Inmitten der Katastrophe

Die chinesische Autorin Fang Fang zeichnet in „Wuhan Diary“ ein Bild vom Leben zwischen Angst und Wut in der abgesperrten Stadt

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Fakten rund um die Abriegelung von Wuhan sind inzwischen einigermaßen bekannt: Im Dezember 2019 treten im Zusammenhang mit dem Meeresfrüchtemarkt der chinesischen Stadt erste Krankheitsfälle einer bislang unbekannten Lungenkrankheit auf, die sich in der Folge so rasant ausbreitet, dass die Millionenmetropole am 23. Januar 2020 abgesperrt wird. Der Zugang über Flughafen und Bahnhof ist nicht mehr möglich, auch der innerstädtische Autoverkehr wird kontrolliert. Unter den Bewohnern Wuhans ist die Rede von SARS, dennoch hält sich bis zum 19. Januar die Behauptung der Verantwortlichen, eine Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch sei nicht möglich. Erst am 20. Januar wird öffentlich das Gegenteil erklärt. Die Abriegelung der Stadt dauert schließlich unglaubliche 76 Tage an und wurde am 08. April beendet, fast 4000 Menschen starben. In diesem Zeitraum hat die chinesische Schriftstellerin Fang Fang unter Schwierigkeiten an der Zensurbehörde vorbei ein Online-Tagebuch im Internet geführt, welches von Millionen von Menschen gelesen wurde, und das in China bis heute ganz unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat. Inzwischen ist es, „leicht überarbeitet“, in deutscher und englischer Sprache erschienen.

Den Tagebucheintragungen vorangestellt ist ein auf den 13. April 2020 datiertes zusammenfassendes Vorwort, das rückblickend sowohl die Entwicklung der Ereignisse als auch den  Umgang der Bevölkerung mit der Situation zusammenfasst. Bereits in diesem Vorwort wird nicht nur die Kritik Fang Fangs an den Menschen, die von Beginn an verantwortlich für den Umgang mit der Krise waren, überdeutlich, auch ihre Kritik am gesamten System, an Chinas Umgang mit der Öffentlichkeit und der Freiheit der eigenen Meinung, könnte deutlicher kaum sein. „Aber heute sehen wir, nach allem, was geschehen, ist wie groß der Anteil der handelnden Personen an dieser Katastrophe ist“ – darauf basiert ihre Forderung nach Aufklärung und konsequenter Übernahme von Verantwortung, die das gesamte Buch durchzieht.

Für die Zeit unmittelbar vor Absperrung der Stadt beschreibt Fang Fang die Wuhaner als „von nervöser und panischer Anspannung erfasst“, sie selbst habe sich gefühlt, als begebe sie sich „in schneidenden Wind und eisiges Wasser“, wie es in einem Gedicht heiße. Daneben wird aber, ebenfalls bereits im Vorwort und auch später im Tagebuch immer wieder, deutlich, wie sehr die chinesische Bevölkerung auf den Staat und seine ausführenden Organe vertraut, und wie sehr das offenbar bei aller Kritik an ihrem Land und ihrer Regierung auch für Fang Fang selbst gilt, denn „jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt“.

Das Tagebuch beginnt mit dem Satz „Ich habe keine Ahnung, ob dieser Eintrag die Leser erreichen wird“ und spiegelt Verzweiflung in doppelter Hinsicht: zum einen bezogen auf die restriktive Zensur, die in China in Bezug auf öffentliche Meinungsäußerung besteht und die die Schreibende zunächst im Ungewissen darüber lässt, ob ihr Internet-Eintrag überhaupt wahrgenommen werden kann, zum anderen bezogen auf die ganz aktuelle Situation, in der niemand weiß, ob und wie er aus dieser Katastrophe herauskommen wird. Die Einsamkeit der von nun an in ihren Wohnungen eingesperrten Menschen, gerade wenn sie, wie Fang Fang, alleinstehend sind, wird in diesem Satz sichtbar.

Vieles ist für uns unvorstellbar: die Tatsache, dass der Verkehr abgeriegelt wird und Menschen in schwerkrankem Zustand zu Fuß von Krankenhaus zu Krankenhaus irren, um Aufnahme und Hilfe zu finden, die unzähligen Toten, die in Säcken auf den Ladeflächen von Transportern abgeholt und anonym verbrannt werden, aber auch Anordnungen der Behörden, die Wohneinheiten nicht zu verlassen, oder die tägliche Messung und Übermittlung der Körpertemperatur. Fang Fang definiert den Begriff Katastrophe mit den Bildern der Kranken, der Leichen und eines Berges von Smartphones, die im Anschluss an die vielen anonymen Verbrennungen voller Erinnerungen, aber besitzerlos auf dem Boden eines Krematoriums liegen. Gerade für die Beschreibung dieses Bildes wird sie in ihrem Land stark angefeindet, vermittle es doch den Eindruck eines systematischen und gefühllosen Umgangs mit den Opfern der Pandemie.

