Hier ist der Weg das Ziel

In „Girl, Woman, Other“ lässt uns Bernardine Evaristo starke Stimmen und leise Zwischentöne vernehmen

Von Johanna ItterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Itter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Meine Urlaubslektüre ist in diesem Sommer einmal nicht das, was man klassischerweise darunter versteht: Eskapismus oder leichte Literatur. Stattdessen ein eher politischer Roman, der den Zeitgeist einfängt und zwölf fiktive Lebensgeschichten präsentiert, wie sie nichtsdestotrotz überall auf der Welt real zu finden wären. Und mir zugleich kleine Einblicke in Lebenswelten ermöglicht, die mir sonst vielleicht vollständig fremd geblieben wären. Kulturelle und literarische Horizonterweiterung soll das Motto meiner aktuellen Urlaubslektüre auch sein, weil ich ein weiteres Jahr nicht außerhalb meines Heimatlands verreise und somit kaum mit anderen Kulturen und Sprachen in Berührung komme.

Zwölf Schwarze Frauen stehen im Mittelpunkt von Bernardine Evaristos Roman Girl, Woman, Other (2019). Jede erhält ihr eigenes, fast gleich großes Kapitel, um ihrer Geschichte Raum zu geben. Dabei könnten sie unterschiedlicher kaum sein, was Alter, Geschlecht, Sexualität und Herkunft anbelangt. Denn viele Geschichten sind eben auch Einwanderungsgeschichten nach Großbritannien der ersten, zweiten und dritten Generation.

Und so begleiten mich diese Frauen während meines Urlaubs, jeden Tag eine andere (manchmal auch zwei oder drei, wenn der Sog zu groß ist). Denn wenn Evaristo jeder ihrer Figuren ein Kapitel schenkt, gebe auch ich mir und ihnen Raum, sodass ihre Geschichten nachwirken können.

Die unterschiedlichsten Lebenswirklichkeiten, verteilt über ein Jahrhundert, kunstvoll miteinander zu verweben, gelingt Evaristo eindrucksvoll. Gerade die Verbindungen der Figuren untereinander und der Rahmen, der die Geschichten insgesamt umspannt, reißen mich mit und machen eine Wiederaufnahme der Lektüre am nächsten Tag unterhaltsam für mich.

Gerade diese Reigen-Struktur ermöglicht es Evaristo, den LeserInnen eine Art Panorama der Heterogenität der afrobritischen Community an die Hand zu geben. Durch das wiederholte Aufkommen konkreter Themen wird schnell sichtbar, dass bestimmte stereotype Zuschreibungen und institutioneller Rassismus keine Einzelfälle sind oder früheren Generationen angehören, sondern allgegenwärtig und selbst in progressiveren, demokratischen Gesellschaften präsent sind.

Die Autorin nennt ihre Literatur selbst „Fusion-Fiction“. Konkret bedeutet das: fließende Übergänge zwischen den Absätzen, innerhalb der Absätze mal nur ein Wort pro Zeile oder Zeilensprünge, ein Stil also eher mit szenischen, fast lyrischen Anklängen. Auf der einen Seite lenkt Evaristo damit geschickt unsere Aufmerksamkeit, aber auch die Perspektive. So betrachten wir die Welt mal aus der Innen-, dann wieder aus der Außenperspektive der Figuren. Die spärlich verwendeten Satzzeichen steigern zudem den Lesefluss, auch bei mir. Auf der anderen Seite führt dieser Stil dazu, dass ich mich jedes Mal, wenn ich das Buch in die Hand nehme, zu Beginn fragen muss, wer hier spricht und auf welcher Zeitebene ich mich gerade befinde. Welche Generation erzählt gerade ihre Perspektive? Am schönsten sind dann die Aha-Momente, wenn ich kleine Querverweise auf andere Geschichten bemerke. Beeindruckend ist, wie Evaristo es geschafft hat, sich so glaubwürdig in die unterschiedlichen Frauentypen hineinzuversetzen und Zeitebenen zu imaginieren.

