jede Frau wird für sich erzählt und erst nach und nach werden stärkere Verflechtungen zwischen den Frauen, auch der separierten Kapitel, erfahrbar.

              und dann fängt es an

                        das Stück

                        Die letzte Amazone von Dahomey

Der Roman beginnt mit Amma, Regisseurin, und der Premiere ihres Theaterstücks, dessen Premierenfeier alle Figuren versammelt und letztlich auch die Erzählung rahmt. Amma verzeichnet etliche lesbische Liebschaften, lebt mittlerweile in einer polyamoren Beziehung und hat eine Tochter, Yazz, mit ihrem langjährigen guten Freund Roland. Roland ist Professor für Modernes Leben und zu Recht stellt Yazz ihm die Frage „wie in aller Welt kannst du Professor für Modernes Leben sein, wenn deine Bezugspunkte allesamt männlich sind und dazu auch noch allesamt weiß“? Evaristos Figuren und Figurenbeziehungen sind so geschickt konstruiert, dass solche und andere, man will fast schon sagen, Tabuthemen angesprochen werden können, ohne belehrend daherzukommen. Gleichgeschlechtliche Beziehungen werden repräsentiert und homophobe Einstellungen, z.B. an der Figur der Shirley, Ammas enger Freundin, kritisiert. Genderkonzepte werden ins Wanken gebracht und auch in ihrer zeitlichen Dimension und Veränderlichkeit thematisiert: So ist beispielsweise Amma überzeugt, aufgeklärte und aufgeschlossene Feministin zu sein, während ihre Tochter Yazz schon längst non-binäre und fluide Geschlechtsauffassungen als Lebensrealität erfasst.  

Mittels der Figur der Megan wird Lesenden das genderfluide Konzept nähergebracht, wenn sie selbst ihre weibliche Identität in Zweifel zieht und sich fortan Morgan nennt. Im Dialog mit einer Nebenfigur werden beispielsweise Begriffe wie Geschlechtsangleichung und Geschlechtsumwandlung differenziert. In Mädchen, Frau etc. werden Identitäten verhandelt und zwar intersektional. Wohl verbindet alle Hauptfiguren, dass sie Frauen und schwarz sind, aber so wird auch immer wieder im Dialog mit Nebenfiguren deutlich, wie undurchsichtig (eingebüßte) Privilegien in Gesellschaften sein können. Ist jemand der/die reich und schwarz ist mehr oder weniger benachteiligt als jemand, der/die arm und weiß ist?

Es werden Bezüge zu Theoretiker:innen wie Judith Butler und Simone de Beauvoir gezogen, die Geschlecht in seiner sozialen Konstruktion beleuchten, zu Kwam Anthony Appiah, der Abstand nimmt von klar umgrenzten Identitäten, zu Frantz Fanon oder Edward Saïd, deren Schriften zu den wichtigsten des Antikolonialismus gezählt werden, zu Gayatri Spivak, die mit ihrem Essay Can the Subaltern speak darauf aufmerksam macht, dass Unterdrückte auch für sich selbst sprechen können, dass sie Gehör und Repräsentation finden müssten. Obgleich einige dieser Schriften schon älter sind und einige Theoretiker:innen gar nicht mehr leben, sind die Ideen und Erkenntnisse heute so gewichtig wie damals. Ein Blick auf die Identitätspolitischen Debatten, beispielsweise in Amerika, scheint dies zu verdeutlichen – der heterosexuelle, weiße Mann gilt nach wie vor als Norm einer Politik, in der alles andere nur als Abweichung zählt, alles andere kaum bis gar nicht repräsentiert wird. Wenn (Teil-)Identitäten nicht repräsentiert werden, werden sie dann überhaupt vertreten? Eine solche Politik ist nicht zeitgemäß, sie ist kein Spiegel unserer diversen Gesellschaft.  