Das Buch tritt als das auf, was es ist: ein Tagebuch, das häufig zusammenhanglos, sprunghaft und unprätentiös die Eindrücke und Gedanken des Tages schildert. Informationen und Reaktionen aus dem Internet werden aufgenommen, wodurch allerdings nicht der Eindruck entstehen darf, dass sich der zeitdokumentarische Gehalt des Aufgeschriebenen von den Wahrnehmungen einer Einzelperson auf den einer Stadt erweitere. Auch wenn Fang Fang beispielsweise Nachrichten anderer in ihre Aufzeichnungen aufnimmt und Wertungen einfließen lässt, handelt es sich doch immer noch um eine selektive Auswahl, die sie vornimmt, und die ihren Wertungen und Prioritäten entspricht. Das schmälert aber nicht die Bedeutung ihrer Aufzeichnungen, die in der episodenhaft wirkenden Wiedergabe von Beobachtungen und Mitteilungen die Unmöglichkeit von Planung und Einfluss geradezu beängstigend vor Augen führt.

Die gelegentlich einfließende Lyrik, mit der sie ihre Gefühle verdeutlicht, wie auch die Bezüge zu chinesischen Künstlern erweitern die Schilderung des Alltags und der Reaktionen der Menschen um Einblicke in Kunst und Kultur ihres Landes, die dem deutschen Leser häufig fremd bleiben dürfte: auf vieles, was als besonderer Humor der Wuhaner beschrieben wird, lassen sich unsere Maßstäbe von Humor nicht anlegen, und der Satz „Landet das Staubkorn einer Epoche auf dem Kopf eines Einzelnen, wird es zum Berg“, der eine Art Sprichwort zu sein scheint, das in der Situation der Entstehung der Tagebucheintragungen besondere Bedeutung erlangt, verschließt sich im flüssigen Leseprozess einer einfachen Interpretation. Auch das sind aber Elemente, die das Tagebuch abseits vom gezielten Interesse an der Entwicklung der Pandemie zu einer interkulturellen Erfahrung machen. Fang Fangs häufige Bezüge zu ihren eigenen Erlebnissen und Erfahrungen vor, während und nach der Kulturrevolution erweitern die Bedeutung des Buches zusätzlich um einen historischen Kontext. Neben aller Kritik malt Fang Fang aber auch die Schönheit ihrer Heimat. Sie beschreibt Kleinode wie die Kirschblüte auf dem Campus der Universität, Wanderungen rund um den Ostsee oder auch die Faszination des üblicherweise in Wuhan pulsierenden Lebens.

Herausragend erscheint aber die teilweise massiv geäußerte Kritik. Sie richtet sich gegen die staatliche Zensurbehörde, außerdem fordert die Autorin Rücktritte von Funktionären und Beamten und öffentliche Schuldeingeständnisse bezüglich des Umgangs mit dem Virus in den Anfängen der Ausbreitung. Fang Fang berichtet von fehlender Menschlichkeit in Einzelfallentscheidungen, von einem Bauern, der zwischen die Absperrungen geraten war und trotz unzumutbarer Bedingungen nicht durchgelassen wurde, und von einem Kind, das allein zu Hause verhungert ist, während der Vater in Quarantäne festgehalten wurde, und das alles in einem Land, in dem schon weniger kritische Meinungsäußerungen zu langjährigen Haftstrafen oder dem Verschwinden von Personen führen können. Vielleicht tragen Einsamkeit und Abgeschiedenheit auch dazu bei, sich unverwundbar und sicher zu fühlen, und man schwankt beim Lesen zwischen der Hochachtung über den Mut dieser Frau und dem Erstaunen über so viel scheinbar leichtfertig eingegangenes Risiko.

Unklar bleibt allerdings, worauf sich die Überarbeitung der ursprünglichen Tagebucheintragungen bezieht, ob damit die Voranstellung des Vorwortes gemeint ist, ob Fang Fang nachträglich Formulierungen geändert hat oder ob stärkere inhaltliche Veränderungen vorgenommen wurden, beispielsweise in der Art der Kritik an den Behörden, der Reaktion auf Leserbriefe oder gar bei eigenen Meinungsäußerungen.

Eine besondere und deshalb hervorzuhebende Leistung des Übersetzers Michael Kahn-Ackermann besteht darin, nicht allein den Text unter Beibehaltung der Eigenheiten der ursprünglichen Sprache übersetzt zu haben, sondern darüber hinaus wichtige Sachinformationen in Form von Fußnoten zu bieten, ohne die vielen Leser*innen häufig ein Verstehen des geschichtlichen oder kulturellen Hintergrundes nicht möglich sein dürfte. So bietet das Wuhan Diary in seiner kombinierten Darstellung von Alltäglichem und gesamtgesellschaftlich Bedeutendem in der abgesperrten Stadt einen sowohl sehr persönlichen wie auch informativen Einblick in das Leben der Bewohner Wuhans inmitten der Katastrophe.

Titelbild

Fang Fang: Wuhan Diary. Tagebuch aus einer gesperrten Stadt.
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2020.
352 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455010398

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