Bernardine Evaristo ist die erste Schwarze Schriftstellerin, die mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Sie ist langjährige Autorin und veröffentlichte acht Romane, von denen Girl, Woman, Other der erste ist, der ins Deutsche übersetzt wurde. Vor allem aber ist sie auch Schwarze feministische Aktivistin und setzt sich seit Jahren für eine größere Vielfalt an (vor allem Schwarzen) Stimmen und Perspektiven in der Literaturszene ein. Sie will die Geschichte ihrer Community erzählen und das eben im stilistischen und thematischen Gegensatz zur größtenteils weißen, männlich geprägten Literaturindustrie. Das merkt man dem Roman an, unter anderem in der Wahl seiner Figuren. Zum Beispiel bei Amma im ersten Kapitel, die der Autorin am ähnlichsten zu sein scheint und gewisse biografische Überschneidungen mit ihr hat – Amma ist Theaterregisseurin, Gründerin einer Schwarzen weiblichen Theater-Company und feministische Aktivistin. Sie steht mit ihrer ersten Inszenierung am Londoner National Theatre kurz vor ihrem Durchbruch, die Premiere des Stücks bildet das Ende des Romans vor dem Epilog.

Selbst wenn LeserInnen es hier nicht mit einem klassischen identitätspolitischen Manifest zu tun haben, trägt Evaristos Roman doch eine klare Message in sich und findet deutliche Bilder für eine in ihrer Vielfältigkeit schwer zu fassende Welt. So lässt sich keine der Frauen klar einer Interessengruppe zuordnen, ist nie nur Frau, sondern eben z.B. auch „black, Muslim, female, poor, hijabbed“. Trotzdem kann die Diskriminierung der einen Frau gegenüber einer anderen schnell zu einem ‚Privileg‘ werden und sie grenzen sich darin bewusst voneinander ab. Yazz, Tochter von Amma und einem Professor, schätzt ihren Grad der Diskrimierung als Schwarze zum Beispiel höher ein als den ihrer weißen (und damit in ihren Augen privilegierteren) Kommilitonin Courtney, die dafür aus einer verarmten Arbeiterfamilie stammt, „where it’s normal to be working in a factory at sixteen and have your first child as a single mother at seventeen“.

Jede kann Opfer, aber auch Täterin sein und sich ermächtigen. Der je individuelle Versuch, sich aus diesem Kreislauf intersektionaler Diskriminierung freizuschlagen, steht im Zentrum des Romans. Und dass nicht nur gemeinsam erfahrener Rassismus die Biografien der Frauen eint, sondern in erster Linie Familie, Freundschaften und sexuelle Selbstverwirklichung, spielt ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Und so empfinde ich den Roman an einigen Stellen für mich als belehrend, aber auf eine positive Weise, da er nicht belehrend daherkommt, Evaristo zumindest darauf nicht abzielt. Und selbst wenn, man könnte es ihr nicht übelnehmen – Schwarze queere Literatur von Frauen mit einer solchen Wirkkraft gibt es bislang eben bei weitem zu wenig.

Im letzten Kapitel, The After Party, treffen dann fast alle Frauen zur Premiere von Ammas Theaterstück aufeinander – eine wahre Feier von Queerness und Vielfalt. Und wie die After-Party oft besser ist als die eigentliche Party davor, kann auch ich nach meiner Reise und nach der Lektüre sagen: Ich war in diesem Urlaub nicht allein, nicht nur von meinen engsten Bekannten umgeben. Ich habe endlich auch wieder neue Bekanntschaften gemacht. Mit zwölf Frauen, deren Geschichten nachwirken werden.

Titelbild

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.
2. Auflage.
Aus dem Englischen von Tanja Handels.
Tropen Verlag, Stuttgart 2021.
512 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783608504842

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Titelbild

Bernardine Evaristo: Girl, Women, Other.
Englisch.
Penguin, London 2020.
464 Seiten, 8,96 EUR.
ISBN-13: 9780241984994

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