„wenn wir es hier schon zu nichts bringen, dann ja vielleicht unser Kind“

Die Beziehung zwischen England und Afrika wird für den Roman als eine der Kolonialgeschichte und Einwanderung zentral. Anhand der Einzelschicksale, die achronologisch erzählt werden, wird eine schwarze Historie aus der Abstraktheit gelöst und konkret gemacht, ohne in anprangernde Schuldzuweisungen zu verfallen.

in dem Moment drang die ganze schmerzvolle Geschichte von vierhundert Jahren Sklaverei auf eine Weise in meinen Körper, wie ich es noch nie erlebt hatte, und ich brach zusammen und schluchzte, Dominique, ich schluchzte und erkannte klarer denn je, was die Weißen alles verbrochen haben

Dominique verbiss sich die Bemerkung, dass auch Afrikaner andere Afrikaner in die Sklaverei verkauft hätten und die Sache folglich um einiges komplexer war.   

Mädchen, Frau etc. ist kein Buch, das nur schwarze Frauen anspricht; weder das Konstrukt Hautfarbe, noch das Konstrukt Geschlecht werden im Roman als einheitliche Gegebenheit aufgefasst. 

„von Weißen verlangt doch auch keiner, dass sie nicht nur sich selbst repräsentieren, sondern eine komplette ethnische Gruppe“

In ihren Differenzlinien werden benachteiligte Gruppen hier nicht in einer Opferrolle glorifiziert, sondern in ihrer Fehlbarkeit in einen kritischen Dialog untereinander gebracht und genau das macht einen Diskurs über Rassismus und Privilegien von einer neuen Seite besprechbar. Keine der Figuren kann von sich behaupten, mit allen sensiblen Themen unserer aktuellen Gesellschaft wie Rassismus, kultureller Aneignung, Feminismus, LGBTQ+, Bildungsungleichheit und Klassengesellschaft, Missbrauch und Ähnlichem immer richtig und angemessen umzugehen.

„er beharrte weiter darauf, sie solle zu Hause bleiben, das sei die natürliche Ordnung der Dinge seit Anbeginn aller Zeiten“ 

Zeiten ändern sich, womöglich nicht schlagartig, aber schon in sich überschneidenden Generationen. Dass es nicht immer leicht ist, verinnerlichte Einstellungen, die durch bestimmte zeitlich-gesellschaftliche Kontexte hervorgebracht wurden, zu verändern und neuen Sichtweisen anzupassen, auch das beleuchtet Evaristo einfühlsam und keinesfalls mit erhobenem Zeigefinger.

„verstehen wir, Sister, haben wir alle schon erlebt“

Trotz der sich ändernden Zeiten, veranschaulicht Evaristo, dass sich bestimmte Erfahrungshorizonte überschneiden, dass beispielsweise Rassismen längst nicht nur in der Vergangenheit liegen, sondern andere Formen angenommen haben. Der Titel Mädchen, Frau etc. verweist nicht nur auf unterschiedliche Generationen, sondern auch auf das Heranwachsen und Altern einzelner Frauen innerhalb des Buches, und so wird nicht nur gesellschaftliche Entwicklung erfahrbar, sondern auch das Auf- und Hineinwachsen in veränderte(n) Gegenwarten. Die ineinanderfließenden Gegenwarten suggeriert Evaristo auch durch die Auslassung von Punkten. Bedeutung setzt sie häufig über Absätze, aber kaum ein Abschnitt ist je wirklich geschlossen. Der eigenwillige Satzspiegel expliziert, grenzt ab, drückt einem bestimmte Ausdrücke und Bedeutungen geradezu auf. Manchmal irritiert dieser Satzspiegel, aber sind wir mal ehrlich: Wichtige Themen, die schreibt man nicht einfach so runter; sie verdienen diese intensive Typografie, die manchmal schon etwas Lyrisches, Klangvolles hat. Eine solche bedeutungsstiftende Typografie, die auch mal syntaktische Regeln bezüglich Zeichensetzung oder Groß- und Kleinschreibung zu Gunsten von inhaltlichen Aussagen ignoriert, gehört dementsprechend unangepasst zitiert. In ihrer Abgesetztheit spiegeln die Zitate die Präsenz der Aussagen innerhalb des Romans. 

Das Bestreben nach einer besseren Zukunft für die nachfolgende Generation scheint allen Figuren innezuwohnen – weiterzukommen als die Generation vor ihnen, vor dem Hintergrund einer ewig präsenten Historie in der Gegenwart.

„schau, wo ich jetzt bin, Mama, schau, wo ich jetzt bin“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.
2. Auflage.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Tropen Verlag, Stuttgart 2021.
512 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783608504842

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