Die repressive Wende und die (un-)heimliche Lust der Peiniger

Didier Fassin legt eine kritische Theorie des Strafens vor

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Franz Kafkas Roman Der Prozess begeht der Protagonist Josef K. den Fehler, sich für „nicht schuldig“ zu halten, was er mit nichts Geringerem als dem Menschsein im Allgemeinen begründet: „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen, einer wie der andere.“ Das sei zwar richtig, entgegnet dem Angeklagten ein Geistlicher, „aber so pflegen die Schuldigen zu reden“. Der Disput über die Schuld mündet in Kafkas Fragment gebliebenem Roman in einer kaum auflösbaren Paradoxie. Wenn aber die Schuld zu paradoxalen Verwirrungen führt, kann es dann um die Strafe (die doch, so sollte man meinen, ein benennbares Unrecht voraussetzt) besser bestellt sein?

Wird so gefragt, liegt es nahe, von theoretischen Komplikationen auszugehen – dringend nötigen Komplikationen, gerade weil es kein Theorieproblem allein ist, das hier zur Debatte steht. Schuld und Strafe stehen in einem vielfältigen Zusammenhang, zumal dann, wenn bestraft wird, ohne dass eine Verfehlung auszumachen ist, wodurch wiederum Schuld auf Seiten derer entsteht, die doch eigentlich nur vorgeben, die Bestrafung einer für ausgemacht gehaltenes Unrecht zu vollziehen. Der französische Anthropologe und Soziologe Didier Fassin ist in seinem Buch Der Wille zum Strafen solchen Fragen auf der Spur – mit großer Kenntnis des sich unter anderem aus philosophischen, juristischen, soziologischen und ethnologischen Quellen speisenden Strafdiskurses und mit aufmerksamen Blick für theoretische Aporien, aber immer auf der Grundlage empirischer Untersuchungen.

Dass bereits der Titel zwei der wirkmächtigsten Theoretiker des Strafens assoziieren lässt, ist kein Zufall: Michel Foucault und mehr noch Friedrich Nietzsche, dessen Überlegungen zur Natur des Strafens in Zur Genealogie der Moral (1887) ein ums andere Mal den philosophischen Ton angeben, sind geradezu die Fixsterne in Fassins Denkbewegungen. Damit ist auch eine Verortung des eigenen Ansatzes verbunden: wer im Windschatten solcher Theoretiker denkt, stellt sich – obschon Nietzsche und längst auch Foucault selbstredend klassische Autoren sind – quer zu disziplinären Grenzen, denkt übergreifend und ist nicht bereit, das Naheliegende als das Überzeugende zu sehen.

Nicht zuletzt ist mit der Berufung auf solche Vordenker auch eine Lust an der starken These verbunden. Fassin ruft gleich auf der ersten Seite des Buches ein weltweites „Zeitalter des Strafens“ aus. Diese „repressive Wende“ sei noch gänzlich unzureichend erforscht – seine eigenen Ausführungen schicken sich nun an, grundlegend für künftige Forschungen zu werden. Zunächst entwickelt er das faktengesättigte Bild von einer in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Ländern exorbitant zunehmenden „Gefängnispopulation“. Mit nachgerade geschichtsphilosophischer Verve konstatiert er einen Wandel in der verbreiteten Auffassung und Anwendung von Sanktionen als eine Situation, „in der die Lösung zum Problem wird“ – in der also Bestrafungen, die doch Reaktionen auf vorangegangene Übel sein sollen, ihrerseits zum Übel werden: in der Theorie, mehr aber noch in der Durchführung. „Obwohl sie die Gesellschaft vor Verbrechen schützen soll, wirkt die Bestrafung mehr und mehr wie etwas, das sie bedroht. Im Moment des Strafens kommt dieses Paradox zum Ausdruck.“

Dieses Paradox leuchtet Fassin engagiert, aber sehr umsichtig aus, indem er zwischen den Facetten eines großen Zusammenhangs differenziert und dabei auch zwischen kulturellen und politischen Phänomenen unterscheidet. Mit wachem Auge weist er auf von gesellschaftlichen Eliten vorgenommene Instrumentalisierungen von Ängsten und Befürchtungen hin. Für die „populistische Kriminalpolitik“, die der Autor kritisch darstellt, ließen sich auch in der jüngsten deutschen Vergangenheit etliche Belege finden (auf Beispiele sei hier verzichtet, um den unrühmlichen Wortführern nicht zu viel Ehre zu erweisen). Will man dem verschachtelten Phänomen gerecht werden, hält er es für erforderlich, „die Grundlagen des Bestrafungsaktes zu hinterfragen“.

Das geschieht auf vornehmlich theoretischer Ebene, nachdem Fassin zuvor viele Jahre lang empirische Studien über die Polizei, die Justiz und das Gefängniswesen betrieben hat. Diese Fundierung merkt man den theoretisch durchaus anspruchsvollen Reflexionen immer an. Ein Abdriften ins bloß Spekulative wird durch fortwährende Rückbindung an die Empirie verhindert. Dennoch ist der Text seinem eigenen Anspruch nach keine Materialauswertung, sondern ein Essay mit gesellschaftlicher Relevanz, ein „Versuch zu verstehen, was Strafen ist, warum wir strafen und wen die Strafe trifft“. Zu diesem Zweck will Fassin den klassischen Textkorpus der Straftheorie „einer kritischen Lektüre unterziehen“ und sich dabei „auf die Ethnografie und die Genealogie stützen“ – mit dem Ziel, „offene Überlegungen zu einer Anthropologie des Strafens“ anzustellen.

Diese offenen Überlegungen werden in drei Kapiteln entfaltet, die unter jeweils programmatischen Überschriften (Was ist Strafen?, Warum strafen wir?, Wer wird bestraft?) ein gleichermaßen informatives wie hintergründiges Panorama von Sichtweisen auf Strafe ausbreiten. Der Text belässt es aber nicht bei einer Rekapitulation kanonischer Positionen, sondern zielt darauf ab, unser gängiges Verständnis in Frage zu stellen. Diese produktive Verunsicherung vertrauter Sichtweisen ermöglicht es, das Verhältnis von Verbrechen und Strafe neu zu denken. Dazu trägt auch der ethnografische Blick in andere Kulturen bei. Die scheinbare Gewissheit, dass Rechtsbrüche sanktioniert werden, erweist sich plötzlich als gar nicht so selbstverständlich, wie es dem „gesunden Menschenverstand“ erscheinen mag. Eingeschaltete Fallgeschichten (aus anderen Kulturen ebenso wie aus Ländern der westlichen Welt) legen nahe, dass scheinbar naturgegebene Verhältnisse eben doch kulturell konstruiert sind und darüber hinaus Strafe keineswegs kausal auf ein Delikt folgen muss. Teilweise werden Verdächtigte aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit Opfer von Strafmaßnahmen, denen kein Ordnungsverstoß vorausgeht.

Eine seiner kapitalsten Einsichten bietet das Buch, wenn Fassin, abermals im Rückgriff auf Nietzsches Genealogie, Strafe als „emotionale Reaktion“ erkennbar macht, die sich nicht darin erschöpft, einen Schaden zu vergelten. Mit rationalen Maßstäben allein ist der Ausübung von Strafe nicht beizukommen. Beteiligt sind auch triebhafte und geradezu vergnügliche Elemente. Der Vollzug bereitet den Peinigern und ihrem Publikum eine – vielleicht gar nicht einmal heimliche – Lust. Nicht minder frappierend ist das Insistieren auf das Moment der Alterität des Bestraften. Wer bestraft wird, ist nicht nur im Rahmen theoretischer Reflexionen bereits ein Repräsentant des Devianten und Anderen. Das Ausmaß der Bestrafung habe in einem eklatanten Ausmaß auch mit dem gesellschaftlichen Status des Schuldigen zu tun – wodurch Strafe „zur Produktion und Reproduktion von Ungleichheiten beiträgt“.

Die Folgen, die der Autor aus seinem Material – empirischen Beobachtungen, Fallgeschichten, Theorieklassikern unterschiedlicher Provenienz und dem interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs – ableitet, vermögen ein ums andere Mal zu erstaunen. Was unumstößlich anmutet, wird als kontingent begreifbar. Dass (auch aufgeklärte) Verbrechen nicht unweigerlich Sanktionen nach sich ziehen, ist ebenso bemerkenswert wie der Umstand, dass die Strafe sich nicht zwingend aus der Sanktionierung eines Deliktes ergibt; dass die Schwere der Tat nicht unbedingt ihren Reflex in einer schwerwiegenden Bestrafung finden muss, ist gleichermaßen bedenkenswert. Und genau in diesem Impetus liegt die Stärke des Buches: Fassin will keine Regeln aufstellen, er will zu denken geben, indem er uns an seinen eigenen Denkbewegungen teilhaben lässt. Dass er dabei – wenn Staunen in Empörung übergehrt – Partei ergreift, ist ihm nicht anzulasten. Engagiertes, seine Prämissen und Argumente offenlegendes Denken ist allemal besser als normative Belehrung.

Titelbild

Didier Fassin: Der Wille zum Strafen.
Übersetzt aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
206 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587263

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